Joseph Conrad
Lord Jim
Joseph Conrad

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Fünfundvierzigstes Kapitel

Als Tamb' Itam, wahnsinnig rudernd, in den Stadtbezirk kam, drängten sich die Frauen auf den Terrassen der Häuser, um nach der kleinen Flotte von Dain Waris auszublicken, die sie zurückerwarteten. Die Stadt hatte ein festliches Ansehn; Männer mit Gewehren oder Speeren in der Hand sah man in Gruppen am Ufer stehen oder auf und ab wandeln. Einige chinesische Kramläden waren früh geöffnet worden; doch der Marktplatz war leer, und eine Schildwache, die noch an der Ecke des Forts postiert war, erkannte Tamb' Itam und rief denen drinnen seinen Namen zu. Das Tor war weit offen. Tamb' Itam sprang ans Ufer und lief Hals über Kopf hinein. Die erste, die er traf, war das Mädchen, das vom Hause herunter kam.

Tamb' Itam stand eine Weile keuchend, verstört, mit zitternden Lippen und wilden Äugen vor ihr, als wäre ein plötzlicher Zauber über ihn geworfen worden. Dann brach es aus ihm hervor: »Sie haben Dain Waris und noch viele andere getötet.« Sie schlug die Hände zusammen, und ihre ersten Worte waren: »Schließt die Tore.« Die meisten der im Fort diensttuenden Männer waren schon in ihre Häuser zurückgekehrt, doch Tamb' Itam eilte zu den wenigen, die noch geblieben waren. Das Mädchen stand in der Mitte des Hofes, während die andern umherliefen. »Doramin«, rief sie verzweifelt, als Tamb' Itam an ihr vorbeikam. Als er ein zweites Mal wiederkam, ging er rasch auf ihren Gedanken ein: »Ja. Aber wir haben alles Pulver in Patusan.« Sie packte ihn am Arm und deutete auf das Haus: »Ruf ihn heraus«, flüsterte sie zitternd.

Tamb' Itam lief die Stufen hinauf. Sein Herr schlief. »Ich bin's, Tamb' Itam«, rief er, »mit Botschaft, die nicht warten kann.« Er sah Jim sich auf dem Kissen herumdrehen und die Augen aufschlagen und platzte sofort heraus: »Dies, Tuan, ist ein Unglückstag, ein verfluchter Tag.« Sein Herr stützte sich auf den Ellbogen, um die Kunde anzuhören, genau wie Dain Waris es getan hatte. Und dann begann Tamb' Itam seine Erzählung, mit dem Bemühen, alles der Ordnung nach vorzubringen, nannte Dain Waris Panglima und sagte: »Der Panglima rief gerade dem Anführer seiner Bootsleute zu: ›Gebt Tamb' Itam etwas zu essen‹« – als sein Herr die Füße auf den Boden setzte und ihn mit so fassungslosem Gesicht ansah, daß ihm die Worte in der Kehle steckenblieben.

»Sprich«, sagte Jim, »ist er tot?« – »Mögest du lange leben«, rief Tamb' Itam. »Es war der grausamste Verrat. Er lief bei den ersten Schüssen hinaus und fiel...« Sein Herr schritt zum Fenster und stieß mit der Faust den Laden auf. Das Zimmer war hell; und dann fing er an, mit ruhiger Stimme, doch hastig sprechend; Befehle zu geben, daß man zu augenblicklicher Verfolgung eine Flotte von Booten zusammenbringe, zu dem, zu jenem gehe – Boten sende; und während er redete, setzte er sich auf das Bett, um eilends seine Stiefel zuzuschnüren, und blickte dann plötzlich auf. »Warum stehst du hier?« fragte er, ganz rot im Gesicht. »Verlier' keine Zeit!« Tamb' Itam rührte sich nicht. »Verzeih mir, Tuan, aber... aber«, stammelte er. »Was?« schrie sein Herr laut und sah fürchterlich aus, während er vorgebeugt den Rand seines Betts umklammerte. – »Dein Diener darf es nicht wagen, unter die Leute zu gehen«, sagte Tamb' Itam, nachdem er ein Weilchen gezögert hatte.

