Joseph Conrad
Lord Jim
Joseph Conrad

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel

Das Gericht war offenbar derselben Ansicht. Die Verhandlung wurde nicht vertagt. Sie fand an dem festgesetzten Termin statt, damit dem Gesetz Genüge geschehe, und war, zweifellos um ihres menschlichen Interesses willen, gut besucht. Es herrschte keine Ungewißheit bezüglich der Tatsachen – bezüglich der einen wesentlichen Tatsache, meine ich. Wie die Patna zu der Havarie gekommen, war unmöglich festzustellen; und in dem ganzen Gerichtssaal war niemand, dem daran lag, es zu erfahren. Doch wie ich euch sagte, wer nur etwas mit der See zu tun hatte, war zugegen, und das ganze Küstengewerbe war vollzählig vertreten. Was die Leute hinführte, war, ob sie es wußten oder nicht, rein psychologische Neugier – die Erwartung, die menschlichen Leidenschaften in ihrer ganzen Gewalt und Abgründigkeit enthüllt zu sehen. Natürlich konnte nichts derart enthüllt werden. Das Verhör des einzigen Mannes, der imstande und willens war, sich ihm zu unterziehen, bewegte sich in nutzloser Weise um die eine wohlbekannte Tatsache, und das Fragenspiel, das darauf abzielte, gab nicht mehr Aufschluß, als wollte man mit dem Hammer auf einen eisernen Kasten klopfen, um zu erfahren, was darin ist. Ein amtliches Verhör konnte eben nicht anders sein. Es hatte nicht das grundlegende ›Warum‹, sondern das oberflächliche ›Wie‹ der Angelegenheit zum Gegenstand.

Der junge Bursche hätte Aufklärung geben können, doch obwohl es gerade das war, worauf die Zuhörer Wert legten, so führten ihn doch alle Fragen, die man ihm stellte, von der einzigen Wahrheit weg, die – mir zum Beispiel – wissenswert schien. Man kann von den bestallten Obrigkeiten nicht erwarten, daß sie nach dem Seelenzustand eines Menschen forschen – oder geht es etwa bloß um den Zustand seiner Leber? Ihre Aufgabe war, die Folgen zu ahnden; und, offen gesagt, irgendein Polizeirichter und zwei nautische Beisitzer taugen kaum zu sonst etwas. Ich will damit nicht sagen, daß diese Leute dumm waren. Der Polizeirichter war sehr geduldig. Einer der Beisitzer war ein Segelschiffskapitän mit einem rötlichen Bart und von gläubiger Gemütsart. Brierly war der andere. Der Große Brierly. Einige von euch müssen doch vom Großen Brierly gehört haben – dem Kapitän des Prachtschiffs von der Blue Star Line. Das ist der Mann.

Er schien nicht sehr erbaut von der Ehre, die ihm zuteil geworden war. Er hatte niemals in seinem Leben einen Fehler gemacht, nie einen Unfall gehabt, nie Pech, nie war ihm bei seinem stetigen Aufstieg etwas in die Quere gekommen, und er schien einer jener Glückspilze zu sein, die nichts von Unentschiedenheit, geschweige denn von Mißtrauen gegen das eigene Selbst wissen. Mit Zweiunddreißig hatte er eine der besten Kommandostellen in der östlichen Handelsflotte – und was die Hauptsache ist, er tat sich nicht wenig darauf zugute. Er bildete sich Gott weiß was darauf ein, und hätte man ihn, Hand aufs Herz, gefragt, dann hätte er wohl zugegeben, daß es seiner Meinung nach keinen zweiten solchen Kommandanten geben könne. Die Wahl war auf den rechten Mann gefallen. Die übrige Menschheit, die nicht den Stahldampfer Ossa von sechzehn Knoten Geschwindigkeit befehligte, war eigentlich sehr zu bedauern. Er hatte Menschen zur See das Leben gerettet, war Schiffen, die sich in Not befanden, zu Hilfe gekommen und hatte zum Dank für diese Dienste einen goldenen Chronometer von der Versicherungsgesellschaft und ein Marineglas mit passender Inschrift von irgendeiner fremden Regierung zum Geschenk erhalten. Er war sich seiner Verdienste und seiner Belohnungen voll bewußt. Ich konnte ihn recht gut leiden, obwohl ihn manche meiner Bekannten – milde, freundliche Leute sonst – in den Tod nicht ausstehen konnten. Ich habe nicht den leisesten Zweifel, daß er sich mir weitaus überlegen dünkte – ja, der Beherrscher beider Indien hätte sich in seiner Gegenwart klein fühlen müssen – doch ich brachte es nicht fertig, mich ernsthaft beleidigt zu fühlen. Er verachtete mich nicht wegen etwas, was ich tat oder was ich war – versteht ihr? Ich war ein Niemand – aus dem einfachen Grunde, weil ich nicht der bevorzugte Mann der Erde, Montague Brierly, Befehlshaber der Ossa, war und keinen gravierten goldenen Chronometer und kein silberbeschlagenes Marineglas mein eigen nannte, die meine seemännische Tüchtigkeit und meinen unbezähmbaren Mut beglaubigten; weil ich ferner nicht das klare Bewußtsein meines Wertes und auch keinen schwarzen Hühnerhund hatte, der mich liebte und anbetete und der nebenbei das prachtvollste Exemplar seiner Gattung war – ich glaube im Ernst, daß noch nie solch ein Herr so sehr von einem solchen Hund geliebt worden ist. Daß einem all dies fortwährend vor Augen gestellt wurde, konnte einen schließlich aufbringen; wenn ich aber bedachte, daß ich diese leidigen Nachteile mit zwölfhundert Millionen anderer, mehr oder weniger menschlicher Wesen teilte, so ließ ich mir sein gutmütiges, geringschätziges Mitleid um des Gewinnenden und Anziehenden willen, das sonst in seiner Persönlichkeit lag, gern gefallen. Ich habe mir dieses Anziehende in ihm niemals klargemacht, doch gab es Augenblicke, wo ich ihn beneidete. Der Stachel des Lebens konnte seiner selbstzufriedenen Seele nicht mehr anhaben als ein Nadelstich einer glatten Felswand. Dies war beneidenswert. Wie er da so neben dem bescheidenen, blassen Polizeirichter saß, der die Verhandlung leitete, erschien sein Selbstgefühl mir und den Zuschauern hart wie Granit. Bald nachher beging er Selbstmord.

