Joseph Conrad
Lord Jim
Joseph Conrad

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Einundvierzigstes Kapitel

Bis zu dem letzten Augenblick, da der volle Tag über sie hereinbrach, loderten die Feuer auf dem westlichen Ufer; und dann sah Brown in einem Knäuel buntfarbiger Gestalten, die reglos zwischen den vordersten Häusern standen, einen Mann in europäischer Kleidung, ganz weiß, mit einem Helm. »Das ist er; sehen Sie! Sehen Sie!« sagte Cornelius aufgeregt. Browns Leute sprangen alle auf und drängten sich hinter seinem Rücken, mit glanzlosen Augen. Die buntfarbige Gruppe mit der weißen Gestalt in ihrer Mitte beobachtete den Hügel. Brown konnte nackte Arme sehen, die erhoben waren, um die Augen zu beschatten, und andere braune Arme, die sich deutend ausstreckten. Was sollte er tun? Er blickte umher, und die Wälder, die sein Auge traf, ummauerten ringsum den Schauplatz eines ungleichen Kampfes. Er blickte noch einmal auf seine Leute. Verachtung, Müdigkeit, Lebensgier, die Sehnsucht, es noch einmal zu wagen – sei es auch nur, um ein anderes Grab zu finden – stritten in seiner Brust. Nach den Umrissen der Gestalt schien es ihm, daß der weiße Mann, der die ganze Macht des Landes hinter sich hatte, seine Stellung durch einen Krimstecher prüfte. Brown sprang auf den Baumstumpf und warf die Arme in die Höhe, die Handflächen nach außen gekehrt. Die farbige Gruppe umringte den weißen Mann und schloß sich noch zweimal um ihn, als er aus ihr herausstrebte, bis er allein seines Weges gehen konnte. Brown blieb auf dem Baumstumpf stehen, bis Jim, der zwischen dem da und dort verstreuten Buschwerk auf- und niedertauchte, fast die Bucht erreicht hatte; dann sprang Brown herunter und ging ihm seinerseits entgegen.

Sie trafen sich, glaube ich, nicht weit von der Stelle entfernt, ja, vielleicht auf demselben Fleck, wo Jim den zweiten verzweifelten Sprung seines Lebens getan hatte – der ihn mitten in das Leben von Patusan, das Vertrauen und die Liebe seiner Bewohner hineintrug. Sie standen zu beiden Seiten der Bucht einander gegenüber und suchten mit forschenden Blicken einander zu verstehen, bevor sie die Lippen öffneten. Ihre Gegnerschaft muß sich in ihren Blicken kundgetan haben; ich weiß, daß Brown Jim auf den ersten Blick haßte. Alle Hoffnungen, die er gehegt haben mochte, schwanden sofort. Dies war nicht der Mann, den er zu sehen erwartet hatte. Er haßte ihn dafür und – in einem karierten Flanellhemd mit an den Ellbogen abgeschnittenen Ärmeln, graubärtig, mit eingesunkenem, schwarzverbranntem Gesicht – fluchte er in seinem Herzen der Jugend und Sicherheit des andern, seinen klaren Augen und seiner unbekümmerten Haltung. Der Bursche war lange vor ihm in den Hafen eingelaufen! Er sah nicht aus wie ein Mann, der auf Beistand lauert. Er hatte alle Vorteile auf seiner Seite – Besitz, Sicherheit, Macht; er war auf der Seite einer übermächtigen Streitkraft! Er war nicht hungrig und verzweifelt und schien nicht im mindesten furchtsam. Und alles in Jims gewählter Kleidung, von dem weißen Helm zu den Leinwandgamaschen und den weißgekreideten Schuhen, reizte Brown und schien in seinen düsteren Augen zu den Dingen zu gehören, die er einst selbst, als er anfing, sich sein Leben zu zimmern, gering geachtet und verhöhnt hatte.

»Wer sind Sie?« fragte Jim endlich mit seiner gewohnten Stimme. »Mein Name ist Brown«, antwortete der andere laut. »Kapitän Brown. Wie heißen Sie?« Und Jim fuhr, als hätte er nicht gehört, nach einer kleinen Weile ruhig fort: »Aus welchem Grunde kamen Sie hierher?« – »Das wollen Sie wissen«, sagte Brown bitter. »Es ist leicht zu sagen. Hunger. Und Sie?«

