Joseph Conrad
Lord Jim
Joseph Conrad

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Neuntes Kapitel

»Ich sagte zu mir selber: ›Geh unter— Verflucht! Geh unter!'« Mit diesen Worten begann er wieder. Er wünschte, es sollte alles vorüber sein. Er war gänzlich sich selbst überlassen und formte diese Anrede an das Schiff in seinem Kopf im Ton einer Verwünschung, während er zugleich die Gelegenheit genoß, einem – soweit ich es beurteilen kann – niederen Possenspiel beizuwohnen. Sie waren immer noch bei dem Schließbolzen. Der Kapitän kommandierte: »Kriecht drunter und versucht es hochzuheben!« Und die andern zeigten natürlich keine Lust; flach unter einem Bootskiel festgeklemmt zu liegen, war ja wirklich keine Lage, in der man gerne überrascht werden wollte, wenn das Schiff plötzlich unterging. »Warum tun Sie's nicht – als der Stärkste?« winselte der kleine Maschinist. – »Verflucht! Ich bin zu dick«, prustete der Kapitän in Verzweiflung. Es war spaßig genug, daß Engel darüber hätten weinen können. Sie standen eine Weile untätig, dann stürzte der Obermaschinist wieder auf Jim los.

»Komm und hilf, Mensch! Bist du ein Narr, deine einzige Chance wegzuwerfen? Komm und hilf, Mensch! Mensch! Da sieh – sieh!«

Und schließlich blickte Jim achteraus, wohin der andere mit der Beharrlichkeit eines Verrückten deutete. Er sah ein schweres, schwarzes Gewölk, das schon ein Drittel des Himmels verschlungen hatte. Ihr wißt, wie zu dieser Zeit des Jahres die Böen dort heraufkommen. Zuerst verdunkelt sich der Horizont – nichts weiter; dann steigt eine Wolke herauf, dicht wie eine Mauer. Ein gerader Dunststreifen, aus dem fahle, weißliche Lichter hervorbrechen, kommt von Südwesten und fegt ganze Sternbilder weg; sein Schatten fliegt über das Wasser und taucht Meer und Himmel in einen Abgrund von Finsternis. Und alles ist still. Kein Donner, kein Wind, kein Laut; kein Blitz. Dann erscheint in der finsteren Unendlichkeit ein bleifarbener Bogen; ein Wallen in der Luft, noch eins, als ob die Dunkelheit selber Wellen schlüge, und plötzlich platzen Wind und Regen mit einer eigentümlichen Heftigkeit zusammen, als wären sie durch etwas Festes hindurchgebrochen. Eine solche Wolke war heraufgekommen, während sie nicht hingesehen hatten. Als sie sie gewahr wurden, konnten sie mit Recht annehmen, daß, wenn es bei völliger Stille eine Möglichkeit für das Schiff gab, ein paar Minuten länger über Wasser zu bleiben, die geringste Bewegung des Wassers ihm ein Ende machen mußte. Sein erstes Stampfen zu dem Wallen, das dem Ausbruch der Bö vorangeht, würde auch sein letztes sein, würde in ein Tauchen übergehen, mit einem Sinken tief, tief auf den Grund enden. Daher all diese Kapriolen der Angst, all ihre Grimassen, in denen sich ihre außerordentliche Abneigung vor dem Tode ausdrückte.

»Es war schwarz, schwarz«, fuhr Jim mit düsterer Festigkeit fort. »Es war von hinten über uns heraufgekrochen. Ich glaube, ich muß ganz zutiefst noch einen Funken Hoffnung in mir gehabt haben. Ich weiß nicht. Aber nun war alles vorbei. Es machte mich toll, mich so gefangen zu sehen. Ich bäumte mich auf, als wäre ich in eine Falle gegangen. Ich war in einer Falle! Zudem war die Nacht heiß, ich entsinne mich noch. Kein Lüftchen.«