Da verstand Jim. Er war um einer kleinen Sache, eines unwillkürlichen Sprunges willen aus der einen Welt geflohen, und nun stürzte die andre, das Werk seiner eigenen Hände, in Trümmern über seinem Kopf zusammen. Sein Diener durfte es nicht wagen, unter seine eigenen Leute zu gehen! Ich glaube, daß er im selben Augenblick beschloß, dem Unglück auf die einzige Weise standzuhalten, die ihm für ein solches Unglück möglich erschien; aber alles, was ich weiß, ist, daß er ohne ein Wort aus seinem Zimmer herauskam und an dem langen Tisch niedersaß, an dem er gewohnt war, die Angelegenheiten seiner Welt zu ordnen und täglich die Wahrheit, die sicherlich in seinem Herzen lebte, kundzutun. Die dunklen Gewalten sollten ihm nicht zweimal seinen Frieden rauben. Er saß wie ein steinernes Bild. Tamb' Itam erinnerte ehrerbietig, daß man an die Verteidigung denken müsse. Das Mädchen, das er liebte, kam herein und sprach zu ihm, doch das stumme Geheiß, zu schweigen, das in seiner Handbewegung lag, ließ sie im Innersten erschauern. Sie ging auf die Veranda hinaus und blieb auf der Schwelle sitzen, als wollte sie ihn mit ihrem Leibe vor den Gefahren schützen, die ihm von außen drohten.

Was für Gedanken, was für Erinnerungen ihn bestürmten – wer kann es sagen? Alles war dahin, und er, und er, der einmal einen Treubruch begangen, hatte auch nun wieder das Vertrauen aller Menschen verloren. Ich glaube, damals versuchte er an irgendwen zu schreiben und ließ es dann wieder sein. Die Einsamkeit zog sich um ihn zusammen. Die Menschen hatten ihm ihr Leben anvertraut; und doch konnten sie, wie er gesagt hatte, niemals dazu gebracht werden, ihn zu verstehen. Die draußen hörten keinen Ton von ihm. Später, gegen Abend, kam er an die Tür und verlangte nach Tamb' Itam. »Nun«, fragte er. – »Da ist viel Weinen. Auch viel Zorn«, sagte Tamb' Itam. Jim sah zu ihm auf. »Du weißt«, murmelte er. – »Ja, Tuan«, sagte Tamb' Itam. »Dein Diener weiß, und die Tore sind geschlossen. Wir werden kämpfen müssen.« – »Kämpfen! Wofür?« fragte er. – »Für unser Leben.« – »Ich habe kein Leben«, sagte er, Tamb' Itam hörte einen Schrei des Mädchens vor der Tür. »Wer weiß?« sagte Tamb' Itam. »Mit Kühnheit und List können wir vielleicht sogar entkommen. In den Herzen der Menschen ist auch viel Furcht.« Er ging hinaus mit unklaren Gedanken an Boote und die offene See und ließ Jim und das Mädchen zusammen zurück.

Ich habe nicht das Herz, hier die Andeutungen wiederzugeben, die sie mir über jene Stunde machte, da sie mit ihm um ihr Glück rang. Ob er irgendwelche Hoffnung hatte – was er erwartete – was er dachte – ist unmöglich zu sagen. Er war unbeugsam, und mit der wachsenden Vereinsamung seines Starrsinns schien sich sein Geist über die Trümmer seines Daseins zu erheben. Sie schrie ihm ins Ohr: »Kämpfe!« Sie konnte nicht begreifen. Da war nichts, um das er kämpfen konnte. Er war im Begriff, auf eine andere Art seine Macht zu beweisen und das verhängnisvolle Schicksal selber zu besiegen. Er ging in den Hof hinaus, und sie taumelte mit wehendem Haar, wildem Gesicht atemlos hinter ihm drein und lehnte sich an den Türpfosten, »öffnet die Tore«, befahl er. Hernach wandte er sich an die Männer, die drinnen waren, und stellte ihnen frei, nach Hause zu gehen. »Auf wie lange, Tuan?« fragte einer von ihnen schüchtern. »Für immer«, sagte er düster.

