Joseph Conrad
Lord Jim
Joseph Conrad

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreissigstes Kapitel

Er sagte mir ferner, daß er nicht wußte, was ihn zum Bleiben bewog – aber wir können es natürlich erraten. Er hatte tiefes Mitgefühl für das schutzlose Mädchen, das dem »gemeinen, feigen Schurken« ausgeliefert war. Es scheint, daß Cornelius ihr das Leben zur Hölle machte und nur vor tätlicher Mißhandlung zurückschreckte, weil ihm der Mut dazu fehlte, nehme ich an. Er bestand darauf, daß sie ihn Vater nannte – »und zwar mit Respekt – mit Respekt«, pflegte er zu schreien und ihr seine kleine gelbe Faust vors Gesicht zu halten. »Ich bin ein respektabler Mann, und was bist du? Sag' mir, was bist du? Du denkst, ich werde eines andern Kind aufziehen und mich ohne Respekt behandeln lassen? Du solltest froh sein, daß ich es dir erlaube. Sag': Ja, Vater‹... Nein? Na, warte.« Hierauf fing er an, auf die tote Frau zu schimpf en, bis das Mädchen, sich den Kopf haltend, davonlief. Er verfolgte sie, flog hinein und heraus, um das Haus herum und zwischen den Schuppen hindurch, trieb sie in eine Ecke, wo sie auf die Knie fiel und sich die Ohren zuhielt; dann stand er in einiger Entfernung und warf ihr eine halbe Stunde lang ununterbrochen schmutzige Beschuldigungen an den Kopf. »Deine Mutter war ein Teufel, ein falscher Teufel – und du bist ebenfalls ein Teufel«, schrie er dann endlich in einem letzten Ausbruch, nahm ein Stück trockene Erde oder eine Handvoll Schmutz (es fehlte nicht an Schmutz rings um das ganze Haus) und schleuderte ihn ihr ins Haar. Manchmal jedoch bot sie ihm Trotz, stand ihm mit finsteren, zusammengezogenen Brauen ruhig gegenüber und entgegnete nur ab und zu ein Wort, das den andern vor Wut tanzen und schäumen ließ. Jim sagte mir, diese Szenen seien schrecklich gewesen. Es war in der Tat merkwürdig genug, in einer Wildnis auf derartiges zu stoßen. Bedenkt doch, wie aufreibend die ausgesucht grausame Lage wirken mußte, deren Ende nicht abzusehen war. Der achtbare Cornelius (Inchi Nelyus nannten ihn mit einer vielsagenden Grimasse die Malaien) war ein bitter enttäuschter Mann. Ich weiß nicht, was er erwartet hatte, das in Anbetracht seiner Heirat für ihn getan werden würde; aber offenbar schien ihm die Freiheit, zu stehlen, zu unterschlagen und sich auf dem ihm bequemsten Wege die Waren der Firma Stein anzueignen (Stein setzte die Lieferungen so lange unentwegt fort, wie seine Schiffskapitäne sie ihm mitnahmen), kein genügender Gegenwert für das Opfer seines ehrlichen Namens. Jim wäre es eine Wonne gewesen, Cornelius halbtot zu prügeln; andrerseits waren die Szenen so peinvoll, so scheußlich, daß er sich meistens gedrängt fühlte, außer Hörweite zu kommen, um des Mädchens Gefühle zu schonen. Sie blieb immer zitternd vor Erregung, sprachlos zurück und griff sich ab und zu mit steinernem, verzweifeltem Ausdruck an die Brust. Dann kam Jim wohl wieder und suchte sie zu beruhigen: »Kommen Sie – was hilft es – essen Sie eine Kleinigkeit« – oder gab ihr sonst ein Zeichen der Teilnahme. Cornelius schlich fortgesetzt herum, durch die Türen, über die Veranda und wieder zurück, stumm wie ein Fisch und mit bösartigen, heimtückischen, mißtrauischen Blicken. »Ich kann ihm das Spiel verleiden«, sagte Jim einmal zu ihr. »Sie brauchen nur ein Wort zu sagen.« Und wißt ihr, was sie antwortete? Sie sagte – erzählte Jim mir mit Nachdruck –, daß, wenn sie nicht wüßte, wie furchtbar unglücklich er selber sei, sie den Mut finden würde, ihn mit ihren eigenen Händen zu töten. »Denken Sie nur! Das arme Ding, fast noch ein Kind – und war dazu gebracht worden, solche Reden zu führen«, rief er entsetzt. Es schien unmöglich, sie zu retten – nicht nur vor dem gemeinen Schurken, sondern auch vor sich selbst. Nicht daß er sie so sehr bemitleidet hätte! Es war mehr als Mitleid; es war, als hätte er etwas auf dem Gewissen, solange dieses Leben fortdauerte. Das Haus zu verlassen, wäre ihm wie feige Fahnenflucht erschienen. Er hatte schließlich begriffen, daß von einem längeren Aufenthalt nichts zu erwarten war, weder Abrechnungen noch Geld, noch irgendeine Wahrheit, und doch blieb er und brachte Cornelius dadurch an den Rand, ich will nicht sagen des Wahnsinns, doch beinahe des Mutes. Mittlerweile fühlte er, wie sich dunkel allerhand Gefahren um ihn zusammenzogen. Doramin hatte zweimal einen zuverlässigen Diener zu ihm gesandt, um ihn allen Ernstes wissen zu