»Darüber fuhr der Kerl auf«, sagte Brown bei der Erzählung dieses sonderbaren Zwiegesprächs zwischen den beiden Männern, die räumlich nur durch das schmutzige Bett einer Bucht getrennt waren, innerlich aber auf den entgegengesetzten Polen jener Lebensauffassung standen, die die ganze Menschheit umfaßt. »Der Kerl fuhr darüber auf und wurde sehr rot im Gesicht. Dünkte sich wahrscheinlich zu erhaben, um gefragt zu werden. Ich sagte ihm, wenn er mich etwa für einen toten Mann ansehe, dem gegenüber man sich alles herausnehmen könne, so sei er auch um keinen Deut besser dran. Ich hätte da einen Kerl bei mir, der ihn die ganze Zeit auf dem Korn habe und nur auf ein Zeichen von mir warte. Das sei nichts, worüber er sich zu verwundern brauchte. Er sei aus eigenem Antrieb hergekommen. ›Nehmen wir an, daß wir beide geliefert sind‹, sagte ich, ›und lassen Sie uns auf dieser Grundlage als Gleiche unterhandeln. Wir sind alle gleich vor dem Tod‹, sagte ich. Ich gab zu, ich sei wie eine Ratte in der Falle, aber wir seien hineingetrieben worden, und eine gefangene Ratte könne auch noch beißen. Er verstand mich sofort. ›Nicht, wenn man erst nah an die Falle geht, nachdem die Ratte tot ist.‹ Ich sagte ihm, diese Art Spiel sei wohl etwas für seine Eingeborenen, doch von ihm hätte ich gedacht, er sei zu sehr Weißer, um selbst einer Ratte so mitzuspielen. Ja, ich hätte mit ihm reden wollen. Doch nicht, weil ich um mein Leben betteln wollte. Meine Leute wären – nun – was sie eben wären – Menschen wie er selber schließlich. Alles, was wir von ihm wollten, sei, daß sie es in Teufels Namen mit uns ausfechten sollten. ›Gott verdamm' mich‹, sagte ich, während er wie ein hölzerner Pfosten stillstand, ›Sie werden doch nicht jeden Tag mit Ihrem Fernglas hierherkommen wollen, um zu zählen, wie viele von uns noch übrig sind? Bringen Sie also Ihre verfluchte Bande her, oder lassen Sie uns hinaus in die offene See und dort verhungern. Sie sind doch einst ein Weißer gewesen, wenn Sie auch noch so dick damit tun, daß dies Ihr eigenes Volk ist und Sie eins mit ihm sind. Oder nicht? Und was, zum Teufel, kriegen Sie dafür? Was haben Sie denn hier gefunden, was gar so höllisch kostbar ist? He? Sie werden doch nicht von uns verlangen, daß wir hier herunterkommen – was? Sie sind zweihundert gegen einen – Sie werden doch nicht verlangen, daß wir Ihnen im freien Feld begegnen? Na, warten Sie nur, Sie sollen noch was erleben, bevor Sie uns den Garaus machen. Sie reden davon, daß ich einen feigen Angriff auf friedliche Leute mache. Was kümmert es mich, daß sie friedliebend sind, wenn ich in Frieden verhungere? Ich bin kein Feigling. Seien Sie nur keiner. Bringen Sie die Leute her, oder, bei allen Teufeln, wir bringen es noch zuwege, daß die Hälfte Ihrer friedliebenden Stadt mit uns in Rauch aufgeht!'«

Er war schrecklich – wie er mir das erzählte – dies gemarterte Skelett eines Mannes auf der wüsten Lagerstatt in der elenden Hütte. Sein Körper war so verkrümmt, daß das Gesicht über den Knien hing, und er hob den Kopf, um mich mit boshaftem Triumph anzusehen.

»Das habe ich ihm gesagt – ich wußte, was ich zu sagen hatte«, begann er wieder, zuerst schwach, arbeitete sich dann aber mit unglaublicher Schnelligkeit in die leidenschaftliche Wiedergabe seines Hasses hinein. ›Wir wollen nicht wie ein Rudel lebender Skelette in den Wald hineinwandern, um einer nach dem andern den Ameisen zum Fraß hinzufallen, ehe wir noch völlig tot sind. O nein!‹... ›Sie verdienen kein besseres Los‹, sagte er. Und was verdienen Sie‹, schrie ich ihn an, ›der Sie sich hier breitmachen und den Mund voll nehmen von Ihrer Verantwortlichkeit, von unschuldigen Menschenleben und Ihrer höllischen Pflicht? Was wissen Sie mehr von mir als ich von Ihnen? Ich kam hierher um Futter. Hören Sie? – Futter, um unsere Bäuche zu füllen. Und wonach kamen Sie? Was suchten Sie, als Sie herkamen? Wir verlangen nichts von Ihnen, als daß Sie mit uns kämpfen oder uns freie Bahn geben, hinzugehen, woher wir kamen...‹ – ›Ich würde sofort mit Ihnen kämpfen‹, sagt er und zupft sich an seinem Schnurrbärtchen. ›Und ich würde Ihnen freie Hand lassen, mich zu erschießen‹, sagte ich. ›Ich kann von hier so gut abkratzen wie von sonstwo. Ich habe mein Höllenpech satt. Aber es wäre zu leicht. Ich hab' meine Leute im gleichen Boot – und, bei Gott, ich bin nicht der Mann, mich aus dem Staube zu machen und die andern in der Patsche zu lassen‹, sagte ich. Er stand eine Weile in Gedanken und wollte dann wissen, was ich getan hatte ›da draußen‹, sagte er und deutete mit dem Kopf stromabwärts, um so in die Enge getrieben zu sein. Sind wir etwa zusammengekommen, um uns unsere Lebensgeschichte zu erzählen?‹ fragte ich ihn. ›Wie wär's, wenn Sie anfingen? Nein? Nun, ich bin nicht begierig, sie zu hören. Behalten Sie sie für sich. Ich weiß, sie ist nicht besser als meine eigene. Ich habe gelebt – genau so wie Sie, obwohl Sie so reden, als wären Sie einer von denen, die Flügel haben müßten, damit Sie mit ihren Füßen nicht die schmutzige Erde berühren. Nun ja – sie ist schmutzig. Ich habe keine Flügel. Ich bin hier, weil ich einmal im Leben Angst gehabt habe. Sie wollen wissen, wovor? Vor einem Gefängnis. Das jagt mich herum, und Sie mögen es wissen – wenn es Sie interessiert. Ich frage Sie nicht, was Sie in dieses verdammte Nest gejagt hat, wo Sie, wie es scheint, eine gute Futterstelle gefunden haben. Das ist Ihr Glück, und meins ist – das Recht, um die Gunst zu bitten, daß Sie mir schnell eine Kugel in den Leib schießen oder mich frei abziehen lassen, damit ich auf meine Art verhungern kann.'«...

