Joseph Conrad
Lord Jim
Joseph Conrad

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Fünftes Kapitel

O ja! Ich wohnte der Untersuchung bei, pflegte er zu sagen, und bis auf den heutigen Tag habe ich nicht aufgehört mich zu wundern, warum ich hinging. Ich bin geneigt zu glauben, daß jeder von uns einen Schutzengel hat, wenn ihr mir zugeben wollt, daß jeder desgleichen einen Teufel hat. Ich brauche eure Zustimmung, weil ich mich nicht als Ausnahme betrachten mag und weil ich weiß, daß ich ihn habe – den Teufel nämlich. Ich habe ihn allerdings nicht gesehen, doch habe ich schlüssige Beweise für sein Dasein. Er ist ganz fraglos da, und da er boshaft ist, verlockt er mich zu solchen Sachen. Zu was für Sachen, fragt ihr? Nun, eben zu so was wie diese Untersuchung, wie diese Geschichte mit dem gelben Hund... Oder würdet ihr es für möglich halten, daß ein räudiger Eingeborenenköter imstande sein sollte, Leute in der Veranda eines Gerichtsgebäudes aneinanderzubringen? Na, also – auf allerlei krummen, unerwarteten, wahrhaft diabolischen Wegen weiß er es zu deichseln, daß ich gegen gewisse Subjekte anrenne, die eine weiche, oder eine harte, oder auch eine faule Stelle haben, beim Henker! löst ihnen die Zunge bei meinem Anblick, daß sie sich mir anvertrauen, als ob ich mir nicht selber genug anzuvertrauen hätte, als wüßte ich nicht – Gott helfe mir! – über mich selbst Dinge genug, daß ich bis ans Ende meiner Tage genug haben könnte. Und was habe ich bloß getan, möchte ich gerne wissen, daß man mich so auszeichnet? Ich erkläre, daß ich so voll von meinen eigenen Angelegenheiten bin wie irgendwer und daß mein Gedächtnis nicht schlechter ist als das jedes Durchschnittspilgers in diesem Jammertal – und demnach eigne ich mich nicht besonders dazu, Beichtgeheimnisse zu empfangen. Warum also? Ich kann's nicht sagen, es sei denn, um die Zeit nach Tisch vertreiben zu können. Charley, mein Lieber, dein Diner war glänzend, und die Folge davon ist, daß diese Männer einen stillen Robber für eine anstrengende Sache halten. Sie rekeln sich in deinen guten Stühlen und denken bei sich selbst: ›Zum Teufel mit allen Anstrengungen. Lassen wir diesen Marlow reden!‹

Reden! Gut denn. Es spricht sich leicht genug von Junker Jim, nach einer ausgesuchten Mahlzeit, zweihundert Fuß überm Meer, mit einer Kiste annehmbarer Zigarren zur Seite, an einem himmlisch kühlen, sternklaren Abend wie diesem, der auch die Besten unter uns vergessen machen kann, daß wir nur zum Leiden da sind und uns im Dunkel durch dieses Jammertal tasten müssen, immer auf der Hut, daß uns keine kostbare Minute entgehe und wir keinen Fehltritt tun, damit wir uns so einigermaßen anständig durchstümpern – mit verdammt wenig Aussicht auf Hilfe von den Nachbarn zur Rechten und zur Linken. Allerdings gibt es überall Menschen, für die das ganze Leben nur so eine behagliche Verdauungsstunde mit einer Zigarre ist; leicht, angenehm, leer, vielleicht noch von einer spannenden Erzählung belebt, die man vergißt, bevor das Ende erzählt ist – bevor das Ende erzählt ist, wenn sie zufällig überhaupt ein Ende haben sollte.

Meine Augen begegneten den seinen zum erstenmal während dieser Untersuchung. Ihr müßt wissen, daß jeder, der irgend mit der See zu tun hatte, da war, denn die Geschichte war seit Tagen bekannt, seit das geheimnisvolle Kabeltelegramm aus Aden eingetroffen war, das unser aller Zungen in Bewegung gesetzt hatte. Ich sage geheimnisvoll, denn das war es in einem gewissen Sinne, obgleich es eine nackte Tatsache enthielt, so nackt und widerwärtig, wie eine Tatsache nur sein kann. An der ganzen Küste sprach man von nichts anderm. Das erste, was ich am Morgen durch das Schott hörte, wenn ich mich in meiner Schlafkabine ankleidete, war das Geplapper meines Parsen-Dolmetschers mit dem Steward über die Patna, während er mit besonderer Erlaubnis in der Bottlerei eine Tasse Tee trank. Kaum war ich an Land, so traf ich schon Bekannte, deren erstes Wort war: »Haben Sie jemals etwas Ähnliches gehört?« – und je nachdem lächelten sie dabei zynisch oder sahen traurig aus oder machten sich mit einem Fluch Luft. Völlig Fremde redeten einander vertraulich an, bloß um sich über diese Sache auszusprechen: jeder versoffene Landstreicher in der Stadt wußte ein langes und breites zu erzählen; man hörte im Hafenkontor davon sprechen, bei jedem Schiffsmakler, beim Agenten, von Weißen, von Eingeborenen, von Mischlingen, ja von den Bootsleuten, die halbnackt auf den Steintreppen kauerten, wenn man hinaufstieg – wahrhaftig! Es gab Entrüstung, Späße und endlose Diskussionen darüber, was aus ihnen geworden sein mochte. Dies ging eine Weile so fort, und die Meinung, daß das Geheimnisvolle in der Sache sich zugleich als sehr tragisch erweisen würde, begann vorzuherrschen, als ich eines schönen Morgens, während ich im Schatten neben den Stufen stand, die zum Hafenkontor führten, am Kai vier Männer auf mich zukommen sah. Ich wunderte mich zuerst, wo diese sonderbare Gesellschaft herkommen mochte, und plötzlich schrie ich mir sozusagen zu: »Da sind sie!«,