Er entsann sich so gut, daß er in seinem Stuhl nach Atem rang und vor meinen Augen zu ersticken schien. Kein Zweifel, es machte ihn toll; es überwältigte ihn von neuem, sozusagen, doch rief es ihm auch jenes wichtige Vorhaben ins Gedächtnis zurück, das ihn auf die Brücke geführt hatte. Er hatte die Absicht gehabt, die Rettungsboote klarzumachen. Er zog sein Messer heraus und hieb drauflos, als ob er nichts gesehen, nichts gehört, von niemand an Bord etwas gewußt hätte. Sie glaubten, er wäre total von Sinnen, wagten es aber nicht, gegen diese nutzlose Zeitvergeudung lauten Einspruch zu erheben. Nachdem er fertig war, kehrte er wieder auf denselben Fleck zurück, von dem er ausgegangen war. Der Obermaschinist drängte sich dicht an ihn heran und raunte hart bei seinem Kopf, als ob er ihn ins Ohr beißen wollte:

»Dummkopf! Glauben Sie denn, daß Sie noch die leiseste Aussicht haben, wenn erst einmal diese ganze Rotte da im Wasser ist? Was denn – die werden Ihnen von diesen Booten aus den Schädel einschlagen.«

Er rang die Hände, von Jim unbeachtet. Der Kapitän trippelte angstvoll auf demselben Fleck herum und stammelte: »Ein Hammer! Ein Hammer! Mein Gott! Holt einen Hammer!«

Der Zweite Maschinist winselte wie ein kleines Kind, aber trotz seinem gebrochenen Arm zeigte er sich als der wenigst Feigherzige von allen und brachte soviel Mut auf, in den Maschinenraum zu laufen. Man muß ihm zugestehen, daß es keine Kleinigkeit war. Jim sagte, er habe verzweifelte Blicke umhergeschleudert, wie einer, der sich verloren gibt, habe einen dumpfen Klagelaut ausgestoßen und sei fortgestürzt. Er war sofort wieder da und flog mit dem Hammer in der Hand im Nu auf den Schließbolzen los. Die andern ließen Jim stehen und eilten zur Hilfe. Er hörte den Schlag des Hammers und den Ton der herunterfallenden Bootsklampen. Das Boot war klar. Erst dann blickte er auf – erst dann. Aber er hielt sich in angemessener Entfernung. Ich sollte beachten, daß er sich in angemessener Entfernung hielt, daß er mit den Männern, die den Hammer hatten, nichts gemein hatte. Durchaus nichts. Es kann nicht bestritten werden, daß er sich durch einen unermeßlichen Abstand, ein unüberwindliches Hindernis, eine nicht zu überbrückende Kluft von ihnen abgeschnitten wähnte. Er war so weit wie möglich – die ganze Breite des Schiffs – von ihnen entfernt.

Seine Füße waren an diesen entlegenen Fleck und seine Augen auf die undeutliche Gruppe geheftet, die eng zusammengedrängt stand und in der gemeinsamen Todesangst seltsam hin und her schwankte. Eine Handlampe, die über einem kleinen Tisch auf der Kommandobrücke an einer Geländerstütze befestigt war – die Patna hatte keinen Navigationsraum –, warf ein schräges Licht auf die Schultern der Männer, die sich hoben und senkten, auf ihre gewölbten, bebenden Rücken. Sie stießen den Bug des Bootes ab, stießen ab, in die Nacht hinaus, und blickten nicht mehr nach Jim zurück. Sie gaben ihn auf, als wäre er wirklich zu weit, zu hoffnungslos weit von ihnen getrennt gewesen, um eines Worts, eines Blicks oder eines Zeichens wert zu sein. Sie hatten keine Zeit, auf sein stummes Heldentum zurückzublicken, die wortlose Anklage seiner Entsagung zu fühlen. Das Boot war schwer; sie mußten ihre ganze Kraft zusammennehmen und konnten keinen Atem für unnütze Worte erübrigen, aber das Übermaß von Entsetzen, das ihre Selbstbeherrschung wie Spreu im Winde zerstreut hatte, machte aus ihren verzweifelten Anstrengungen ein Possenspiel wie von Clowns in einer Pantomime. Sie stießen mit ihren Händen, mit ihren Köpfen, sie stießen mit der ganzen Wucht ihrer Leiber, sie stießen mit der ganzen Kraft ihrer Seelen – doch kaum war es ihnen gelungen, den Vordersteven vom Davit klar zu bekommen, da hörten sie wie auf Kommando auf, und es begann ein wüster Kampf um einen Platz im Boot. Als notwendige Folge schwang das Boot wieder ein und trieb sie hilflos und miteinander ringend zurück. Eine Weile standen sie wie gelähmt und taten nichts andres, als sich alle Schimpfwörter, auf die sie sich besinnen konnten, im Flüsterton an den Kopf zu werfen. Dann legten sie von neuem los. Dreimal ging dies so. Er beschrieb es mir mit finsterer Nachdenklichkeit. Es war ihm keine einzige Bewegung dieser komischen Szene entgangen. »Ich verachtete sie. Ich haßte sie. Ich mußte das alles mit ansehen«, sagte er ohne Nachdruck und wandte mir seinen düster beobachtenden Blick zu. ›Ist je ein Mensch so schändlich in Versuchung geführt worden?'«