Kein Wunder, daß Jims Fall ihm zu schaffen machte; und während ich beinah angstvoll die Größe seiner Verachtung für den jungen Mann, der unter Anklage stand, erwog, hielt er wahrscheinlich über seinen eigenen Fall Gericht ab. Das Urteil muß auf Schuldig ohne mildernde Umstände gelautet haben, und er nahm das Geheimnis dieses Schuldspruchs mit sich auf seinem Sprung in die See. Wenn ich etwas von Menschen verstehe, so war die Sache gewiß äußerst schwerwiegend, eine jener Geringfügigkeiten, die Ideen erwecken – einen Gedanken ins Leben rufen, mit dem es einer, der an solche Gesellschaft nicht gewöhnt ist, unmöglich findet, weiterzuleben. Ich kann mit Bestimmtheit sagen, daß weder Geld noch Trunksucht noch eine Frau die Ursache war. Er sprang über Bord, knapp eine Woche nach Schluß des Prozesses und nicht ganz drei Tage, nachdem er von jenem Hafen in See gegangen war, als hätte er genau an diesem Punkt inmitten des Meeres die Tore der anderen Welt zu seinem Empfang weit geöffnet gesehen.

Doch war es kein plötzlicher Entschluß. Sein grauköpfiger Deckoffizier, ein äußerst tüchtiger Seemann und Fremden gegenüber ein netter alter Knabe, doch im Verkehr mit seinem Kommandanten der knurrigste Brummbär, der mir je vorgekommen ist, pflegte die Geschichte mit Tränen in den Augen zu erzählen. Demnach muß Brierly, bevor er morgens auf Deck kam, im Navigationsraum Briefschaften erledigt haben. »Es war zehn Minuten vor vier, und die Mittelwache war natürlich noch nicht abgelöst. Er hörte, wie ich auf der Kommandobrücke mit dem Zweiten Offizier sprach, und rief mich herein. Ich ging ungern, Kapitän Marlow – es ist wahr, ich konnte den armen Kapitän Brierly nicht ausstehen, ich sage es mit Beschämung; wir wissen nie, aus welchem Holz ein Mann gemacht ist. Er war über zu viele Köpfe hinweg, abgesehen von meinem eigenen, befördert worden, und er hatte eine verdammte Art, einen die Untergebenheit fühlen zu lassen, wenn er auch nur ›Guten Morgen‹ sagte. Ich redete ihn nie an, es sei denn in Dienstsachen, und dann mußte ich mir immer Mühe geben, nicht unhöflich zu werden.« (Damit schmeichelte er sich. Ich hatte mich oft gewundert, wie Brierly sich sein Benehmen länger als die halbe Fahrt gefallen lassen konnte.) »Ich habe eine Frau und Kinder«, fuhr er fort, »und war zehn Jahre bei der Gesellschaft gewesen, immer in Erwartung des nächsten Kommandos – Narr, der ich war. Sagt er also, gerade so: ›Kommen Sie hier herein, Herr Jones‹, mit seiner großtuerischen Stimme – ›kommen Sie hier herein, Herr Jones.‹ Ich ging hinein. ›Wir wollen den Schiffsort feststellen‹, sagte er und beugte sich mit einem Zirkel in der Hand über die Karte. Nach der Dienstordnung hätte das der abgehende Wachoffizier zu Ende seiner Wache zu tun gehabt. Ich sagte aber nichts und sah zu, wie er den Schiffsort mit einem winzigen Kreuz bezeichnete und Zeit und Datum dazuschrieb. Ich kann ihn noch jetzt vor mir sehen, wie er seine sauberen Zahlen schrieb: siebzehn, acht, vier a. m. Die Jahreszahl stand mit roter Tinte oben auf der Karte. Er benutzte seine Karten nie länger als ein Jahr, der Kapitän Brierly. Ich habe die Karte jetzt noch. Wie er fertig ist, sieht er das Zeichen an, das er gemacht hat, lächelt vor sich hin und sieht mich dann an. ›Noch dreißig Meilen geradezu‹, sagte er, ›dann sind wir klar, und Sie können den Kurs zwanzig Grad nach Süden ändern.‹

Wir hielten uns auf dieser Reise im Norden der Hector Bank. Ich sagte: ›Jawohl, Herr Kapitän‹, und wunderte mich, was er hermachte, da ich ja sowieso den Kurs nicht ohne sein Beisein ändern konnte. Gerade da wurden acht Glasen geschlagen: wir traten auf die Brücke hinaus, und der Zweite sagt wie üblich, bevor er abgeht: ›Einundsiebzig auf dem Log.‹ Kapitän Brierly blickt auf den Kompaß und dann ringsumher. Es war dunkel und klar, und der Himmel so voller Sterne wie in einer Frostnacht unter hohen Breiten. Plötzlich sagt er wie mit einem kleinen Seufzer: ›Ich gehe achtern und stelle selbst für euch das Log auf Null, daß es keinen Irrtum geben kann. Zweiunddreißig Meilen weiter auf diesem Kurs, und ihr seid in Sicherheit. Halt mal – die Verbesserung auf dem Log ist sechs Prozent zu; sagen wir also dreißig nach dem Zeigerblatt, und ihr könnt sofort zwanzig Grad nach Steuerbord ändern. Es hat keinen Wert, Strecke zu verlieren, nicht wahr?‹ Ich hatte ihn nie so lange hintereinander und, wie es mir schien, zwecklos reden hören. Ich sagte gar nichts. Er ging die Treppe hinunter, und der Hund, der ihm Tag und Nacht, wohin er auch ging, auf den Fersen blieb, schlich mit tiefer Nase hinter ihm her. Ich hörte seine Absätze auf dem Hinterdeck, trapp, trapp, dann stand er still und sprach zu dem Hund: ›Zurück, Rover. Auf die Brücke, mein Sohn! Geh – vorwärts!‹ Dann rief er mir aus dem Dunkel zu: ›Sperren Sie den Hund in den Navigationsraum, Herr Jones, bitte!‹

Dies war das letzte, was ich von ihm hörte, Kapitän Marlow. Es waren die letzten Worte, die er in Hörweite eines menschlichen Wesens sprach.« Dabei wurde die Stimme des Alten ganz zitterig: »Er hatte Angst, das arme Tier würde ihm nachspringen, wissen Sie. Ja, Kapitän Marlow. Er stellte das Log für mich; er tat sogar – würden Sie es glauben? – einen Tropfen Öl hinein. Das Ölkännchen stand daneben, wie er es gelassen hatte. Der Bootsmannsmaat kam um halb sechs mit dem Schlauch achtern, um aufzuwaschen, plötzlich wirft er alles hin und kommt auf die Brücke gerannt: ›Wollen Sie, bitte, achtern kommen, Herr Jones‹, sagt er. ›Da ist ein komisches Ding. Ich mag's nicht anrühren.‹ Es war Kapitän Brierlys goldener Chronometer, sorgfältig an der Kette unter der Reling aufgehängt.