Nach dem Ausbruch des Jammerns und Klagens, der wie ein Windstoß aus der geöffneten Wohnstätte der Trauer über den Fluß gefegt war, hatte sich Stille über die Stadt gelegt. Doch geflüsterte Gerüchte gingen um und füllten die Herzen mit Schrecken und furchtbaren Zweifeln. Die Räuber würden zurückkommen und viele andere in einem großen Schiff mit sich bringen, und es würde für keinen einzigen eine Zuflucht im Lande geben. Ein Gefühl der äußersten Unsicherheit, wie während eines Erdbebens, hatte in den Gemütern der Menschen Platz gegriffen, und sie sahen sich entsetzt an und raunten sich ihre Befürchtungen zu wie unter dem Druck einer gräßlichen Vorbedeutung.

Die Sonne war nahe daran, hinter den Wäldern zu versinken, als Dain Waris' Leichnam in Doramins Kampong gebracht wurde. Vier Männer trugen ihn, geziemend mit einem weißen Laken bedeckt, das die Mutter ans Tor hinuntergeschickt hatte, damit ihr Sohn bei seiner Rückkehr dareingehüllt werde. Sie legten ihn zu Doramins Füßen nieder, und der alte Mann saß lange still da und blickte, eine Hand auf jedem Knie, zu Boden. Die Wedel der Palmen schwankten sacht, und das Blattwerk der Obstbäume bewegte sich leise über seinem Kopf. Jeder einzige Mann seines Volks stand völlig in Waffen da, als der alte nakboda schließlich die Augen erhob. Er ließ sie langsam über die Menge schweifen, als suchte er ein fehlendes Gesicht. Wieder sank sein Kinn auf die Brust. Das Flüstern vieler Männer vermischte sich mit dem leisen Rascheln der Blätter.

Der Malaie, der Tamb' Itam und das Mädchen nach Samarang gebracht hatte, war auch da. »Nicht so zornig wie viele«, sagte er zu mir, »doch von Furcht und Staunen ergriffen über die Plötzlichkeit menschlichen Schicksals, das wie eine mit Wettern geladene Wolke über ihren Köpfen hängt.« Er sagte mir, daß, als Dain Waris' Leichnam auf ein Zeichen von Doramin enthüllt wurde, er, den sie oft den Freund des weißen Herrn genannt hatten, unverändert, die Augenlider wie dicht vor dem Erwachen ein wenig geöffnet, dalag. Doramin beugte sich noch etwas mehr nach vorn, wie einer, der etwas zu Boden Gefallenes sucht. Seine Augen glitten forschend über den Körper, von Kopf bis zu Fuß, vielleicht, um die Wunde zu entdecken. Sie befand sich in der Stirn und war klein; und es wurde kein Wort gesprochen, während einer der Umstehenden sich bückte und den silbernen Ring von der steifen, kalten Hand zog. Schweigend hielt er ihn Doramin hin. Ein Murmeln der Entrüstung und des Grauens lief beim Anblick dieses vertrauten Zeichens durch die Reihen. Der alte nakboda starrte es an, und plötzlich entfuhr ihm aus tiefster Brust ein wilder, gellender Schrei, ein Heulen des Schmerzes und der Wut, gewaltig, wie das Brüllen eines verwundeten Stiers. Große Furcht bemächtigte sich der Herzen vor der Stärke des Zorns und des Wehs, das sich ohne Worte kundtat. Dann herrschte eine Weile feierliche Stille, während der Leichnam von vier Männern beiseite getragen wurde. Sie legten ihn unter einen Baum, und mit einmal fingen alle Frauen des Haushalts mit einem langen Schrei zusammen zu klagen an; sie jammerten mit schrillen Tönen. Die Sonne ging unter, und in den Pausen des Klagegeschreis stimmten die hohen, näselnden Stimmen zweier alter Männer die Gesänge des Korans an.