Da waren sie, ohne Frage, drei von ihnen lebensgroß und einer von größerem Leibesumfang, als er einem Menschen erlaubt sein sollte, eben von einem ausreisenden Dampfer der Dale Line, der eine Stunde nach Sonnenaufgang angelegt hatte, an Land gekommen, mit einem kräftigen Frühstück im Leibe. Es konnte keinen Irrtum geben; ich erkannte den famosen Kapitän der Patna auf den ersten Blick: Der fetteste Mann unter dem gesegneten tropischen Himmel, der diese gute alte Erde umgibt, überdies war ich ihm vor etwa neun Monaten in Samarang begegnet. Sein Dampfer nahm in der Reede Ladung ein. Er schimpfte auf die tyrannischen Einrichtungen des Deutschen Reiches, und in De Jonghs Hinterladen schlug er sich Tag für Tag den Bauch mit Bier voll, bis De Jongh, der, ohne mit der Wimper zu zucken, für jede Flasche einen holländischen Gulden nahm, mich beiseite winkte und, sein kleines ledernes Gesicht ganz in Falten ziehend, mir im Vertrauen erklärte: »Geschäft ist Geschäft, aber dieser Mann, Kapitän, machen mir ganz übel, Pfui!«,

Vom Schatten aus sah ich zu ihm hin. Er eilte ein wenig voraus, und in dem grellen Sonnenlicht trat sein Bauch in erschreckender Weise hervor. Er gemahnte mich an ein gezähmtes Elefantenbaby, das auf den Hinterbeinen geht. Er war in fürchterlicher Verfassung – in einem schmutzigen Schlafanzug, grellgrün mit tief orangefarbenen Querstreifen, mit zerlumpten Strohpantoffeln an den nackten Füßen und einem von irgendwem abgelegten Korkhelm, der sehr schmutzig und um zwei Nummern zu klein für ihn war und den er mit einer Manilaleine oben auf seinem Kopf festgebunden hatte. Es läßt sich denken, daß ein solcher Mann, wenn er gezwungen ist, sich Kleider zu borgen, kein großes Glück damit hat. Gut also. In brennender Eile, ohne einen Blick rechts oder links, kommt er dahergerast und stürzt dann dicht an mir vorbei und in der Unschuld seines Herzens die Treppe zum Hafenamt hinauf, um seine Aussage zu machen oder seinen Rapport, oder wie man es sonst nennen will.

Wie es scheint, wendete er sich zunächst an den ersten Heuerbas. Archie Ruthvel war gerade gekommen und wollte, wie es von ihm heißt, seinen anstrengenden Tag eben mit einem Rüffel an seinen ersten Schreiber beginnen. Einige von euch mögen ihn gekannt haben – er war ein zuvorkommender, kleiner portugiesischer Mischling, mit einem jämmerlich dürren Hals, der immer darauf aus war, von den Schiffern etwas Eßbares zu kriegen – ein Stück gepökeltes Schweinefleisch, eine Tüte Zwieback, ein paar Kartoffeln oder sonst was. Auf einer Reise, erinnere ich mich, gab ich ihm ein lebendiges Schaf aus meinem übriggebliebenen Seevorrat: ich wollte mir nicht etwa seine Dienste kaufen – er hätte mir nicht viel nützen können –, doch sein kindlicher Glaube an das heilige Recht auf Nebeneinkünfte rührte mich. Der war stark genug, um fast schön zu sein. Die Rasse – die zwei Rassen vielmehr – und das Klima... nun, ist ja gleichgültig. Ich weiß jedenfalls, wo ich einen Freund fürs Leben habe.

Ruthvel also sagt, daß er dem Schreiber eben eine ernste Strafpredigt hielt – über amtliche Moral, nehme ich an –, als er in seinem Rücken etwas wie einen gedämpften Aufruhr hörte; und als er sich umwandte, sah er, nach seinen eigenen Worten, etwas Ungeheures, Rundes, das einem in gestreiften Flanell gehüllten Acht-Meterzentner-Ballen Zucker glich und inmitten der großen Amtsstube stand. Er sagt, er sei so verdutzt gewesen, daß er eine ganze Weile nicht begriff, daß das Ding lebendig sei, und sich wunderte, auf welche Weise und zu welchem Zweck es gerade vor sein Pult zu stehen gekommen sei. Der Bogengang des Vorzimmers war voll mit Punkahziehern, Straßenkehrern, Gerichtsdienern, mit Bootsführern und der Mannschaft der Hafendampfbarkasse, die sich die Hälse ausreckten und sich gegenseitig beinahe auf den Rücken kletterten. Es war ein richtiger Auflauf. Mittlerweile war es dem Kerl gelungen, seinen Helm vom Kopf zu zerren, und er schritt mit leichten Verbeugungen auf Ruthvel zu, den der Anblick, wie er mir sagte, so aus der Fassung brachte, daß er eine Weile zuhörte, ohne sich erklären zu können, was die Erscheinung wollte. Der Fremde sprach mit kläglicher, tonloser Stimme, doch unerschrocken, und nach und nach dämmerte es in Archie, daß dies eine Darlegung der Patna-Geschichte war. Er sagt, daß ihm, sobald er begriffen, wen er vor sich hatte, ganz schlimm wurde – Archie ist so sensitiv und erregbar –, daß er sich aber zusammengenommen und geschrien habe: »Hören Sie auf, ich kann Sie nicht anhören! Sie müssen zum Hafenkapitän gehen! Ich kann Sie absolut nicht anhören. Kapitän Elliot ist der Mann, den Sie sprechen müssen. Hier hinaus, hier hinaus.« Er sprang auf, rannte um den langen Tisch herum, zog, schob; der andere, überrascht anfangs, doch gehorsam, wehrte sich nicht, und erst an der Tür des Privatkontors sträubte er sich und schnaubte in einer Art tierischen Instinkts, wie ein erschreckter Stier. »Da sieh mal her! Was denn? Lassen Sie mich zufrieden! Ei, da sieh her!« Archie riß die Tür auf, ohne anzuklopfen. »Der Kapitän von der Patna, Herr!« rief er. »Gehen Sie hinein, Kapitän!« Er sah, wie der alte Mann den Kopf von einem Schriftstück erhob, mit einer so heftigen Bewegung, daß ihm der Zwicker von der Nase fiel; dann schlug er die Türe zu und floh zu seinem Pult zurück, wo eine Menge Papiere auf seine Unterschrift warteten: aber er sagte, der Lärm, der da drinnen entstand, sei so schrecklich gewesen, daß er seine Gedanken nicht so weit habe zusammenhalten können, um sich an seinen eigenen Namen richtig zu erinnern. Archie ist der sensitivste Hafenbeamte in den beiden Hemisphären. Ihm war zumute, als hätte er einem hungrigen Löwen einen Menschen vorgeworfen. Der Lärm war zweifellos gewaltig. Ich hörte ihn bis hinunter, und ich bin sicher, man hörte ihn über die Esplanade weg bis zur Musikkapelle. Der alte Vater Elliot hatte einen großen Wortvorrat und konnte schreien – und es kam ihm auch nicht darauf an, mit wem er schrie. Er pflegte zu mir zu sagen: »Ich bin so hoch, wie ich kommen kann; meine Pension ist gesichert. Ich habe mir ein paar Pfund erspart, und wenn ihnen meine Begriffe von Pflicht nicht passen, so gehe ich ebenso gern in die Heimat. Ich bin ein alter Mann und habe immer die Wahrheit gesagt. Meine größte Sorge ist, daß sich meine Töchter noch vor meinem Tode verheiraten.« Er war ein bißchen närrisch in diesem Punkt. Seine Töchter waren riesig nett, obwohl sie ihm auffallend glichen; und an den Tagen, da er mit einem ungünstigen Urteil über ihre Heiratsaussichten erwacht war, lasen es ihm seine Beamten an den Augen ab und zitterten, denn, so sagten sie, er würde sicher jemand zum Frühstück verschlingen wollen. Nun, verschlungen hat er den Überläufer an jenem Morgen nicht, aber, um bei der Metapher zu bleiben, sozusagen kleingekaut und – wieder ausgespien.