,Sobald ich den sah, ging mir ein Licht auf, und ich wußte alles, Kapitän. Die Beine versagten mir. Mir war, als hätte ich ihn über Bord gehen sehen; und ich konnte auch sagen, wie weit wir ihn zurückgelassen hatten. Das Heckbord-Log zeigte achtzehndreiviertel Meilen, und vier eiserne Belegpinnen fehlten um den Großmast. Wahrscheinlich hatte er sie in die Taschen gesteckt, damit sie ihm hinunterhelfen sollten; aber, mein Gott! was sind vier eiserne Bolzen für einen starken Mann wie Kapitän Brierly! Mag sein, daß sein Selbstvertrauen zuletzt ein bißchen erschüttert war. Ich glaube, es ist das einzige Zeichen von Verwirrung, das er in seinem ganzen Leben gegeben hat; aber ich stehe dafür, daß er, einmal über Bord, nicht den leisesten Schwimmversuch gemacht hat, ebenso wie er die Kraft gehabt hätte, sich auf die Möglichkeit der Rettung hin einen ganzen Tag über Wasser zu halten, wenn er zufällig hineingefallen wäre. Ja, Kapitän. Es war ihm keiner über – wie er selbst sagte; ich habe es einmal von ihm gehört. Er hatte während der Mittelwache zwei Briefe geschrieben, einen an die Gesellschaft und den andern an mich. Er gab mir eine Menge Anweisungen wegen der Überfahrt – ich war schon beim Handwerk gewesen, bevor er noch ausgelernt hatte – und alle möglichen Winke, wie ich mich zu unsern Leuten in Schanghai zu stellen hätte, damit ich das Kommando über die Ossa behielte. Er schrieb wie etwa ein Vater an einen Lieblingssohn, Kapitän Marlow, und ich war fünfundzwanzig Jahre älter als er und hatte Salzwasser gekostet, bevor er die ersten Hosen bekam. In seinem Brief an die Schiffsreeder – er war für mich offengelassen worden – sagte er, daß er bis zu diesem Augenblick immer seinen Pflichten gegen sie nachgekommen sei, und auch jetzt täusche er ihr Vertrauen nicht, denn er lasse das Schiff in der Obhut eines so erfahrenen Seemanns, wie man ihn nur finden könne – damit meinte er mich, Kapitän, meinte mich! Er sagte ihnen, daß, wenn der letzte Akt seines Lebens ihm nicht all sein Ansehen bei ihnen verscherzte, sie bei der Besetzung des Postens, den sein Tod leer ließe, meine treuen Dienste und seine warme Empfehlung in Anschlag bringen möchten. Und noch manches der Art. Ich konnte meinen Augen nicht trauen. Ich war ganz fassungslos‹, fuhr er erschüttert fort und zerdrückte etwas in seinem Augenwinkel mit seinem spatelförmigen Daumen. Man hätte meinen können, er sei über Bord gesprungen, bloß um so einem Unglücksmann eine letzte Gelegenheit zum Weiterkommen zu geben. Sein jäher Tod in Verbindung mit der Aussicht, ein gemachter Mann zu sein, brachte mich eine Woche lang ganz aus dem Häuschen. Aber keine Bange. Der Kapitän des Pelion wurde auf die Ossa versetzt, kam in Schanghai an Bord, ein kleiner Laffe in graukariertem Anzug, der das Haar in der Mitte gescheitelt trug. ›Äh – ich – äh – bin Ihr neuer Kapitän, Herr – Herr – äh – Jones.‹ Er war über und über parfümiert, stank fürchterlich danach, Kapitän Marlow. Es war wohl der Blick, den ich ihm zuwarf, der ihn zum Stottern brachte. Er stammelte etwas von meiner natürlichen Enttäuschung – ich solle nur gleich wissen, daß sein Erster Offizier die Beförderung auf dem Pelion bekommen habe – er hätte nichts damit zu tun natürlich – die Verwaltung wisse selbst am besten... täte ihm leid –. Drauf sage ich: ›Kümmern Sie sich nicht um den alten Jones, Herr; Teufel auch, er ist daran gewöhnt!‹ Ich konnte gleich sehen, daß ich sein zartes Ohr verletzt hatte, und während wir bei unserm ersten Frühstück beisammen saßen, fing er an, auf eine unangenehme Weise allerlei an dem Schiff auszusetzen. Er hatte eine Stimme wie aus dem Kasperletheater. Ich biß die Zähne zusammen, hielt die Augen fest auf meinen Teller geheftet und schwieg still, so lang ich konnte; schließlich mußte ich ja aber etwas sagen: da springt er auf die Zehen und schüttelt alle seine bunten Federn wie ein kleiner Streithahn: ›Sie sollen sehen, daß Sie es in mir mit einem andern Mann zu tun haben als mit dem verstorbenen Kapitän Brierly!‹ – ›Das sehe ich jetzt schon‹, brummte ich, gab dabei aber vor, mich angelegentlich mit meinem Kotelett zu beschäftigen. – ›Sie sind ein alter Grobian, Herr – äh – Jones; und mehr noch: Sie sind bei der Verwaltung als alter Grobian bekannt‹, schnarrt er. Die verdammten Flaschenspüler standen alle herum und horchten mit weit aufgerissenen Mäulern. – ›Mag schon sein, daß nicht viel an mir dran ist‹, versetzte ich, ›aber so weit ist es noch nicht mit mir gekommen, daß ich mit ansehen könnte, wie Sie in Kapitän Brierlys Stuhl sitzen!‹ Mit diesen Worten legte ich Messer und Gabel hin. – ›Sie möchten gern selbst darin sitzen, das ist's, wo der Schuh drückt‹, höhnte er. Ich verließ den Salon, raffte meine Siebensachen zusammen und stand auf dem Kai, mit all meinem Gepäck um mich herum, bevor die Stauer wieder angetreten waren. Ja. Ausgesetzt – auf dem trockenen – nach zehn Jahren Dienst – und mit einem armen Weib und vier Kindern sechstausend Meilen weit weg, die mit jedem Bissen, den sie in den Mund steckten, von meiner halben Löhnung abhingen. Ja. Ich wollte es lieber ausfressen, als Kapitän Brierly schmähen lassen. Er hinterließ mir sein Nachtfernrohr – hier ist es; und wollte, daß ich mich des Hundes annehme – da ist er. ›Hallo, Rover, armer Kerl, wo ist der Kapitän, Rover?'« Der Hund sah uns mit seinen traurigen gelben Augen an, bellte einmal klagend auf und kroch unter den Tisch.