Sein zusammengesunkener Körper bebte von einem so heftigen, so sichern und so boshaften Triumph, daß er damit den Tod, der in der Hütte auf ihn lauerte, vertrieben zu haben schien. Aus Lumpen und Verfall stieg wie aus den Schrecknissen eines Grabes die Leiche seiner wahnwitzigen Eigenliebe. Es ist unmöglich zu sagen, inwieweit er Jim damals belog, inwieweit er mich jetzt – und allzeit sich selber belog. Die Eitelkeit spielt unserm Gedächtnis oft sonderbare Streiche, und jede Leidenschaft muß mit einer gewissen Anmaßung auftreten, um ihre Echtheit zu erweisen. Er hatte dieser Welt ins Gesicht geschlagen, sie angespien, mit seinen Untaten ein Unmaß an Hohn und Empörung über sie ausgeschüttet – und stand nun als Bettler am Tor der jenseitigen Welt. Er hatte sie alle besiegt, der ungeschlachte Wüstling – Männer, Frauen, Wilde, Handelsleute, Räuber, Missionare und – Jim. Ich mißgönnte ihm nicht diesen Triumph in articulo mortis, diesen fast postumen Wahn, er habe die ganze Welt mit Füßen getreten. Während er in seinem schmutzigen, abstoßenden Todeskampf vor mir prahlte, konnte ich nicht umhin, mich des kichernden Klatsches während der Zeit seines höchsten Glanzes zu erinnern, als während eines Jahres oder länger »Gentleman Browns« Schiff an vielen Tagen vor einem kleinen grünumrandeten Inselchen lag, wo das Missionshaus als dunkler Tupfen auf einem weißen Strande stand, dieweil »Gentleman Brown « an Land ein romantisches Mädchen betörte, für das Melanesien nicht der rechte Boden war, und ihrem Gatten die Aussicht auf eine denkwürdige Bekehrung eröffnete. Der arme Ehemann hatte einmal die Absicht geäußert, »Kapitän Brown für eine bessere Lebensweise zu gewinnen« ... »Fangt ›Gentleman Brown‹ für die Seligkeit ein« – hatte ein witziger Gauner einmal gesagt – »nur damit die dort oben einmal zu sehen kriegen, was so ein Handelskapitän des westlichen Pazifischen für ein Kerl ist.« Und dies war also der Mann, der eine sterbende Frau entführt und über ihrem entseelten Leib Tränen vergossen hatte. »Er führte sich auf wie ein großes Baby«, pflegte sein damaliger Maat wieder und wieder zu erzählen, »und die Pest soll mich holen, wenn ich verstehe, wie es möglich war. Weiß Gott! ich sage euch, als er sie aufs Schiff brachte, war sie schon nicht mehr genug bei sich, daß sie ihn erkennen konnte; sie lag in seiner Koje auf dem Rücken und starrte mit furchtbar glänzenden Augen auf den Deckbalken – und dann starb sie. Irgendein verdammt böses Fieber, vermutlich...« Ich dachte an all diese Geschichten, während er mit seiner fahlen Hand über das verfilzte Gewirr seines Bartes strich und mir von seinem eklen Lager aus erzählte, wie er diesem verdammten, unnahbaren Rührmichnichtan beigekommen war und seine verwundbare Stelle getroffen hatte. Schrecken konnte man ihn nicht, das mußte er zugeben, aber es gab eine Möglichkeit, »einen schmalen Spalt, wo man hineinschlüpfen und seine erbärmliche Seele durch und durch schütteln und von innen nach außen kehren konnte – weiß Gott!«


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