Inzwischen blickte Jim, an eine Lafette gelehnt, auf den Fluß und wandte dem Haus den Rücken, und das Mädchen, unter der Tür, keuchend, als hätte sie einen Wettlauf gemacht, sah nach ihm, über den Hof hinweg. Tamb' Itam stand nicht weit von seinem Herrn und wartete geduldig, was geschehen würde. Plötzlich wandte sich Jim, der in ruhigen Gedanken verloren zu sein schien, zu ihm und sagte: »Es ist Zeit, dem ein Ende zu machen.«

»Tuan?« sagte Tamb' Itam und sprang lebhaft auf ihn zu. Er wußte nicht, was sein Herr meinte, aber sobald Jim eine Bewegung machte, fuhr auch das Mädchen auf und schritt auf den offenen Platz hinunter. Es scheint, daß sonst niemand von den Leuten des Hauses in Sicht war. Sie wankte leicht und rief auf halbem Wege Jim an, der wieder in die ruhige Betrachtung des Flusses versunken zu sein schien. Er drehte sich um und lehnte den Rücken gegen die Kanone. »Willst du kämpfen?« rief sie. – »Da ist nichts zu kämpfen«, sagte er, »nichts ist verloren.« Mit diesen Worten machte er einen Schritt auf sie zu. »Willst du fliehen?« rief sie dann. – »Es gibt kein Entrinnen«, sagte er und blieb stehen, und auch sie stand still, schweigend, und verzehrte ihn mit ihren Blicken. »Und du wirst gehen?« fragte sie langsam. Er neigte den Kopf. »Ah!« rief sie aus, ihn gleichsam durchbohrend. »Du bist wahnsinnig oder falsch. Gedenkst du der Nacht, da ich dich bat, mich zu verlassen, und du sagtest, du könntest es nicht? Es sei unmöglich! Unmöglich! Erinnerst du dich, daß du sagtest, du würdest mich niemals verlassen? Warum? Ich habe kein Versprechen von dir verlangt. Du hast es mir ungefragt gegeben, denk' daran.« – »Genug, mein armes Mädchen«, sagte er. »Es würde sich nicht lohnen, mich noch zu haben.«

Tamb' Itam sagte, sie hätte, während sie sprachen, laut und sinnlos gelacht, wie eine, die unter der Heimsuchung Gottes steht. Sein Herr legte die Hände an den Kopf. Er war völlig angezogen, wie jeden Tag, nur ohne Hut. Sie hörte plötzlich auf zu lachen. »Zum letztenmal«, schrie sie drohend, »willst du dich verteidigen?« – »Nichts kann mich anrühren«, sagte er in einem letzten Aufflackern wundervollen Selbstgefühls. Tamb' Itam sah, wie sie sich vorbeugte, die Arme öffnete und behende auf ihn zulief. Sie warf sich an seine Brust und umklammerte seinen Hals.

»Ah! Ich werde dich so festhalten«, rief sie... »du bist mein!«

Sie schluchzte an seiner Schulter. Der Himmel über Patusan war blutrot, ungeheuer, und strömte Glut aus wie eine offene Ader. Die Baumwipfel drängten sich gegen eine riesenhafte, purpurne Sonne, und der Wald unterhalb hatte ein schwarzes, todfeindliches Aussehen.

Tamb' Itam sagte mir, daß der Himmel an jenem Abend grimmig und fürchterlich zu sehen war. Ich glaube es gern, denn ich weiß, daß an eben jenem Tag, sechzig Meilen von der Küste entfernt, ein Zyklon vorüberfegte, obwohl an dem Ort selbst kaum mehr als ein schwaches Lüftchen zu spüren war.