Dies Gespräch wurde mehr als zwei Jahre später an Bord einer Schiffsruine, der Feuer-Königin, geführt, die diesem Jones anvertraut war. Er war auch nur durch einen komischen Zufall dazu gekommen – durch Matherson – sie nannten ihn gewöhnlich den verrückten Matherson –, den nämlichen, der sich vor der Besetzung in Haiphong aufhielt. Der Alte erzählte weiter:

»Ja, Herr, glauben Sie mir, hier wird Kapitän Brierlys Andenken fortleben, wenn auch sonst nirgends in der Welt. Ich schrieb seinem Vater ausführlich und bekam keine Silbe zur Antwort, weder Danke schön noch Scher' dich zum Teufel – nichts! Wahrscheinlich wollten sie nichts wissen.«

Der Anblick des alten Jones mit den wässerigen Augen, der sich mit einem roten Baumwolltaschentuch über den kahlen Kopf fuhr, das klägliche Geheul des Hundes, der fliegenbeschmutzte Raum als einziger Erinnerungsschrein für Kapitän Brierly breiteten den Schleier eines unsagbar gewöhnlichen Pathos über seine unvergessene Gestalt, gleichsam als eine späte Rache des Schicksals für den Glauben an die eigene Größe, der sein Leben beinahe um seine rechtmäßigen Schrecken betrogen hätte.

Beinahe! Vielleicht ganz. Wer weiß, in welch schmeichelhaftem Licht der eigene Selbstmord ihm vorgeschwebt haben mag?

»Haben Sie eine Idee, Kapitän Marlow, was ihn zu dem verzweifelten Schritt getrieben haben kann?« fragte Jones und preßte die Handflächen gegeneinander. »Warum? Es geht über meinen Horizont. Warum?« Er schlug sich gegen seine niedrige, runzelige Stirn. »Wenn er arm und alt und verschuldet – ohne alle Aussichten – meinetwegen auch verrückt gewesen wäre! Doch er war keiner von denen, die verrückt werden, beileibe nicht! Verlassen Sie sich auf mich! Was ein Offizier von seinem Kapitän nicht weiß, lohnt sich nicht zu wissen. Jung, gesund, reich, ohne Sorgen ... Ich sitze hier manchmal und denke nach, denke nach, bis mir der Schädel brummt. Er muß doch einen Grund gehabt haben.«

»Sie können sich darauf verlassen, Kapitän Jones«, sagte ich, »es war nichts, was uns beiden viel zu schaffen gemacht hätte.« Und dann, als ob ihm in der Wirrnis seines Kopfes plötzlich ein Licht aufgegangen wäre, fand der arme alte Jones noch zuletzt ein erstaunlich tiefsinniges Wort. Er schneuzte sich und nickte mir schmerzlich zu: »Ja, ja! Wir beide haben auch noch nie eine so hohe Meinung von uns gehabt.«