So sah ich denn nach ein paar Minuten seinen riesenhaften Wanst sich eilig die Treppe herunterbewegen und auf den äußeren Stufen stehenbleiben. Er hatte, zum Zweck tiefen Nachdenkens, dicht neben mir haltgemacht. Seine dicken, blauroten Backen zitterten. Er nagte seinen Daumen und streifte mich nach einer Weile mit einem ärgerlichen Seitenblick. Die andern drei Burschen, die mit ihm gelandet waren, standen in einiger Entfernung zusammen und warteten. Da war ein blasser, gewöhnlicher kleiner Kerl mit einem Arm in der Schlinge und ein ellenlanger Bursche, trocken wie ein Span und dürr wie ein Besenstiel, mit hängendem grauem Schnurrbart, in einem blauen Flanellkittel; er blickte mit einer blöden Munterkeit um sich. Der dritte war ein hochgewachsener, breitschultriger junger Mann, mit den Händen in der Tasche, der den beiden andern, die sich ernsthaft zu unterhalten schienen, den Rücken kehrte. Er starrte auf die leere Esplanade. Ein wackeliger, staubbedeckter Mietswagen mit Glasfenstern hielt gerade gegenüber der Gruppe an, der Kutscher zog seinen rechten Fuß auf das linke Knie herauf und überließ sich einer kritischen Untersuchung seiner Zehen. Der junge Bursche stand wie angewurzelt, ohne nur den Kopf zu bewegen, da und starrte in die Sonne. Dies war meine erste Begegnung mit Jim. Er sah so unbekümmert und unnahbar aus, wie dies nur in der Jugend möglich ist. Frisch, reinlich, fest auf den Beinen, schien er ein so hoffnungsvoller Junge, wie nur einer unter der Sonne; und wie ich mir nun alles vergegenwärtigte, was ich von ihm wußte, empfand ich einen solchen Groll gegen ihn, als hätte ich ihn bei dem Versuch ertappt, mich durch falsche Behauptungen zu prellen. Er hatte kein Recht, so gesund auszusehn. Ich dachte bei mir – nun, wenn so einer sich so weit vergessen kann... und dabei hätte ich aus purem Zorn meinen Hut hinschmeißen und darauf tanzen mögen, wie ich es einmal den Kapitän einer italienischen Bark habe tun sehn, weil sein Tölpel von Maat in einer Reede voll von Schiffen mit den Vertäuankern nicht zurechtkam. Ich fragte mich, da ich ihn scheinbar so guter Dinge sah: ist er dumm? Ist er gefühllos? – Er schien im Begriff, sich eins zu pfeifen. Und ihr müßt wissen, daß mich das Betragen der beiden andern keinen Deut kümmerte. Ihre Persönlichkeiten entsprachen ungefähr der Geschichte, die im Umlauf war und die der Gegenstand einer amtlichen Untersuchung werden sollte. »Dieser verrückte alte Esel da oben nannte mich einen Hund«, sagte der Kapitän der Patna. Ich kann nicht sagen, ob er mich erkannte – ich glaube, ja; jedenfalls trafen sich unsere Blicke. Er glotzte – ich lächelte; Hund war das mildeste Epitheton, das ich durch das offene Fenster gehört hatte. »So?« sagte ich, aus einer sonderbaren Unfähigkeit, den Mund zu halten. Er nickte, nagte an seinem Daumen und murmelte einen leisen Fluch. Dann hob er den Kopf und sah mich mit trotziger, wilder Herausforderung an: »Bah! Der Stille Ozean ist groß, mein Freund. Ihr verdammten Engländer mögt machen, was ihr wollt; ich weiß, wo ein Mann wie ich an seinem Platz ist. Ich bin bekannt in Apia, in Honolulu, in...« Er hielt nachdenklich inne, während ich mir ohne Mühe die Leute ausmalen konnte, mit denen er an jenen Orten bekannt war. Ich will kein Hehl daraus machen, daß auch ich mit etlichen von der Sorte bekannt war. Es gibt Zeiten, wo man so tun muß, als ob einem das Leben in jeglicher Gesellschaft gleich angenehm wäre. Ich habe eine solche Zeit gekannt, und es fällt mir gar nicht ein, nachträglich über diese Zwangslage ein Gesicht zu ziehen, denn ein gut Teil dieser schlechten Gesellschaft war aus Mangel an moralischer – wie soll ich sagen? – an moralischer Haltung oder aus sonst einem triftigen Grund doppelt so belehrend und zwanzigmal lustiger als der gewöhnliche achtbare Geschäftsgauner, den ihr, ohne eigentliche Notwendigkeit, nur so aus Gewohnheit, Feigheit, Gutmütigkeit und hundert ähnlichen niedrigen und belanglosen Gründen, an euren Tisch bittet.