lassen, daß er nichts für seine Sicherheit tun könne, wenn er nicht wieder über den Fluß setzen und wie zuerst unter den Bugis leben wolle. Leute jeden Standes suchten ihn, häufig in der Stille der Nacht, auf, um ihm Anschläge auf sein Leben zu enthüllen. Er sollte vergiftet werden. Man wollte ihn im Badehaus erdolchen. Es waren Anordnungen getroffen, ihn von einem Boot auf dem Fluß aus zu erschießen. Jeder dieser Angeber behauptete, ihm gut Freund zu sein. Es war genug – sagte er mir –, um einem für immer die Ruhe zu rauben. Etwas Derartiges war natürlich sehr möglich – nein, wahrscheinlich –, aber die lügenhaften Warnungen gaben ihm nur das Gefühl, daß rings um ihn, auf allen Seiten, im Dunkeln, ein fieberhaftes Ränkeschmieden vor sich ging. Nichts hätte besser darauf berechnet sein können, auch die besten Nerven zu zerrütten. Schließlich, eines Nachts, enthüllte Cornelius selbst, mit einem großen Aufwand an Besorgnis und Heimlichtuerei, in feierlich kriecherischen Tönen, einen kleinen Plan, wonach er – Cornelius – für hundert oder selbst nur für achtzig Dollar – sagen wir für achtzig – einen vertrauenswürdigen Mann herbeischaffen würde, der Jim in aller Sicherheit aus dem Bereich des Flusses schmuggeln sollte. Anders ließe es sich nicht machen, wenn Jim das geringste an seinem Leben gelegen sei. Was sind achtzig Dollar? Eine Kleinigkeit. Eine unbedeutende Summe. Während er, Cornelius, der zurückbleiben mußte, sich durch seine Ergebenheit für Herrn Steins jungen Freund unweigerlich der größten Lebensgefahr aussetzte. Der Anblick seines widerlichen Gesichterschneidens – sagte Jim – war schwer zu ertragen: er raufte sich das Haar, schlug sich an die Brust, wiegte sich hin und her, während er sich mit den Händen den Bauch hielt, und tat buchstäblich so, als ob er Tränen vergösse. »Ihr Blut komme über Ihr eigenes Haupt«, quäkte er zuletzt und stürzte hinaus. Es wäre nicht ohne Reiz, zu untersuchen, inwieweit Cornelius bei diesem Spiel aufrichtig war. Jim gestand mir, daß er kein Auge zutat, nachdem der Kerl fort war. Er lag auf einer dünnen, über den Bambusfußboden gebreiteten Matte auf dem Rücken und bemühte sich, unter dem zerrissenen Strohdach, wo es beständig raschelte, die nackten Sparren zu erkennen. Ein Stern blinkte plötzlich durch ein Loch im Dach. Der Kopf wirbelte ihm; doch war es in dieser selben Nacht, daß sein Plan für die Überrumpelung Scherif Alis reifte. Er hatte in jedem Augenblick, der nicht der hoffnungslosen Nachforschung nach Steins Nutzanteil gewidmet gewesen war, darüber nachgedacht, aber der Einfall, sagte er, kam ihm ganz plötzlich. Er konnte, sozusagen, die Geschütze auf dem Gipfel des Berges aufgestellt sehen. Er geriet in fieberhafte Erregung, wie er so dalag. An Schlaf war gar nicht zu denken. Er sprang auf und ging barfuß auf die Veranda hinaus. Mit einmal stieß er beim leisen Auf- und Niederschreiten auf das Mädchen, das reglos, wie auf der Lauer, an die Wand gelehnt stand. In seiner damaligen Gemütsverfassung überraschte es ihn nicht, sie auf zu sehen, noch sie in ängstlichem Geflüster fragen zu hören, wo Cornelius sein könne. Er sagte einfach, er wüßte es nicht. Sie stöhnte leise und spähte in den Campong. Alles war still. Er war ganz von seiner neuen Idee besessen und so voll davon, daß er sich nicht enthalten konnte, dem Mädchen sofort alles zu sagen. Sie hörte zu, schlug leicht die Hände zusammen, sprach flüsternd ihre Bewunderung aus, war indessen offenbar die ganze Zeit gespannt auf der Hut. Es scheint, er war daran gewöhnt, sie zu seiner Vertrauten zu machen – und daß sie ihrerseits ihm eine ganze Menge nützlicher Winke bezüglich der Patusaner Verhältnisse geben konnte und gab, unterliegt keinem Zweifel. Er versicherte mir mehr als einmal, daß ihr Rat ihm immer sehr zustatten gekommen sei. Kurzum, er war mitten darin, ihr auf der Stelle seinen Plan zu unterbreiten, als sie mit einmal seinen Arm drückte und dann von seiner Seite verschwand. – Zu gleicher Zeit tauchte Cornelius von irgendwo auf, und als er Jim bemerkte, duckte er sich nach der Seite, als wäre er beschossen worden, und hielt sich hernach mäuschenstill im Dunkeln. Am Ende kam er wie eine argwöhnische Katze vorsichtig heraus. »Es waren einige Fischer da— mit Fischen«, sagte er mit zitternder Stimme. »Um Fische zu verkaufen... Sie verstehen«... Es muß etwa zwei Uhr morgens gewesen sein – sehr wahrscheinlich, daß um diese Zeit jemand Fische feilbot!