Die Erinnerung an meine letzte Unterhaltung mit Brierly ist nun freilich davon beeinflußt, daß ich die näheren Umstände seines bald darauf folgenden Endes erfahren habe. Ich sprach mit ihm zum letzten Male, während die Verhandlung noch im Gange war. Es geschah nach der ersten Vertagung, und er ging ein Stück Wegs mit mir. Er war in einem Zustand der Erregung, den ich mit Überraschung wahrnahm, da seine gewöhnliche Haltung, wenn er sich zum Plaudern herabließ, vollkommen kühl war, mit einer Spur belustigter Duldung, als ob die Existenz seines Partners eigentlich ein guter Spaß wäre. »Sie haben mich in diesen Prozeß hineingezogen, sehen Sie«, fing er an und erging sich eine Weile in Klagen über die Unannehmlichkeiten der täglichen Gerichtssitzungen. »Und der Himmel weiß, wie lang die Geschichte dauern wird. Drei Tage, wahrscheinlich.« Ich hörte ihn stillschweigend an; nach meiner damaligen Meinung war dies eine Art wie eine andre, Stellung zu nehmen. »Was hat es für einen Zweck?« fuhr er hitzig fort. »Es ist die blödeste Schaustellung, die sich denken läßt.« Ich warf ein, daß es keine Wahl gäbe. Er unterbrach mich mit verhaltener Heftigkeit. »Ich komme mir die ganze Zeit wie ein Narr vor.« Ich blickte zu ihm auf. Das ging sehr weit – für Brierly –, wenn er von Brierly sprach. Er blieb stehen und griff nach meinem Rockaufschlag, dem er einen leichten Ruck gab. »Warum quälen wir diesen jungen Menschen?« fragte er. Diese Frage stimmte so völlig mit einem gewissen Gedanken überein, den ich in meinem eigenen Kopf hin und her wälzte, daß ich sofort antwortete, während das Bild des flüchtigen Überläufers vor mir aufstieg: »Ich will gehängt sein, wenn ich einen Grund weiß, außer den, daß er sich dazu hergibt.« Ich war überrascht, ihn diesen Ausspruch, der doch eigentlich ziemlich dunkel war, sofort aufgreifen zu sehen. Er sagte ärgerlich: »Natürlich! Er sieht doch, daß der elende Schuft von Kapitän durchgebrannt ist. Was erwartet er denn? Nichts kann ihn retten. Er ist verloren.« Wir gingen schweigend ein paar Schritte weiter. »Wozu all den Schmutz fressen?« rief er mit orientalischer Energie des Ausdrucks – der einzigen Energie, von der man östlich vom fünfzigsten Meridian eine Spur finden kann. Ich wunderte mich sehr über die Richtung, die seine Gedanken nahmen, doch heute bin ich überzeugt, daß er ganz in seiner Rolle blieb: im Grunde muß der arme Brierly an sich selbst gedacht haben. Ich wies darauf hin, daß der Kapitän der Patna, wie allgemein bekannt, sein Schäfchen ins trockene gebracht hatte und sich nahezu überall die Mittel zum Auskneifen verschaffen konnte. Mit Jim war das anders. Die Regierung hatte ihn für den Augenblick im Seemannsheim untergebracht, und wahrscheinlich besaß er keinen blanken Heller. Es kostet Geld, sich aus dem Staube zu machen. – »Wirklich? Nicht immer«, sagte er mit einem bitteren Lachen, und dann, auf eine Bemerkung meinerseits: »Gut, dann mag er sich zwanzig Fuß unter der Erde vergraben und dort bleiben. Beim Himmel! Ich tät's.« Ich weiß nicht, warum sein Ton mich zum Widerspruch reizte, und ich sagte: »Es erfordert immerhin einen gewissen Mut, den Dingen in der Weise Trotz zu bieten, wie er es tut, wo er doch recht gut weiß, daß niemand sich die Mühe nehmen würde, ihm nachzulaufen, wenn er durchgehen wollte.« – »Zum Teufel mit dem Mut!« eiferte Brierly. »Die Art von Mut hilft keinem Mann, auf dem rechten Weg zu bleiben, und ich gebe keine Bohne für solchen Mut! Wenn Sie noch sagen wollten, es sei eine Art von Feigheit – von Weichheit! Ich will Ihnen einen Vorschlag machen: ich gebe zweihundert Rupien, wenn Sie hundert dazulegen und den Kerl veranlassen, morgen früh zeitig auszureißen. Der Bursch ist ein Gentleman, wenn man ihn auch nicht mehr anrühren mag – er wird es einsehen. Er muß! Diese verdammte Öffentlichkeit ist zu empörend: da sitzt er, während all das eingeborene Gesindel, die Serangs, Laskaren, die Steuermannsmaate, Zeugenaussagen machen, daß man dabei vor Scham zu Asche verbrennen könnte. Das ist widerwärtig. Sagen Sie, Marlow, finden Sie nicht, fühlen Sie nicht, daß das widerwärtig ist? Nicht? – Als Seemann? Wenn er fortginge, würde all das sofort aufhören.« Brierly sagte diese Worte mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit und machte Miene, nach seiner Brieftasche zu greifen. Ich tat ihm Einhalt und erklärte kühl, daß die Feigheit dieser vier Männer mir als keine Sache von so großer Tragweite erschiene. »Und Sie nennen sich einen Seemann, vermute ich«, sagte er aufgebracht. Ich erwiderte, daß ich mich allerdings einen solchen nennte und auch hoffte, einer zu sein. Er hörte mich zu Ende und machte mit seinem mächtigen Arm eine Gebärde, die mich meiner Persönlichkeit zu berauben, mich in die Menge der Namenlosen zu stoßen schien. »Das Schlimme ist«, sagte er, »daß ihr Kerle alle zusammen keine Würde habt; ihr denkt nicht hoch genug von dem, was ihr vorstellen solltet.«

Wir waren langsam weitergegangen und standen nun vor dem Hafenamt, nicht weit von der Stelle, von der aus der riesenhafte Kapitän der Patna wie eine Feder, die der Sturmwind davonträgt, sich verflüchtigt hatte. Ich lächelte. Brierly fuhr fort: »Es ist eine Schande. Wir haben allerlei Volk unter uns – sicher auch ausgefeimte Spitzbuben; aber, zum Henker, wir müssen die Berufsehre aufrechterhalten, oder wir sind nicht besser als die Kesselflicker, die in der Welt herumvagabundieren. Man setzt Vertrauen in uns. Verstehen Sie? – Vertrauen! Weiß Gott, ich kümmere mich keinen Pfifferling um all die Pilger, die je aus Asien kamen, – aber ein anständiger Mensch hätte sich nicht einmal gegen eine Ladung von Lumpenballen so benommen. Wir sind keine organisierte Körperschaft, und das einzige, was uns zusammenhält, ist eben gerade der Name für diese Art Anstand. Ein solcher Vorfall zerstört das Vertrauen. Es mag ja sein, daß einer während seiner ganzen Laufbahn zur See nicht in die Lage kommt, dem Tod fest ins Auge zu sehen. Kommt es aber dazu... Ah!... wenn ich...«

Er brach ab und sagte in verändertem Ton: »Ich will Ihnen nun zweihundert Rupien geben, Marlow, und Sie machen die Sache mit dem Burschen ab. Hol ihn der Teufel! Ich wollte, er wäre nicht hierher gekommen. Die Sache ist die, ich glaube, unsere Familien kennen einander. Sein alter Herr ist Geistlicher, und ich besinne mich jetzt, ich traf ihn einmal, als ich vergangenes Jahr bei meinen Verwandten in Essex war. Wenn ich nicht irre, war der Alte sehr stolz auf seinen Seemannssohn. Schrecklich. Ich kann es nicht selber tun, aber Sie...«

So bekam ich durch Jim einen Einblick in den wirklichen Brierly, wenige Tage bevor er seinen Schein und seine Wirklichkeit dem Meere in Gewahrsam gab. Selbstverständlich lehnte ich es ab, mich einzumischen. Der Ton dieses letzten »aber Sie« (der arme Brierly konnte nicht anders), das zu bedeuten schien, ich wäre ja kaum bemerkenswerter als irgendein Insekt – dies weckte meinen Unwillen über den Vorschlag; und angesichts dieser Herausforderung oder aus sonst einem Grunde kam ich zu dem Schluß, daß die Verhandlung eine schwere Strafe für diesen Jim und daß die Art, wie er sie freiwillig ertrug, ein mildernder Umstand in seinem abscheulichen Fall war. Vordem war ich dessen nicht so sicher gewesen. Brierly ging wütend weg. Damals war mir sein Gemütszustand ein größeres Geheimnis als jetzt.