»Ihr Engländer seid alle Gauner«, fuhr mein patriotischer Flensburger oder Stettiner Australier fort. Ich entsinne mich wirklich nicht, welch ehrsamer kleiner Hafenplatz an der Ostsee es sich zur Unehre rechnen mußte, das Nest dieses seltenen Vogels gewesen zu sein. »Was habt ihr zu schreien? Ihr wollt mir was sagen? Ihr seid nicht besser als andre Leute, und der alte Schuft hat mir einen verfluchten Krach gemacht.« Sein massiger Körper zitterte auf den Beinen, die zwei Säulen schienen; zitterte von Kopf bis zu Fuß. »Das ist immer so die Art von euch Engländern, wegen jeder Kleinigkeit einen verfluchten Krach zu machen, – weil ich nicht in eurem verfluchten Land geboren bin. Mir das Patent nehmen. Nehmt's euch. Ich brauch' kein Patent. Ein Mann wie ich braucht euer verfluchtes Patent nicht. Ich spuck' drauf!« Er spuckte. »Ich will amerikanischer Bürger werden«, schrie er, vor Wut schäumend und schnaubend und mit den Füßen scharrend, als hätte er seine Knöchel von einer unsichtbaren und geheimnisvollen Umklammerung zu befreien, die ihn nicht vom Fleck lassen wollte. Er brachte sich in eine solche Hitze, daß sein kugelrunder Schädel buchstäblich rauchte. Nichts Geheimnisvolles hinderte mich, den Platz zu verlassen: Neugierde ist das deutlichste der Gefühle, und sie hielt mich dort fest, um die Wirkung der vollen Wahrheit auf den jungen Mann zu beobachten, der, mit den Händen in den Taschen und mit dem Rücken zum Bürgersteig, über die Rasenplätze der Esplanade weg zu dem gelben Portikus des Malabar-Hotels hinübersah – ganz wie ein Mann, der einen Spaziergang machen wird, sobald sein Freund fertig ist. So sah er aus, und es war schmählich. Ich wartete darauf, ihn überwältigt, niedergeschmettert, im Innersten getroffen, wie einen aufgespießten Käfer sich krümmend zu sehen – und fürchtete doch auch wiederum, ihn so zu sehen, wenn ihr versteht, was ich meine. Nichts Schrecklicheres, als einen Menschen zu sehen, der ertappt worden ist, nicht auf einem Verbrechen, sondern auf einer mehr als verbrecherischen Schwäche. Die gewöhnlichste Art von Stärke hält uns davon ab, vor dem Gesetz zu Verbrechern zu werden; aber vor der unbekannten, vielleicht nur vermuteten Schwäche – so wie man in einigen Teilen der Welt in jedem Gebüsch eine todbringende Schlange vermuten muß—, vor der Schwäche, die verborgen, bewacht oder unbewacht, durch Gebet niedergehalten oder mannhaft verachtet, unterdrückt oder vielleicht mehr als ein halbes Leben lang gar nicht erkannt sein mag – vor der ist keiner von uns sicher. Wir werden verleitet, Dinge zu tun, um derentwillen man uns Schimpfnamen anhängt, Dinge, um die wir gehenkt werden – und doch kann der Geist das alles überleben – die Verurteilung überleben, den Strick überleben, bei Gott! Aber es gibt Dinge – und sie sehen oft geringfügig genug aus –, durch die manche von uns völlig und von Grund auf vernichtet werden. Ich betrachtete mir den jungen Burschen dort. Ich mochte sein Aussehen; ich kannte sein Aussehen; er kam vom rechten Ort; er war einer von uns. Er war ein echter Abkömmling seiner Art, einer Reihe von Männern und Frauen, die keineswegs als besonders klug oder interessant gelten mochten, deren innerste Lebensmöglichkeit aber auf ehrlichem Glauben und wurzelechtem Mut beruhte. Ich meine nicht militärischen Mut oder bürgerlichen Mut oder irgendeine besondere Art von Mut. Ich meine jene angeborene Fähigkeit, Gefahren unbewegt ins Auge sehen zu können – eine nicht verstandesmäßige Bereitschaft, frei von Pose – eine Widerstandskraft, seht ihr, wenig ansprechend vielleicht, doch unschätzbar – eine rein gefühlsmäßige, gläubige Festigkeit vor inneren und äußeren Schrecken, vor der Gewalt der Natur und der verführerischen Verderbnis der Menschen – einen Glauben, der sich vor der Macht der Tatsachen so unverletzlich bewährt wie vor dem bösen Beispiel und der Versuchung der eigenen Gedanken. Zum Teufel mit den Gedanken! Landstreicher sind sie, Vagabunden, die an der Hintertür eures Geistes anklopfen, von eurem inneren Kern zehren und jeder einen Brosamen von jenem Glauben an ein paar einfache Grundbegriffe forttragen, an die man sich halten muß, wenn man anständig leben und leicht sterben will!

Dies hat nicht unmittelbar mit Jim zu tun; nur war er äußerlich ein so typischer Vertreter jenes guten, dummen Schlages, neben dem wir so gern im Leben hermarschieren, jenes Schlages, der weder von den Unberechenbarkeiten des Intellekts, noch von den Abirrungen der – sagen wir – Nerven beunruhigt wird. Er war die Art Bursche, dem man auf sein Aussehen hin ohne weiteres – bildlich und beruflich gesprochen – die Verantwortung für das Deck übertragen würde. Ich würde es tun, und ich sollte da Bescheid wissen. Hab' ich zu meiner Zeit nicht genug junge Burschen für den Dienst unter dem Union-Jack hinausgestellt, für das Handwerk zur See, das Handwerk, dessen ganzes Geheimnis in einen kurzen Satz zusammengefaßt werden könnte, der doch Tag für Tag von neuem in die jungen Köpfe eingehämmert werden muß, bis er der Hauptbestandteil jedes ihrer wachen Gedanken wird – bis er ihnen in jedem Traum ihres jungen Schlafes gegenwärtig ist! Die See ist gut zu mir gewesen; aber wenn ich an all die Jungens denke, die durch meine Hände gegangen sind – einige von ihnen sind nun schon Männer, andere längst ertrunken, doch alle waren sie gute Seeleute –, so meine ich, daß ich meine Sache auch nicht schlecht gemacht habe. Ich wette, daß, wenn ich morgen heimkehrte, noch ehe zwei Tage ins Land gingen, ein junger, sonnverbrannter Erster Offizier mich irgendwo an einem Hafentorweg einholen und eine frische, tiefe Stimme zu mir sprechen würde: »Erinnern Sie sich meiner nicht, Herr? Der kleine Soundso. Das und das Schiff. Es war meine erste Fahrt.« Und ich besinne mich auf ein verlegenes, kleines Bürschchen, nicht höher als die Stuhllehne da, mit einer Mutter und etwa noch einer großen Schwester auf dem Kai, die sehr gefaßt sind, aber doch viel zu aufgeregt, um mit den Taschentüchern zu winken, wenn das Schiff zwischen den Hafendämmen hinausgleitet; oder ein achtbarer Vater mittleren Alters hat seinem Jungen schon früh am Morgen das Geleit gegeben und bleibt den ganzen Vormittag, weil er sich anscheinend für die Ankerwinde interessiert, und muß schließlich in aller Eile an Land klettern, ohne noch Lebewohl sagen zu können. Der Lotse auf der Hütte näselt mir zu: »Stoppen Sie sie noch einen Augenblick mit dem Rückhalttau, da will noch ein Herr an Land... Machen Sie, daß Sie hinauskommen, Herr. Um ein Haar hätte man Sie nach Talcahuano mitgenommen, wie? Jetzt also; nur langsam... Nun werfen Sie wieder los.« Die Schlepper, die wie der Höllenpfuhl rauchen, fahren an und lassen den alten Fluß vor Wut aufschäumen; der Herr an Land streift sich den Staub von den Knien – der wohlmeinende Steward hat ihm seinen Regenschirm nachgeworfen. Es hat alles seine Richtigkeit. Er hat der See sein kleines Opfer gebracht und mag nun nach Hause gehn und so tun, als machte es ihm nichts aus; und das kleine, willige Opfer wird noch vor dem nächsten Morgen sehr seekrank werden. Allmählich, wenn er all die kleinen Kunstgriffe und das eine große Geheimnis der See gelernt hat, wird er, je nachdem wie die See es fügt, zum Leben oder zum Sterben geeignet sein, und der Mann, der zu diesem törichten Spiel, bei dem die See jeden Wurf gewinnt, seine Hand lieh, der freut sich, wenn eine schwere, junge Hand ihn in den Rücken pufft und so ein junger Seehund ihm fröhlich zuruft: »Erkennen Sie mich nicht, Herr? Der kleine Soundso.«