Plötzlich sah Tamb' Itam, wie Jim ihre Arme faßte und versuchte, ihre Hände zu lösen. Sie hing an ihm mit zurückgesunkenem Kopf; ihr Haar berührte den Boden. »Komm hierher!« rief sein Herr, und Tamb' Itam half sie niederlegen. Es war schwer, ihre Finger aufzumachen. Jim beugte sich über sie und sah ihr ernst ins Gesicht. Dann rannte er plötzlich an die Landungsbrücke. Tamb' Itam folgte ihm, doch im Zurückblicken sah er, daß sie wieder auf den Füßen stand. Sie lief ihnen ein paar Schritte nach und fiel dann schwer auf die Knie. »Tuan! Tuan!« rief Tamb' Itam, »schau zurück!« Doch Jim stand schon im Kanu, mit dem Ruder in der Hand. Er schaute nicht zurück. Tamb' Itam hatte gerade noch Zeit, nach ihm hineinzuklettern, als das Kanu vom Ufer abstieß. Das Mädchen lag mit verschränkten Händen auf den Knien am Wassertor. Sie blieb so eine Weile in flehender Haltung, ehe sie aufsprang. »Du bist falsch!« rief sie Jim nach. – »Vergib mir«, rief er. – »Niemals! Niemals!« rief sie zurück.

Tamb' Itam nahm das Ruder aus Jims Hand, da es ihm ungeziemend schien, daß er sitzen sollte, während sein Herr ruderte. Als sie das andere Ufer erreichten, verbot ihm sein Herr, weiter mitzukommen; doch Tamb' Itam folgte ihm in einiger Entfernung den Abhang von Doramins Kampong hinauf.

Es fing an, dunkel zu werden. Fackeln leuchteten hie und da auf. Die Leute, denen sie begegneten, schienen von Furcht gepackt und traten eilends beiseite, um Jim vorüberzulassen. Das Klagen der Frauen tönte von oben. Der Hofraum war voll bewaffneter Bugis mit ihren Anhängern und von Leuten aus Patusan.

Ich weiß nicht, was diese Zusammenrottung eigentlich bedeutete. Sollte es die Vorbereitung zum Krieg oder zur Rache sein oder dazu dienen, einen drohenden Überfall zurückzuschlagen? Viele Tage vergingen, ehe die Leute aufhörten, auszuschauen und vor der Rückkehr der zerlumpten, langbärtigen weißen Männer zu zittern, deren genaue Beziehung zu ihrem eigenen weißen Mann sie nie ganz herausbringen konnten. Auch für diese einfachen Gemüter bleibt Jim unter einer Wolke.

Doramin, allein, riesenhaft und verzweifelt, saß in seinem Armstuhl mit seinen Feuersteinpistolen auf den Knien, im Angesicht einer bewaffneten Menge. Als Jim erschien, wandten sich auf jemandes Ausruf alle Köpfe um, dann teilte sich die Menge rechts und links, und er schritt durch eine Gasse abgewandter Blicke hindurch. Geflüster folgte ihm, Gemurmel: »Er hat alles verschuldet.« – »Er hat einen Zauber.« ... Er hörte sie – vielleicht!

Als er in das Licht der Fackeln trat, hörte das Klagen der Frauen plötzlich auf. Doramin hob nicht den Kopf, und Jim stand eine Weile schweigend vor ihm. Dann blickte er nach links und ging mit gemessenen Schritten in diese Richtung. Dain Waris' Mutter kauerte am Kopfende der Leiche; das graue, aufgelöste Haar verbarg ihr Gesicht. Jim kam langsam, hob das Laken, blickte auf seinen toten Freund und ließ das Tuch dann wieder fallen, ohne ein Wort. Langsam schritt er zurück.

»Er ist gekommen! Er ist gekommen!« ging es von Mund zu Mund – in einem Gemurmel, nach dem er sich bewegte. »Er hat es auf seinen eigenen Kopf genommen«, sagte eine laute Stimme. Er hörte es und wandte sich der Menge zu. »Ja. Auf meinen Kopf.« Ein paar Leute wichen zurück. Jim wartete eine Weile vor Doramin und sagte dann sanft: »Ich komme in Trauer.« Er wartete wieder. »Ich komme bereit und unbewaffnet«, wiederholte er.