Er legte einen Augenblick den Kopf in die Hände, wie einer, der über einen unerhörten Schimpf außer sich geraten ist. Das waren Dinge, die er dem Gerichtshof nicht erklären konnte – und nicht einmal mir; doch ich wäre wenig geeignet gewesen, seine Beichte entgegenzunehmen, hätte ich für Pausen zwischen seinen Worten kein Verständnis gehabt. In diesem Angriff auf seine Festigkeit lag die höhnische Absichtlichkeit einer boshaften, niedrigen Rache; dem Gottesgericht über ihn fehlte das Possenhafte nicht – die Schmach spaßhafter Grimassen angesichts des Todes oder der Entehrung.

Er berichtete Tatsachen, die ich nicht vergessen habe, doch könnte ich nach dieser langen Zeit nicht seine eigenen Worte wiedergeben; ich erinnere mich nur, daß er es sehr gut verstand, seinen tiefen Groll durch die nackte Erzählung der Ereignisse durchscheinen zu lassen. Zweimal, sagte er mir, schloß er die Augen in der Gewißheit, daß das Ende da war, und zweimal mußte er sie wieder öffnen. Jedesmal bemerkte er das Wachsen der Finsternis und der großen Stille. Der Schatten der reglosen Wolke war vom Zenit auf das Schiff gefallen und schien jeden Laut seines wimmelnden Lebens ausgelöscht zu haben. Er konnte unter dem Sonnensegel keine Stimme mehr hören. Er sagte mir, daß jedesmal, wenn er die Augen schloß, ein Gedankenblitz ihm diese für den Tod zurechtgelegten Leiber wie mit grellem Tageslicht beleuchtete. Wenn er die Augen öffnete, sah er den blöden Kampf der vier Männer, die wie besessen gegen ein störrisches Boot angingen. Sie fielen einmal ums andere zurück, überschütteten sich gegenseitig mit Flüchen und stürmten im Knäuel aufs neue los – – –. »Es war zum Totlachen«, meinte er mit niedergeschlagenen Augen; dann erhob er sie kurz, und ein trübes Lächeln verzog sein Gesicht. »Es wird mir zeitlebens nicht mehr an Kurzweil fehlen, denn ich werde dieses spaßige Schauspiel noch oft sehen, bevor ich sterbe«, sagte er. Er schlug die Augen wieder zu Boden. »Sehen und hören... Sehen und hören«, wiederholte er zweimal nach langen Pausen, während deren er ins Leere gestarrt hatte.

Er raffte sich auf.

»Ich wollte mit aller Gewalt die Augen geschlossen halten«, begann er wieder, »und es ging nicht. Es ging nicht, mag alle Welt es wissen. Das soll einer erst einmal durchmachen, bevor er redet. Es soll's einer probieren und besser machen. Das zweitemal flogen mir die Lider auf und der Mund dazu. Ich hatte gefühlt, wie das Schiff sich bewegte. Es tauchte nur eben den Bug ein – und hob ihn wieder sacht – und langsam! unglaublich langsam; und ganz, ganz wenig; seit Tagen hatte es das nicht getan. Die Wolke lagerte nun über unserm Scheitel, und es schien, als wäre dieser erste Ruck auf einem bleiernen Meer erfolgt. Was hätten Sie getan? Sie sind Ihrer sicher – nicht wahr? Was würden Sie tun, wenn Sie jetzt, in dieser Minute, fühlten, wie das Haus hier schwankt, ein ganz klein bißchen unter Ihrem Stuhle schwankt? Springen! Beim Himmel! Sie würden einen Sprung machen von dem Platz, wo Sie sitzen, und in dem Gebüsch dort unten landen.«