Am folgenden Tag kam ich spät in die Gerichtssitzung und saß für mich allein. Natürlich konnte ich die Unterhaltung nicht vergessen, die ich mit Brierly gehabt hatte, und nun hatte ich sie beide vor Augen. Die Miene des einen ließ auf trotzige Schamlosigkeit, die des andern auf verachtungsvolle Langweile schließen; und doch mochte die eine Haltung nicht echter sein als die andre, und ich merkte wohl, daß die eine nicht echt war. Brierly war nicht gelangweilt – er war verzweifelt; und war dem so, dann brauchte Jim nicht schamlos zu sein. Nach meiner Theorie war er es nicht. Ich dachte mir, er sei aller Hoffnung bar. Damals geschah es, daß sich unsere Blicke trafen. Sie trafen sich, und der Blick, den er auf mich richtete, nahm mir allen Mut zu der Absicht (wenn ich sie je gehabt hatte), eine Unterredung mit ihm herbeizuführen. Welche Annahme auch zutraf – ob Schamlosigkeit oder Verzweiflung –, ich fühlte, daß ich ihm nicht helfen konnte. Es war der zweite Verhandlungstag. Sehr bald nach diesem Austausch von Blicken wurde die Verhandlung wiederum auf den folgenden Morgen vertagt. Die Weißen drängten sofort hinaus. Man hatte Jim schon vorher angewiesen, abzutreten, and so war er unter den ersten, die den Saal verließen. Ich sah seine breiten Schultern und seinen Kopf scharf umrissen in der Helligkeit der Türe, und während ich im Gespräch mit jemand – einem Fremden, der mich zufällig angeredet hatte – langsam dem Ausgang zuschritt, bemerkte ich ihn, wie er mit aufgestützten Ellbogen auf der Veranda stand und dem schmalen Menschenstrom, der sich über die paar Stufen ergoß, den Rücken zukehrte. Man hörte ein Gewirr von Stimmen und das Schlurren von Schuhen.

Der nächste Fall lautete auf tätliche Mißhandlung und Körperverletzung, begangen an einem Geldverleiher, glaube ich; und der Beklagte, ein ehrwürdiger Dorfbewohner mit gepflegtem weißem Bart, saß mit seinen Söhnen, Töchtern, Schwiegersöhnen und Schwiegertöchtern draußen vor der Tür auf einer Matte, und die halbe Bevölkerung des Dorfes stand schwatzend um ihn herum. Ein schlankes, dunkles Weib, den halben Rücken und die eine schwarze Schulter entblößt und mit einem dünnen goldenen Ring in der Nase, fing plötzlich in lautem, keifendem Ton zu reden an. Der Mann in meiner Begleitung blickte unwillkürlich nach ihr hin. Wir waren eben durch die Türe durch und gingen an Jims breitem Rücken vorbei.

Ob die Dörfler den gelben Hund mitgebracht hatten, weiß ich nicht. Doch so oder so, ein Hund war da, wand sich in der stummen, beharrlichen Weise, wie sie die Eingeborenenhunde an sich haben, zwischen den Beinen der Leute hindurch, und mein Begleiter stolperte über ihn. Der Hund sprang ohne Laut davon; der Mann erhob seine Stimme ein bißchen und sagte lachend: »Da seh' einer den verdammten Hund!« und gleich darauf wurden wir durch eine Schar hereinströmender Leute getrennt. Ich drückte mich einen Augenblick gegen die Wand, während der Fremde die Stufen hinuntergelangte und verschwand. Ich sah, wie Jim sich rasch umdrehte. Er tat einen Schritt vorwärts und versperrte mir den Weg. Wir waren allein. Er starrte mich an, mit einer Miene störrischer Entschlossenheit. Ich wurde gleichsam angefallen, wie im Wald. Die Veranda war leer. Der Lärm und das Aus- und Eingehen im Gerichtszimmer hatten aufgehört. Eine große Stille lag über dem Gebäude; nur irgendwo tief im Innern winselte ein klägliche orientalische Stimme. Der Hund, auf dem Sprung, sich durch die Türe einzuschleichen, setzte sich erst noch hin und flöhte sich.

»Sagten Sie etwas zu mir?« fragte Jim sehr leise und beugte sich vor, so daß er mich förmlich streifte. Ich sagte sofort: »Nein.« Etwas in dem ruhigen Klang seiner Worte riet mir, auf meiner Hut zu sein. Ich beobachtete ihn. Es war einem Überfall im Walde sehr ähnlich, nur ungewisser im Ausgang, da er es ja offenbar weder auf mein Geld noch auf mein Leben abgesehen haben konnte, auf nichts, was ich einfach hergeben oder mit gutem Gewissen verteidigen konnte. »Sie sagen nein«, sagte er sehr finster. »Doch ich hörte es.« – »Ein Irrtum«, beteuerte ich völlig unsicher und ohne den Blick von ihm zu lassen. Sein Gesicht war anzusehen wie der Himmel vor einem Gewitter; Schatten auf Schatten überziehen ihn unmerklich, die Dunkelheit wächst geheimnisvoll an in der Stille des nahenden Ausbruchs.