Ich sage euch, das ist gut; es überzeugt einen, daß man wenigstens einmal in seinem Leben seine Arbeit richtig getan hat. Ich bin so auf die Schulter geschlagen worden und bin zusammengezuckt dabei, denn der Schlag war schwer, habe mich den ganzen Tag über gefreut und mich noch beim Zubettgehen weniger einsam gefühlt in der Welt, dank dem herzhaften Puff. Ob ich mich nicht an die kleinen Soundsos erinnere? Ich sage euch, ich sollte mich auf äußere Erscheinung verstehen. Ich hätte dem jungen Burschen auf den ersten Blick hin das Deck anvertraut und mich ruhig schlafen gelegt – und, bei Gott, es wäre nicht sicher gewesen. Es ist grauenvoll, dies denken zu müssen. Er sah so echt aus wie ein neuer Sovereign, aber es war ein teuflischer Zusatz in seinem Metall. Wieviel? Ganz minimal, – gerade ein Stäubchen von etwas Seltenem, Schlimmem; ein Stäubchen! – aber wie er so dastand mit seiner »Was-schert-es-mich-Miene« – da fragte man sich, ob er nicht doch vielleicht nur aus Messing sei.

Ich konnte es nicht glauben. Ich sage euch, ich hätte ihn, um der Berufsehre willen, sich in Krämpfen winden sehen mögen. Die beiden andern belanglosen Kerle erblickten ihren Kapitän und kamen langsam auf uns zu. Sie plapperten im Gehen miteinander, und sie hätten mir nicht gleichgültiger sein können, wenn sie in weitester Ferne als Punkte aufgetaucht wären. Sie grinsten einander zu – möglich, daß sie Späße tauschten. Ich sah, daß der eine von ihnen den Arm gebrochen hatte; und was den langen Kerl mit dem grauen Schnurrbart angeht, so war er der Obermaschinist und in mancher Hinsicht eine ziemlich bekannte Persönlichkeit. Der Kapitän starrte mit leblosem Ausdruck zu Boden; er schien von einer schrecklichen Krankheit, durch die geheimnisvolle Wirkung eines unbekannten Giftes etwa, zu unnatürlicher Größe aufgeschwollen. Er hob den Kopf, sah die beiden auf ihn warten, öffnete den Mund mit einer seltsam höhnischen Grimasse seines aufgedunsenen Gesichts – vermutlich, um ihnen etwas zu sagen –, und dann schien ein Gedanke in ihm aufzusteigen. Seine dicken, blauroten Lippen schlossen sich ohne einen Laut, er watschelte mit resoluten Schritten auf den Mietwagen zu und fing mit so blinder Wut an dem Türgriff zu rütteln an, daß ich meinte, er würde den ganzen Krempel mitsamt dem Pony umschmeißen. Der Kutscher, aus der Betrachtung seiner Fußsohle aufgerüttelt, klammerte sich in jähem Schreck mit beiden Händen an seinem Sitz fest und drehte den Kopf nach dem Koloß, der sich den Einlaß in seinen Wagen erzwang. Das kleine Gefährt schwankte und schaukelte bedenklich, und der rote Wulst des gesenkten Halses, der Umfang der schlotternden Schenkel, das gewaltige Schwellen des schmierigen, grün und orange gestreiften Rückens, die ganze wühlende Anstrengung der protzenden, unzüchtigen Fleischmasse trübten einem beim Hinsehen den Sinn für das Mögliche, wie die tollen und deutlichen Gesichte, die einen während eines Fiebers schrecken und fesseln. Er verschwand. Ich war darauf gefaßt, daß das Dach bersten, daß der kleine Rumpelkasten gleich einer reifen Baumwollhülse auseinanderplatzen würde – doch man hörte nur die plattgedrückten Federn krachen, und plötzlich rasselte eines der Wagenfenster nieder. Seine Schultern tauchten wieder auf, in die schmale Öffnung eingeklemmt; sein Kopf hing heraus, aufgebläht und schwankend wie ein Fesselballon, schwitzend, wütend, spuckend. Er streckte seine plumpe Faust, die wie ein Klumpen rohes Fleisch aussah, mit wüsten Drohungen gegen den Kutscher aus und schrie ihm zu, loszufahren. Wohin? Vielleicht in den Stillen Ozean. Der Kutscher schwang die Peitsche; das Pony wieherte, bäumte sich einmal und schoß dann im Galopp davon. Wohin? Nach Apia? Nach Honolulu? Er hatte einen Gürtel von sechstausend Meilen tropischer Meere als Spielraum vor sich, und ich hörte die genaue Adresse nicht. Ein wieherndes Pony entrückte ihn in einem Nu in die Ewigkeit, und ich sah ihn nie wieder; und, mehr noch, ich kenne auch niemand, der ihn je wieder zu Gesicht bekam, nachdem er in einem wackeligen kleinen Mietswagen, der in einer Staubwolke um die Ecke bog, vor meinen Augen entschwunden war. Er fuhr ab, verschwand, verflüchtigte sich, versank; und seltsamerweise sah es aus, als hätte er das Wägelchen mit fortgenommen, denn nie wieder stieß ich auf ein Rotfuchspony mit geschlitztem Ohr und einen schmachtenden tamilischen Kutscher mit einem wunden Fuß. Der Stille Ozean ist ja wirklich sehr groß; doch ob er darin nun einen Platz zur Entfaltung seiner Talente fand oder nicht, Tatsache bleibt, daß er sich wie eine Hexe auf dem Besenstiel in den Raum aufgeschwungen hatte. Der kleine Kerl mit seinem Arm in der Schlinge machte sich daran, hinter dem Wagen herzulaufen, blökend: »Kapitän! He, Kapitän! He—e—e—h—!« Doch nach ein paar Sprüngen hielt er inne, ließ den Kopf hängen und ging langsam zurück. Bei dem lauten Gerassel der Räder drehte sich der junge Bursche auf den Hacken um. Er machte keine andere Bewegung, keine Gebärde, kein Zeichen und blickte weiter in die neue Richtung, nachdem der Wagen längst dem Blick entschwunden war.