Der schwerfällige alte Mann senkte die Stirne wie ein Ochse unter dem Joch und machte eine Anstrengung, aufzustehn, während er die Feuersteinpistolen auf seinen Knien umklammerte. Aus seiner Kehle kamen erstickte, gurgelnde, unmenschliche Laute, und seine beiden Diener stützten ihn von rückwärts. Man sah, daß der Ring, den er auf dem Schoße hatte, herunterfiel und vor die Füße des weißen Mannes rollte, und daß der arme Jim auf den Talisman hinunterblickte, der ihm im Umkreis der mit weißem Schaum beränderten Wälder, der Küste, die unter der westlichen Sonne wie die Feste der Nacht selber dreinstarrte, die Tür zum Ruhm, zur Liebe, zum Gelingen geöffnet hatte. Doramin, der Anstrengung machte, sich auf den Füßen zu halten, bildete mit den beiden, die ihn stützten, ein schwankende, taumelnde Gruppe; seine kleinen Augen starrten mit dem Ausdruck der Wut, des wahnsinnigen Schmerzes, einem wild tierischen Blinken, das die Umstehenden bemerkten, und dann, während Jim steif aufgereckt und mit bloßem Kopf im Licht der Fackeln stand und ihm gerade ins Gesicht blickte, umschlang er mit seinem linken Arm den Hals eines sich bückenden Jünglings und, die Rechte bedachtsam erhebend, schoß er den Freund seines Sohnes durch die Brust.

Die Menge, die hinter Jim zurückgewichen war, sobald Doramin die Hand erhob, stürzte nach dem Schuß in wirrem Haufen vor. Es heißt, daß der weiße Mann alle diese Gesichter rechts und links mit einem stolzen, unentwegten Blick streifte. Dann fiel er, mit der Hand über den Lippen, nach vorn und war tot.

Und das ist das Ende. Er geht dahin unter einer Wolke, unergründlich im Herzen, vergessen, ohne Vergebung und außerordentlich romantisch. Nicht in den wildesten Tagen seiner knabenhaften Träume hätte er sich die verlockenden Ausmaße eines so außerordentlichen Erfolges vorstellen können! Denn es mag wohl sein, daß er mit seinem letzten stolzen, unentwegten Blick das Antlitz jener Gelegenheit erschaute, die, verschleiert wie eine morgenländische Braut, an seine Seite gekommen war.

Doch wir sehen ihn, einen unbekannten Eroberer des Ruhms, auf das Zeichen, den Ruf seines überspannten Selbstgefühls sich den Armen einer eifersüchtigen Liebe entwinden. Er verläßt eine lebende Frau, um seine erbarmungslose Hochzeit mit einem schattenhaften Ehrbegriff zu feiern. Ob er nun wohl ganz befriedigt ist? Wir sollten es wissen. Er ist einer von uns – und bin ich nicht einst, wie ein heraufbeschworener Geist, für ihn aufgestanden und habe für seine ewige Beständigkeit gezeugt? Habe ich schließlich so sehr unrecht gehabt? Nun, da er nicht mehr ist, gibt es Tage, wo die Wirklichkeit seines Daseins sich mir mit einer ungeheuren, einer überwältigenden Stärke aufdrängt, und wiederum gibt es, wahrhaftig, Augenblicke, wo er meinen Augen entgleitet wie ein zwischen den Leidenschaften dieser Erde irrender, körperloser Geist, der bereit ist, sich treulich dem Anspruch seiner eigenen Schattenwelt hinzugeben.

Wer weiß? Er ist dahin, unergründlich im Herzen, und das arme Mädchen führt in Steins Haus ein stumpfes, klangloses Dasein. Stein ist in der letzten Zeit sehr gealtert. Er fühlt es selbst und sagt oft, daß er »sich anschickt, von alldem hier Abschied zu nehmen; Abschied zu nehmen...«, während er mit der Hand wehmütig auf seine Schmetterlinge deutet.


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