»Soviel ich weiß, habe ich in Ihrer Hörweite nicht den Mund aufgetan«, sagte ich ganz wahrheitsgemäß. Ich begann auch, über das Unsinnige dieser Begegnung etwas ärgerlich zu werden. Heute sehe ich ein, daß ich nie in meinem Leben so nah daran war, geschlagen zu werden – ich meine es wörtlich, mit Fäusten bearbeitet. Ich muß eine dunkle Ahnung davon gehabt haben, daß solche Möglichkeit in der Luft lag. Nicht, daß er mich bedroht hätte. Im Gegenteil, er schien seltsam passiv – versteht ihr? Aber er duckte sich, und obwohl nicht außergewöhnlich groß, sah er doch aus, als könnte er eine Wand einrennen. Was mich am ehesten beruhigen konnte, war sein bedächtiges, grüblerisches Zaudern, in dem ich die Wirkung der unverkennbaren Aufrichtigkeit meines Tons und Benehmens zu sehen meinte. Wir sahen einander an. Im Gerichtssaal wurde die Sache wegen der Körperverletzung verhandelt. Ich hörte die Worte: »Nun, Büffel, – Stock – in der Größe meiner Angst...«

»Was meinten Sie damit, daß Sie mich den ganzen Morgen anstarrten?« fragte Jim schließlich. Er sah auf und sah wieder zu Boden. – »Dachten Sie denn, wir würden aus Rücksicht auf Ihre Empfindlichkeit alle mit niedergeschlagenen Augen dasitzen?« entgegnete ich scharf. Ich war nicht gesonnen, mich von seinem absonderlichen Wesen einschüchtern zu lassen. Er erhob die Augen wieder und fuhr nun fort, mir gerade ins Gesicht zu sehen. »Nein. Das ist schon richtig«, sagte er mit einer Miene, als erwäge er bei sich selbst die Wahrheit dieser Erklärung – »das ist schon richtig. Ich komme schon drüber weg. Nur« – und nun sprach er ein wenig rascher –, »ich lasse mich von niemand außerhalb des Gerichtssaales beschimpfen. Sie waren da in Begleitung eines Mannes. Sie sprachen zu ihm – o ja –, ich weiß, es ist schon so. Sie sprachen zu ihm, aber Sie wollten, daß ich es hören sollte...«

Ich versicherte ihm, daß er in einer argen Täuschung befangen sei. Ich hatte keine Ahnung, wie das gekommen war. »Sie dachten wohl, ich würde das auf mir sitzen lassen, weil ich mich fürchte«, sagte er mit einem schwachen Anfing von Bitterkeit. Ich war so ganz bei der Sache, daß mir keine noch so leise Schattierung des Ausdrucks entging, aber ich sah durchaus nicht klar; und doch weiß ich nicht, was in diesen Worten oder nur in ihrem Klang mich plötzlich so umstimmte, daß ich ihm alle möglichen Zugeständnisse machte. Ich ärgerte mich nicht mehr über die unvermutete Standpauke. Es war irgendein Irrtum seinerseits, er verrannte sich, und ich hatte eine Ahnung, daß seine Verranntheit eine schlimme, heillose war. Ich hatte den dringenden Wunsch, dieser Szene aus Anstandsgefühl ein Ende zu machen, so wie man bestrebt ist, einem unerwünschten und widerwärtigen Herzenserguß Einhalt zu tun. Das Komische an der Sache war, daß ich inmitten dieser hochfliegenden Betrachtungen eine gewisse Angst nicht los wurde, diese Begegnung könnte in einen wüsten Streit ausarten, für den es keine Erklärung geben und der mich lächerlich machen würde. Ich hatte keinen Ehrgeiz, drei Tage lang dafür berühmt zu werden, daß ich vom Ersten Offizier der Patna ein blaues Auge oder etwas Ähnliches bezogen hatte. Ihm kam es wahrscheinlich nicht darauf an, was er tat, oder er würde sich in jedem Fall vor sich selbst vollkommen im Recht fühlen. Trotz seiner ruhigen, beinahe starren Art brauchte man kein Hellseher zu sein, um zu merken, daß er über irgend etwas furchtbar wütend war. Ich leugne nicht, daß ich den sehnlichen Wunsch hatte, ihn um jeden Preis zu besänftigen, hätte ich nur gewußt, was tun. Doch ich wußte es nicht, wie ihr euch leicht denken könnt. Es war eine Finsternis ohne Lichtschein. Wir standen uns etwa fünfzehn Sekunden lang schweigend gegenüber, dann trat er einen Schritt vor, und ich machte Anstalten, einen Streich abzuwehren, obwohl ich wohl kaum einen Muskel rührte. »Wenn Sie so groß wären wie zwei und so stark wie sechs«, sagte er sehr sanft, »so würde ich Ihnen doch sagen, was ich von Ihnen denke, Sie...« – »Halten Sie ein!« rief ich aus. Dies hemmte ihn einen Augenblick. »Bevor Sie mir sagen, was Sie von mir denken«, fuhr ich rasch fort, »wollen Sie mir freundlichst sagen, was ich gesagt oder getan habe?« In der Pause, die folgte, maß er mich mit einem entrüsteten Blick, während ich eine übermäßige Gedächtnisanstrengung versuchte und dabei durch die orientalische Stimme im Gerichtssaal gehindert wurde, die sich mit großer Zungenfertigkeit gegen den Vorwurf der Falschheit verteidigte. Dann sprachen wir fast gleichzeitig. »Ich werde Ihnen bald zeigen, daß ich mich nicht fürchte«, sagte er in einem Ton, der einen Ausbruch ankündigte. – »Ich erkläre Ihnen, daß ich nichts davon weiß«, beteuerte ich ernsthaft im selben Augenblick. Er erdrückte mich förmlich mit dem Hohn in seinem Blick. »Nun, da Sie sehen, daß ich mich nicht fürchte, wollen Sie sich aus der Klemme ziehen«, sagte er. »Wer ist nun ein Hund – he?« Da endlich verstand ich.

Er hatte mein Gesicht durchforscht, als wollte er sich eine Stelle aussuchen, wo er mir seine Faust hinsetzen könnte. »Ich erlaube keinem Mann...« murmelte er drohend. Es war wirklich ein häßlicher Irrtum, er hatte sich völlig preisgegeben. Ich kann euch gar nicht sagen, wie entsetzt ich war. Mein Gesicht muß wohl meine Empfindungen widergespiegelt haben, denn sein Ausdruck veränderte sich ein wenig. »Gott im Himmel«, stammelte ich, »Sie glauben doch nicht, daß ich...« »Aber ich weiß doch bestimmt, daß ich es hörte«, beharrte er und erhob, zum erstenmal seit dem Beginn dieser bedauerlichen Szene, die Stimme. Dann fügte er mit einer gewissen Geringschätzung hinzu: »Sie waren es also nicht? Nun gut, ich werde den andern finden!« – »Seien Sie kein Narr«, rief ich außer mir; »es war ja überhaupt ganz anders.« – »Ich hörte es«, sagte er noch einmal, mit unerschütterter, finsterer Beharrlichkeit.