Er schleuderte seinen Arm über die Steinbalustrade in die Nacht hinaus. Ich verharrte in Schweigen. Er blickte mich sehr fest, sehr forschend an. Keine Frage: nun wurde ich gestellt; und ich hielt es für zweckmäßig, nicht zu mucken, um nicht etwa durch eine Gebärde oder ein Wort ein Zugeständnis über meine Person zu machen, das auf den Fall hätte bezogen werden können. Ich hatte keine Lust, mich auf diese Brücke zu wagen. Vergeßt nicht, daß ich ihn vor mir hatte und daß er wirklich zu sehr unsersgleichen war, um nicht gefährlich zu sein. Doch wenn ihr es wissen wollt, so will ich nicht verschweigen, daß ich mit einem raschen Blick die Entfernung bis zu dem dichten Buschwerk inmitten des Rasens vor der Veranda abmaß. Er übertrieb. Ich würde um mehrere Fußlängen vorher gelandet sein – und das ist das einzige, dessen ich ziemlich sicher bin.

Er dachte, der letzte Augenblick sei gekommen und regte sich nicht. Seine Füße waren an die Planken geheftet, wenn sich auch die Gedanken zügellos in seinem Kopf jagten. Gerade in diesem Moment sah er einen der Männer, die um das Boot herum waren, plötzlich zurücktreten, mit erhobenen Armen in die Luft greifen, taumeln und zusammensinken. Er fiel nicht eigentlich hin, er glitt nur sacht in eine sitzende Stellung, ganz zusammengeduckt, die Schultern an das Oberlicht des Maschinenraums gelehnt. »Es war der Donkeymann. Ein hagerer, käsig aussehender Bursche mit zottigem Schnurrbart. Tat Dienst als Dritter Maschinist«, erklärte er.

»Tot«, sagte ich. Wir hatten etwas davon bei Gericht gehört.

»Scheint so«, versetzte er mit düsterer Gleichgültigkeit. »Natürlich erfuhr ich niemals Genaues. Schwaches Herz. Der Mann hatte schon vor längerer Zeit geklagt, daß er nicht recht auf dem Damm sei. Aufregung. Überanstrengung. Weiß der Teufel. Ha! Ha! Ha! Es war leicht zu sehen, daß er auch nicht hatte sterben wollen. Drollig, nicht? Hol' mich der Henker, wenn er nicht genarrt wurde, sich zu Tode zu rackern. Genarrt – nichts anderes. Genarrt, sage ich, gerade so wie ich... Ah! Hätte er sich doch bloß nicht vom Fleck gerührt! Hätte er ihnen gesagt, sie sollten sich zum Teufel scheren, als sie ihn aus seiner Koje holen kamen, weil das Schiff am Sinken war. Wäre er nur mit den Händen in den Taschen dabei stehengeblieben und hätte ihnen Schimpfnamen an den Kopf geworfen!«

Er stand auf, ballte die Faust, stierte mich an und setzte sich wieder.

»Eine versäumte Gelegenheit, was?« murmelte ich.

»Warum lachen Sie nicht?« sagte er. »Ein Spaß, in der Hölle ausgeheckt. Schwaches Herz!... Ich wünsche manchmal, mir wär' es so gegangen.«

Dies verdroß mich. »Wirklich?« rief ich mit bitterem Spott. – »Ja! Können Sie denn nicht begreifen?« war seine Antwort. – »Ich weiß nicht, was Sie noch mehr wünschen können«, sagte ich ärgerlich. Er blickte mich völlig verständnislos an. Dieses Geschoß war ebenfalls weit vom Ziel abgeirrt, und er war nicht der Mann, sich um fehlgegangene Pfeile zu kümmern. Weiß Gott, er war allzu vertrauensselig; er war kein waidgerechtes Wild. Ich war froh, daß mein Geschoß nicht getroffen, daß er nicht einmal das Schnellen der Sehne gehört hatte.