All dies geschah weit schneller, als ich es erzähle, denn ich bemühe mich, euch die augenblickliche Wirkung sichtbarer Eindrücke in langsamer Rede wiederzugeben. Gleich hernach tauchte der Mischlingsschreiber, den Archie herausgeschickt hatte, um nach den armen Schiffbrüchigen der Patna zu sehen, auf dem Schauplatz auf. Er kam eifrig und barhäuptig gelaufen, blickte nach rechts und nach links und war ganz erfüllt von seinem Auftrag. Dieser erwies sich als unausführbar, soweit die Hauptperson in Frage kam; doch näherte sich der Schreiber den andern mit umständlicher Wichtigtuerei und geriet sofort in einen heftigen Wortwechsel mit dem Mann, der seinen Arm in der Schlinge trug und große Lust zeigte, sich zu prügeln. Er lasse sich nicht herumkommandieren – fiele ihm gar nicht ein. Er lasse sich nicht mit einem Pack Lügen von einem frechen halbblütigen Federfuchser ins Bockshorn jagen. Er werde sich durch »nichts der Art« beikommen lassen, und wäre die Geschichte auch »noch so wahr«. Er heulte seinen Wunsch, sein Begehren, seinen Entschluß, zu Bett zu gehen. »Wenn Sie nicht ein gottverlassener Portugiese wären«, hörte ich ihn brüllen, »dann wüßten Sie schon lange, daß ich ins Spital gehöre.« Er hielt dem andern die Faust seines gesunden Arms unter die Nase; es entstand ein Menschenauflauf; der Mischling kam in Verwirrung, doch tat er sein Bestes, um seine Würde zu wahren, und versuchte seine Absichten zu erklären. Ich ging fort, ohne das Ende abzuwarten.