Es mag sein, daß manche über seine Hartnäckigkeit gelacht hätten. Ich tat es nicht. Oh, ich nicht! Nie hatte sich ein Mann in einer jähen und natürlichen Aufwallung so hoffnungslos verraten. Ein einziges Wort hatte ihn seiner Besonnenheit beraubt – dieser Besonnenheit, die unserm innern Wesen notwendiger ist als die Kleidung unserem Körper. »Seien Sie kein Narr«, wiederholte ich. – »Aber der andere hat es gesagt, das können Sie nicht leugnen«, entgegnete er scharf und sah mir ins Gesicht, ohne mit der Wimper zu zucken. – »Nein, ich leugne es nicht«, sagte ich und erwiderte seinen Blick. Schließlich folgten seine Augen der Richtung meines nach unten deutenden Fingers. Er schien zuerst verständnislos, dann verwirrt und am Ende erstaunt und erschrocken, als ob ein Hund ein Ungeheuer wäre und er nie zuvor einen Hund gesehen hätte. »Niemand dachte im Traum daran, Sie zu beschimpfen«, sagte ich.

Er betrachtete das elende Tier, das reglos wie ein Bild dasaß: mit aufgestellten Ohren, die spitze Schnauze gegen die Tür gerichtet, schnappte es plötzlich, wie ein mechanisches Spielzeug, nach einer Fliege.

Ich sah ihn an. Das Rot seiner hellen, sonnverbrannten Haut wurde unter dem Backenflaum plötzlich tiefer, überzog seine Stirn und breitete sich bis zu den Wurzeln seines krausen Haares aus. Seine Ohren glühten, und selbst das klare Blau seiner Augen verdunkelte sich zusehends unter dem Andrang seines Blutes zum Kopf. Seine Lippen verzogen sich und zitterten, als wäre er im Begriff, in Tränen auszubrechen. Ich sah, daß er vor dem Übermaß seiner Beschämung nicht imstande war, ein Wort herauszubringen. Vielleicht auch vor Enttäuschung – wer kann es wissen? Vielleicht hatte er gehofft, sich durch den Denkzettel, den er mir zu geben gedacht hatte, rehabilitieren zu können, sich zu befreien? Wer kann sagen, welche Erleichterung er von der Möglichkeit solcher Züchtigung erwartet hatte? Er war naiv genug, alles zu erwarten; doch hatte er sich in diesem Fall für nichts und wieder nichts bloßgestellt. Er hatte sich – vor sich selbst – und noch dazu vor mir – gehen lassen, in der wilden Hoffnung, auf diese Weise zu einer wirksamen Widerlegung zu gelangen, und die Sterne waren ihm nicht günstig gewesen. Er gab einen unartikulierten Laut von sich, wie ein Mann, der von einem Schlag auf den Kopf betäubt worden ist. Es war zum Erbarmen.

Ich fing erst wieder mit ihm zu reden an, als wir ein gutes Stück vom Gartenzaun entfernt waren. Ich mußte sogar ein wenig laufen, um ihm nachzukommen; doch als ich, außer Atem, die Ansicht aussprach, daß er weglaufe, rief er: »Niemals!« und stellte sich sofort. Ich erklärte, daß ich gemeint hatte, er wolle vor mir ausreißen. – »Vor niemand – vor keinem einzigen Mann auf Erden«, sagte er mit trotziger Miene. Ich vermied es, auf die eine klar ersichtliche Ausnahme hinzuweisen, die auch der Tapferste unter uns gelten lassen würde; ich dachte, er würde selbst bald genug dahinterkommen. Er sah mich geduldig an, während ich mir überlegte, was ich sagen könnte; doch konnte ich in der Eile nichts finden, und er schickte sich an, weiterzugehen. Ich hielt Schritt mit ihm, und um ihn nicht zu verlieren, sagte ich hastig, daß ich es nicht ertragen könnte, ihm einen falschen Eindruck zu hinterlassen von meiner – meiner... Ich stammelte. Die Abgeschmacktheit des Satzes bestürzte mich, während ich versuchte, ihn zu Ende zu bringen; doch die Kraft des gesprochenen Worts hat nichts mit dem Sinn oder der Logik des Satzbaus zu tun. Mein idiotisches Gestammel schien ihm zu gefallen. Er unterbrach mich, indem er mit höflicher Ruhe, die von ungewöhnlicher Selbstbeherrschung oder seltener geistiger Spannkraft zeugte, einwarf: »Der Irrtum war ganz und gar auf meiner Seite.« Ich war höchlich verwundert über diese Redewendung: sie hätte sich auf irgendein unbedeutendes Vorkommnis beziehen können. Begriff er nicht ihre klägliche Bedeutung? »Verzeihen Sie mir nur«, fuhr er fort und fügte noch ein wenig mißmutig hinzu: »All die Leute, die mich da drin anstarrten, waren so albern, daß es wohl hätte so sein können, wie ich annahm.«

Dies ließ ihn mir plötzlich in einem neuen Lichte erscheinen. Ich sah ihn mit neugierigen Blicken an und begegnete seinen voll aufgeschlagenen, undurchdringlichen Augen. »Ich kann etwas Derartiges nicht einstecken, und ich will es auch nicht«, sagte er schlicht. »Vor Gericht ist es anders; da muß ich stillhalten – und da geht es auch.«

Ich behaupte nicht, daß ich ihn verstand. Die Einblicke, die er mir in sein Wesen gewährte, waren wie die flüchtigen Blicke durch die Risse in einem dicken Nebel, die Bruchstücke und Einzelheiten einer Gegend enthüllen, ohne ein zusammenhängendes Bild von ihrem allgemeinen Charakter zu geben. Sie erregen Neugierde, ohne sie zu befriedigen; sie haben keinen Wert für die Orientierung. Alles in allem genommen, führte er einen in die Irre. Das war der endgültige Eindruck, den ich von ihm behielt, als er mich spätabends verlassen hatte. Ich wohnte seit ein paar Tagen im Malabar-Haus, und auf meine dringende Einladung hatte er dort mit mir gespeist.


 << zurück weiter >>