Natürlich konnte er damals nicht wissen, daß der Mann tot war. Die nächste Minute – seine letzte an Bord – war von einem Tumult von Ereignissen und Empfindungen erfüllt, die über ihm zusammenschlugen, wie das Meer über einem Felsen. Ich gebrauche dieses Gleichnis absichtlich, weil ich aus seiner Erzählung schließen muß, daß er sich ein seltsames Trugbild der eigenen Untätigkeit bewahrt hatte, als hätte er nicht gehandelt, sondern sich von den höllischen Mächten, die ihn zum Opfer ihres sinnlosen Treibens ausersehen hatten, mißbrauchen lassen. Das erste, was zu ihm drang, war das Kreischen der schweren Davits, die endlich ausschwangen – ein Mißklang, der vom Deck durch seine Fußsohlen in seinen Körper drang und ihm das Rückenmark hinauf bis an den Scheitel fuhr. Dann, da die Sturmwolke schon ganz nahe war, hob sich der träge Schiffskörper zum zweitenmal in einem drohenden Stampfen, das ihm den Atem nahm, während Hirn und Herz zugleich von gellendem Geschrei wie von Dolchen durchbohrt wurden. – »Werft los! Um Gottes willen, werft los! Werft los! Wir sinken!« Hierauf surrten die Bootstakel über die Rollen, und ein wirres Durcheinander von Stimmen erscholl unter dem Sonnensegel. »Als die Kerle losbrachen, hätte ihr Geheul die Toten erwecken können«, sagte er. Hernach, als das Boot mit einem klatschenden Schlag buchstäblich ins Wasser gefallen war, drangen dumpfe Geräusche von trampelnden, stolpernden Füßen herauf, untermischt mit verworrenem Geschrei: »Aushaken! Aushaken! Abstoßen! Aushaken! Stoßt ab, so lieb euch euer Leben ist! Die Bö kommt über uns...« Er hörte hoch über seinem Kopf das schwache Rauschen des Windes; er hörte unten zu seinen Füßen einen Schmerzensschrei. Eine verlorene Stimme längsseit fluchte über einen Wirbelhaken. Das Schiff begann vorn und achtern wie ein aufgescheuchter Bienenstock zu summen, und ruhig, wie er mir all dies erzählte – denn er war gerade da in Haltung, Miene, Stimme sehr ruhig –, ohne die leiseste Vorbereitung sozusagen, kamen die Worte: »Ich stolperte über seine Beine.«

Hieraus entnahm ich erst, daß er sich überhaupt vom Fleck gerührt hatte. Ich konnte ein überraschtes Knurren nicht unterdrücken. Etwas hatte ihn schließlich in Bewegung gebracht, aber von dem genauen Zeitpunkt, in dem es sich zutrug, von der Ursache, die ihn aus seiner Unbeweglichkeit herausriß, wußte er nicht mehr, als der entwurzelte Baum von dem Wind weiß, der ihn aus der Erde hebt. All dies war an ihn herangekommen: die Töne, die Bilder, die Beine des toten Mannes – wahrhaftig! Er hatte grausam zu würgen an diesem höllischen Spaß, aber er wollte nicht zugeben, daß er durch Schluckbewegungen nachgeholfen hatte. Es ist erstaunlich, wie er einem seinen Selbstbetrug aufzwingen konnte. Ich hörte zu, als hätte er mir von einem Kunststück schwarzer Magie an einem Leichnam erzählt.