Doch da ich zu der Zeit gerade einen Mann im Spital liegen hatte und mich am Tage vor der Eröffnung des Verfahrens nach ihm umsehen wollte, geriet ich in der Abteilung für Weiße an den kleinen Patron, der sich mit eingeschientem Arm auf dem Rücken hin und her wälzte und ganz irre schien. Zu meinem großen Erstaunen sah ich, daß auch der andere, der lange Bursche mit dem hängenden weißen Schnurrbart, hierhergefunden hatte. Ich erinnerte mich, daß ich während des Streits gesehen hatte, wie er sich halb trotzig, halb scheu davonmachte, offenbar stark bemüht, keine Angst zu zeigen. Er war anscheinend kein Fremder in dem Hafen und hatte also in seinem Schmerz den geraden Weg zu Marianis Billardzimmer und Schnapsladen neben dem Basar gefunden. Dieser unaussprechliche Lump Mariani, der den Mann gekannt und schon an einigen andern Plätzen seinen Lastern Vorschub geleistet, hatte, sozusagen, den Boden vor ihm geküßt und ihn in einem oberen Zimmer seiner famosen Bude mit einem großen Vorrat an Flaschen eingeschlossen. Es scheint, daß der Bursche in bezug auf seine persönliche Sicherheit unter einer unklaren Angstvorstellung gestanden und sich zu verbergen gewünscht hatte. Wie dem auch sei – Mariani erzählte mir lange hernach (als er eines Tages an Bord kam, um meinen Steward wegen einer Zigarrenrechnung zu mahnen), daß er, ohne Fragen zu stellen, auch noch mehr für ihn getan hätte – aus Dankbarkeit für eine Gefälligkeit heikler Natur, die der andre ihm vor vielen Jahren einmal erwiesen hatte –, soweit ich das ergründen konnte. Er schlug sich zweimal gegen seine stämmige Brust, ließ seine großen schwarz und weißen Augen rollen, in denen Tränen glänzten, und sagte: »Antonio niemals vergessen – Antonio niemals vergessen!« Worin diese unmoralische Verpflichtung eigentlich bestand, erfuhr ich nie; doch wie dem auch sei, dem Burschen wurde alle Möglichkeit geboten, hinter Schloß und Riegel zu bleiben, wohlversorgt mit einem Stuhl, einem Tisch, einer Matratze in einer Ecke und einer Masse abgefallenen Kalks auf dem Boden, in einem Zustand wahnwitziger Angst und unbehindert, seinem Mut mit den tonischen Mitteln aufzuhelfen, die Herr Mariani zu vergeben hatte. Dies dauerte bis zum Abend des dritten Tages, wo er sich nach ein paar wilden Schreien gezwungen sah, sich vor einer Legion von Tausendfüßlern durch die Flucht zu retten. Er sprengte die Tür, machte ums liebe Leben einen Satz über die wackelige kleine Treppe hinunter, landete buchstäblich auf Marianis Bauch, raffte sich auf und schoß wie ein Kaninchen in die Straßen hinaus. Die Polizei sammelte ihn früh am nächsten Morgen von einem Müllhaufen auf. Er hatte zuerst geglaubt, er sollte nun gehängt werden, und hatte für seine Freiheit wie ein Held gekämpft; doch als ich mich an seinem Bett niederließ, da war er zwei Tage lang ganz still gewesen. Sein hagerer, bronzefarbener Kopf mit dem weißen Schnurrbart lag fein und ruhig auf dem Kissen, nicht unähnlich dem Kopf eines im Krieg verbrauchten Soldaten mit einer Kinderseele; nur daß in dem flackernden Glanz seiner Augen eine gespenstische Furcht saß, wie ein unfaßbares Ungeheuer, das hinter einer Glasscheibe lauert. Er war so über die Maßen still, daß ich mich der törichten Hoffnung hingab, von seinem Gesichtspunkt aus über die berühmte Affäre einigen Aufschluß zu erhalten. Ich kann nicht sagen, warum ich eigentlich so darauf erpicht war, in den kläglichen Einzelheiten eines Falles zu wühlen, der mich schließlich nur insofern etwas anging, als ich ein Mitglied jener unscheinbaren, durch harte Arbeit und gewisse Ehrbegriffe geeinten Körperschaft von Männern war. Ihr mögt es ungesunde Neugierde nennen, wenn ihr wollt; doch habe ich das bestimmte Gefühl, daß ich etwas herauszufinden wünschte. Vielleicht hoffte ich im stillen, jenes Etwas zu finden, die geheime gute Absicht, eine mildernde Erklärung, den Schatten einer triftigen Entschuldigung. Nun sehe ich wohl, daß ich das Unmögliche erhoffte – den Geist zu bannen, der der widerspenstigste in der ganzen Schöpfung des Menschen ist, den lästigen Zweifel – der wie ein Nebel aufsteigt, sich heimlich einnistet und erkältender wirkt als die Gewißheit des Todes – den Zweifel an der unbedingten Gültigkeit des bestehenden Ehrbegriffs. Er ist die gefährlichste Klippe, an die man geraten kann, er läßt heulende Panik entstehen und stille kleine Gemeinheiten; er ist der wahre Schatten des Unheils. Glaubte ich an ein Wunder? Und warum wünschte ich es so brennend? War es um meinetwillen, daß ich den Schimmer einer Entschuldigung für diesen jungen Mann zu finden hoffte, den ich nie vorher gesehen hatte, dessen bloße Erscheinung aber über die von dem Wissen um seine Schwäche ausgelösten Gefühle hinaus persönliches Mitgefühl weckte – diese Schwäche mit Geheimnis und Grauen umgab – sie als den Fingerzeig einer bösen Macht erscheinen ließ, die auf uns alle lauert, auf uns alle, deren Jugend – zu ihrer Zeit – der seinen geglichen hatte. Ich fürchte, das war der geheime Beweggrund meines Nachforschens. Ich war zweifellos auf ein Wunder aus. Das einzige, was mir nun, nach dieser langen Zeit, noch wunderbar vorkommt, ist meine Dummheit. Ich erhoffte tatsächlich von diesem klapprigen, anrüchigen Invaliden eine Beschwörungsformel gegen den Geist des Zweifels. Ich muß in einem ziemlich trostlosen Zustand gewesen sein, denn ohne Zeitverlust, nach ein paar gleichgültigen freundlichen Sätzen, die er willig, mit matter Stimme, wie irgendein gewöhnlicher, anständiger Kranker, beantwortet hatte, sprach ich das Wort Patna aus, in eine behutsame Frage gehüllt wie in Seidenflor. Ich war behutsam aus Egoismus; ich wollte ihn nicht kopfscheu machen; ich hatte keine Sorge um ihn; ich empfand weder Zorn noch Mitleid für ihn: seine Bekehrung war mir unwichtig, seine Ehrenrettung kam für mich nicht in Frage. Er war in kleinen Schändlichkeiten alt geworden und konnte weder Widerwillen noch Mitleid mehr einflößen. Er wiederholte Patna? in fragendem Ton, schien sich kurz zu besinnen und sagte: »Ach so. Ich bin ein alter Praktikus hier draußen. Ich sah sie untergehn.« Ich war eben im Begriff, meiner Entrüstung über solch alberne Lüge Ausdruck zu geben, als er sanft hinzufügte: »Sie war voll Reptilien.«

Dies machte mich stutzig. Was meinte er? Das unstete Schreckgespenst hinter seinen glasigen Augen schien stillzustehen und begierig in die meinen zu blicken. »Sie warfen mich während der Hundewache aus meiner Koje, um sie untergehen zu sehen«, fuhr er nachdenklich fort. Seine Stimme klang mit einmal beängstigend stark. Ich bereute meine Torheit. Die weiße Flügelhaube einer Krankenschwester war in dem Saal nirgends zu erblicken; doch in der Mitte einer langen Reihe eiserner Bettstellen setzte sich braun und hager, einen weißen Verband flott über die Stirn, das Opfer eines Schiffsunglücks in der Reede auf. Plötzlich streckte mein interessanter Kranker einen spinnendürren Arm aus und packte meine Schulter. »Nur ich konnte alles sehen. Ich bin nämlich berühmt wegen meiner Augen. Darum riefen sie mich wahrscheinlich. Kein einziger war flink genug, sie untergehen zu sehen; sie sahen nur, daß sie weg war, und dann schrien sie alle zusammen auf... – so!« Ein Wolfsgeheul ging mir durch Mark und Bein. »Oh! Sagen Sie ihm, daß er still sein soll«, wimmerte der Verunglückte. »Sie glauben mir wohl nicht«, fuhr der andere fort, unsagbaren Dünkel im Gesicht. »Ich sage Ihnen, solche Augen hat kein zweiter auf dieser ganzen Seite des Persischen Meerbusens. Sehen Sie unter das Bett.«