Jim jedoch ließ diese Behauptung durchgehen und dachte keinen Augenblick darüber nach. Andere Dinge beschäftigten ihn; er hatte weder etwas gesehen noch gehört. Er begnügte sich damit, zerstreut »Oh!« zu sagen, nahm aus einem Krug, der dastand, einen Schluck Wasser und ging wieder hinein, um sich wieder auf seine Matte zu legen, während Cornelius in einer unbegreiflichen Erregung zurückblieb und sogar mit beiden Armen das wurmstichige Geländer der Veranda umklammerte, als ob ihm die Beine versagten. Mit einmal hörte Jim heimliche Fußtritte. Sie stockten. Eine Stimme raunte zitternd durch die Wand: »Schlafen Sie?« – »Nein! Was gibt's?« antwortete er kurz, und draußen gab es eine hastige Bewegung, als wäre der Sprecher erschreckt worden. Höchst ärgerlich hierüber, stürmte Jim hinaus, und Cornelius floh mit einem schwachen Aufschrei durch die Veranda bis zur Treppe, wo er am zerbrochenen Geländer hängenblieb. Ziemlich verblüfft, rief ihm Jim aus der Entfernung zu, was zum Teufel er wolle. »Haben Sie erwogen, was ich Ihnen vorgeschlagen habe?« fragte Cornelius, jedes Wort mühsam hervorstoßend, wie jemand, der einen Anfall von Schüttelfrost hat. – »Nein!« schrie Jim voll Wut. »Ich habe es nicht erwogen und habe nicht die Absicht, es zu tun. Ich werde hier in Patusan leben.« – »Sie werden h-h-hier st-st-ster-ben«, antwortete Cornelius mit klappernden Zähnen und wie erlöschender Stimme. Die ganze Szene war so blödsinnig und aufreizend, daß Jim nicht wußte, ob er lachen oder sich ärgern sollte. »Nicht, bevor ich Sie zum Teufel geschickt habe, seien Sie sicher«, schrie er wütend und dabei doch dem Lachen nahe. Immer noch halb im Spaß (ihr müßt wissen, er war von seinen eigenen Gedanken erregt) fuhr er fort: »Nichts kann mir was anhaben! Ihr könnt euer Ärgstes tun!« Irgendwie erschien ihm der schemenhafte Cornelius dort weit weg als die verhaßte Verkörperung aller Verdrießlichkeiten und Hindernisse, die er auf seinem Wege gefunden hatte. Er ließ sich gehen – seine Nerven waren seit Tagen überreizt – und warf ihm alle möglichen Namen an den Kopf – Schwindler, Lügner, trauriger Schuft – kurzum, er trieb es ziemlich arg. Er gibt selbst zu, daß er alle Grenzen überschritt – die Patusaner herausforderte, ihn in die Flucht zu jagen –, erklärte, sie sollten ihm alle nach seiner Pfeife tanzen lernen und so weiter, in drohendem, prahlerischem Ton. Vollkommen lächerlich und großtuerisch, sagte er. Er wurde noch in der Erinnerung bis über die Ohren rot. Er muß ganz aus dem Häuschen gewesen sein... Das Mädchen, das bei uns saß, nickte mir mit ihrem kleinen Köpfchen rasch zu, runzelte ein wenig die Stirn und sagte mit kindlichem Ernst: »Ich hörte ihn.« Er lachte und errötete noch mehr. Was ihn schließlich zum Schweigen brachte, sagte er, war die Stille, die völlige Totenstille der undeutlichen Gestalt dort drüben, die zusammengefallen, wie eingeknickt, in unheimlicher Starre über der Brüstung hing. Er kam wieder zu Sinnen, hielt plötzlich inne und wunderte sich höchlich über sich selbst. Er lauschte eine Weile. Keine Bewegung, kein Laut. »Gerade als ob der Kerl den Geist aufgegeben hätte, während ich so drauflos getobt hatte«, sagte er. Er schämte sich so sehr vor sich selbst, daß er eiligst ohne ein Wort hineinging und sich wieder auf den Boden warf. Das Toben schien ihm jedoch gutgetan zu haben, denn er schlief die ganze übrige Nacht wie ein Kind. Hatte seit Wochen nicht so geschlafen. »Aber ich schlief nicht«, fiel das Mädchen ein, das dabeisaß, das Gesicht mit der Hand stützend. »Ich wachte.« Ihre großen Augen blitzten, weit aufgerissen, und dann richtete sie sie fest auf mich.


 << zurück weiter >>