»Er glitt auf die Seite, ganz sacht, und das war das letzte, was ich an Bord sah«, fuhr er fort. »Es war mir gleich, was er tat. Es sah aus, als wollte er aufstehn: ich glaubte natürlich, er würde aufstehn; ich erwartete, daß er an mir vorbei über die Reling wegschießen und den andern nach in das Boot fallen würde. Ich konnte hören, wie sie da unten rumorten, und eine Stimme rief, wie aus einem Schacht herauf: ›Georg!‹ Dann stießen drei Stimmen vereint einen gellenden Schrei aus. Ich unterschied sie deutlich: die eine blökte, die andere kreischte, die dritte heulte. Uch!«

Er fröstelte ein wenig, und ich sah, wie er sich langsam erhob, als hätte ihn eine sichere Hand von oben an den Haaren aus seinem Stuhl gezogen. Langsam in die Höhe – zu seiner ganzen Länge, und als er steif aufgerichtet war, ließ ihn die Hand los, und er schwankte ein bißchen auf seinen Füßen. Sein Gesicht, seine Bewegungen, ja selbst seine Stimme, als er sagte: »sie schrien«, erweckten so sehr den Eindruck schrecklicher Stille, daß ich unwillkürlich die Ohren spitzte, um den wiedererwachten Schrei zu hören, der durch die vorgetäuschte Stille vernehmbar werden mußte. »Es waren achthundert Menschen auf dem Schiff«, sagte er und nagelte mich mit einem schrecklichen, stieren Blick in meinem Stuhl fest. »Achthundert lebende Menschen, und sie wollten den einen toten Mann herunter haben und retten. ›Spring, Georg! Spring! Oh, spring doch!‹ Ich stand daneben, die Hand auf dem Davit. Ich war sehr ruhig. Die Dunkelheit war pechschwarz geworden. Weder Himmel noch Wasser waren zu sehen. Ich hörte das Boot längsseit anschlagen, bump, bump, sonst war für eine Weile alles still da unten, doch in dem Schiff unter mir erscholl ein Durcheinander von Stimmen. Plötzlich brüllte der Kapitän: ›Mein Gott! Die Bö! Die Bö! Stoßt ab!‹ Beim ersten Regenschauer und dem ersten Windstoß schrien sie noch einmal: ›Spring, Georg! Wir fangen dich auf! Spring!‹ Das Schiff begann langsam zu tauchen; der Regen fegte darüber hin wie eine Sturzsee, die Mütze flog mir vom Kopf, der Atem blieb mir in der Kehle stecken. Ich hörte tief unter mir, als hätte ich auf der Spitze eines Turms gestanden, noch einen wilden Zuruf: ›Ge – ooorg ! Spring!‹ Das Schiff sank unter mir tief, tief, vornüber...«

Er hob die Hand bedächtig ans Gesicht, zupfte mit den Fingern daran herum, als wollte er Spinnweben entfernen, und blickte hernach eine ganze Weile in seine offene Hand, ehe er hervorstieß:

»Ich war gesprungen...« Er stockte, wendete den Blick ab... »So scheint es«, fügte er hinzu.

Seine klaren Augen richteten sich mit einem flehenden Ausdruck auf mich, und wie ich ihn so vor mir stehen sah, verwirrt und mit zuckenden Lippen, überkam mich ein wehmütiges Gefühl abgeklärter Weisheit, untermischt mit dem humorvollen, innigen Mitleid eines alten Mannes vor einem kindlichen Mißgeschick.

»Sieht ganz so aus«, murmelte ich.

»Ich wußte nichts davon, bis ich aufsah«, fiel er hastig ein. Und das ist wohl möglich. Man mußte ihm zuhören wie einem kleinen Jungen, der etwas angestellt hat. Er wußte nicht. Es war irgendwie geschehen. Es würde nie wieder geschehen. Er war auf einen der Insassen und über eine Rojebank gefallen und hatte ein Gefühl, als ob er alle Rippen auf der linken Seite gebrochen hätte; dann wälzte er sich herum und sah das Schiff, das er im Stich gelassen hatte, undeutlich über sich in die Höhe ragen. Das rote Seitenlicht schimmerte groß durch den Regen, wie ein von Nebel umschleiertes Feuer auf einem Berg. »Es schien höher als eine Mauer; es erhob sich wie ein Felsenriff über dem Boot... Ich wollte, ich könnte sterben«, rief er. »Es gab kein Zurück. Es war, als ob ich in einen Brunnen gesprungen wäre – in einen bodenlosen Abgrund...«


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