Natürlich bückte ich mich sofort. Ich bin überzeugt, jeder hätte es getan. »Was können Sie sehen?« fragte er. »Nichts«, sagte ich und schämte mich fürchterlich. Er maß mich mit wildem, vernichtendem Hohn. »Das kann ich mir denken«, sagte er. »Aber wenn ich nachsehen wollte, ich könnte sehen – es gibt keine solchen Augen mehr wie meine, sage ich Ihnen.« Wieder packte er mich und zerrte mich nieder, in seinem Eifer, sich durch eine vertrauliche Mitteilung zu erleichtern. »Millionen rosa Kröten. Es gibt keine Augen wie meine. Millionen rosa Kröten. Es ist schlimmer, als ein Schiff sinken zu sehn. Ich könnte den ganzen Tag lang sinkenden Schiffen zusehen und dabei meine Pfeife rauchen. Warum gibt man mir meine Pfeife nicht wieder? Ich möchte eine rauchen, während ich hier auf diese Kröten aufpasse. Das Schiff war voll davon. Man muß auf sie aufpassen, wissen Sie.« Er zwinkerte spaßhaft. Von meinem Kopf troff der Schweiß auf ihn, meine Drillichjacke klebte an meinem nassen Rücken fest, die Nachmittagsbrise fegte ungestüm über die Reihe der Bettstellen, die steifen Falten der Vorhänge knisterten und rasselten an den Messingstangen, die Decken wurden geräuschlos von den leeren Betten auf den Fußboden geweht, und ich schauderte bis ins innerste Mark. Der weiche tropische Wind gebärdete sich so rauh und wild in diesem kahlen Raum wie der Wintersturm der Heimat in einer alten Scheune. »Lassen Sie ihn nicht wieder sein Geschrei anheben, Herr«, rief von weitem der Verunglückte mit verzweifelter, ärgerlicher Stimme, die wie der schmetternde Ruf in einem Tunnel durch den Raum gellte. Die Klaue zerrte an meiner Schulter, er schielte mich pfiffig an. »Das Schiff war voll davon, und wir mußten uns in aller Heimlichkeit davonmachen«, flüsterte er in fieberiger Hast. »Ganz rosa. Ganz rosa – und groß wie Bulldoggen, mit einem Auge oben auf dem Kopf und Krallen rings um ihre häßlichen Mäuler. Au! Au!« Jähe Zuckungen wie von galvanischen Stößen ließen unter der flachen Bettdecke die Umrisse seiner knochigen, unruhigen Beine erkennen; er ließ meine Schulter los und langte nach etwas in der Luft; sein Körper zitterte heftig, wie eine entspannte Harfensaite; und während ich niederblickte, brach das gespenstige Grauen durch seine glasigen Augen. Augenblicklich wurde sein altes Soldatengesicht mit seinen edlen, ruhigen Linien vor meinen Augen entstellt von einer heimlichen Verschlagenheit, einer scheußlichen Vorsicht und verzweifelten Angst. Er unterdrückte einen Schrei – »Ssss; was tun sie jetzt da unten?« fragte er und deutete auf den Fußboden, indem er Stimme und Gebärde in äußerster Behutsamkeit dämpfte, so daß mir sofort der Sinn seines Gehabens aufging. – »Sie schlafen alle«, antwortete ich und beobachtete ihn scharf. Das war es. Das wollte er hören; das waren gerade die Worte, die ihn beruhigen konnten. Er tat einen langen Atemzug. »Ssss! Ruhig, langsam. Ich bin ein alter Praktikus hier draußen. Ich kenne das Geziefer. Schlagt der ersten, die sich rührt, den Kopf ein. Es sind ihrer zu viele, und sie schwimmt nicht länger als zehn Minuten.« Er rang wieder nach Atem. »Eilt euch«, kreischte er plötzlich und fuhr mit anhaltendem Schreien fort: »Sie sind alle wach – Millionen! Sie trampeln auf mir herum! Warten Sie! Oh, warten Sie! Ich will sie in Haufen, wie die Fliegen zerquetschen. Hilfe! Hilfe!« Ein endlos hingehaltenes Geheul besiegelte meine Niederlage. Ich sah in der Ferne den Verunglückten sich verzweifelt mit beiden Händen an den bandagierten Kopf greifen; ein Gehilfe, bis zum Kinn in seine Schürze gehüllt, erschien auf der Bildfläche, wie durch ein umgekehrtes Teleskop gesehen. Ich gab mich geschlagen, sprang ohne weiteres Besinnen aus einem der langen Fenster und entkam in die äußere Galerie. Das Geheul verfolgte mich wie ein Rachegeschrei. Ich bog in einen leeren Flur ein, und plötzlich wurde alles um mich herum ganz still und einsam, und während ich die kahle blanke Treppe hinunterstieg, konnte ich meine zerfahrenen Gedanken wieder sammeln. Unten traf ich einen der Anstaltsärzte, der über den Hof kam und mich ansprach. »Haben Sie sich nach Ihrem Mann umgesehen, Kapitän? Ich denke, wir können ihn morgen entlassen. Diese Tölpel können sich absolut nicht in acht nehmen, übrigens, wir haben hier den Obermaschinisten des Pilgerschiffs. Kurioser Fall. Delirium tremens schlimmster Art. Er hat sich drei Tage lang in der Schnapskneipe des Griechen oder Italieners vollgesoffen. Was wollen Sie? Vier Flaschen Branntwein pro Tag, hat man mir gesagt. Erstaunlich, wenn's wahr ist. Er muß inwendig mit Eisen ausgeschlagen sein. Natürlich ist der Kerl verrückt geworden, aber das Merkwürdige ist, es ist Methode in seinem Wahnsinn. Ich will dahinterkommen. Höchst seltsam – der logische Faden in solchem Delirium. Der Tradition nach sollte er Schlangen sehen, aber er tut's nicht. Die gute alte Tradition ist heutzutage im Niedergang begriffen. Wie? Seine Visionen – äh – drehen sich um Kröten. Ha! Ha! Nein, ganz im Ernst, ich erinnere mich nicht, je solches Interesse an einem Fall von Säuferwahnsinn gehabt zu haben. Eigentlich sollte er nach solchem ergiebigen Experiment tot sein. Aber der Kerl ist zäh. Vierundzwanzig Jahre in den Tropen noch dazu. Wahrhaftig, Sie sollten sich ihn einmal ansehn. Gut aussehender alter Zechkumpan. Der ungewöhnlichste Mann, den ich je gesehen habe – medizinisch natürlich. Haben Sie keine Lust?«

Ich hatte während der ganzen Zeit mein Interesse durch die üblichen Zeichen der Höflichkeit kundgegeben, nun aber entschuldigte ich mich mit einer Miene des Bedauerns wegen Zeitmangels und verabschiedete mich in Eile, »übrigens«, rief er mir noch nach, »er kann der Gerichtsverhandlung nicht beiwohnen. Wird seine Aussage von Belang sein?«

»Nicht im mindesten«, gab ich ihm vom Gartenzaune aus zur Antwort.


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