Joseph Conrad
Lord Jim
Joseph Conrad

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Neunzehntes Kapitel

Ich habe euch diese beiden Vorfälle ausführlich erzählt, um zu zeigen, wie er mit sich selbst unter diesen neuen Lebensbedingungen verfuhr. Es gab noch eine Reihe ähnlicher, mehr, als ich an den Fingern meiner beiden Hände herzählen könnte.

Sie trugen allesamt das Gepräge der gleichen töricht-hochfahrenden Gemütsverfassung, das sie bei all ihrer Kleinlichkeit tief und rührend machte. Es mag wohl als nüchterne Heldentat gelten, wenn einer sein tägliches Brot wegwirft, um freie Hand für den Kampf mit einem Gespenst zu haben. Manche vor ihm haben es getan (obwohl wir, die wir das Leben kennen, gut genug wissen, daß nicht der heimliche Seelenmakel den Paria macht, sondern der hungrige Leib), und Leute, die gegessen hatten und sicher sein konnten, an jedem kommenden Tag essen zu können, haben der rühmlichen Torheit Beifall gezollt. Er war in der Tat unglücklich, denn all seine Waghalsigkeit konnte ihn nicht von dem Schatten befreien. Es blieb allzeit ein Zweifel an seinem Mut haften. Die Wahrheit scheint zu sein, daß es unmöglich ist, das Gespenst einer Tatsache zu bannen. Man kann ihm Trotz bieten oder fliehen – und ich bin ein oder zwei Männern begegnet, die sich blind stellten, wenn ihr vertrautes Gespenst ihnen nahte. – Doch Jim war offenbar nicht von der Art; aber ich konnte nie dahinterkommen, ob sein Verhalten darauf ausging, sein Gespenst zu fliehen oder ihm trotzig die Stirn zu bieten.

Ich strengte meine Einsicht an, dies zu ergründen, doch waren hierbei, wie bei all unsern Handlungen, die Unterschiede so fein, daß es unmöglich war, sie festzustellen. Es konnte Flucht, es konnte aber auch eine Kampfesart sein. Dem gewöhnlichen Menschenverstand erschien er als rollender Stein; denn das war das spaßigste daran: nach einiger Zeit war er im Umkreis seiner Wanderungen (der einen Durchmesser von etwa dreitausend Meilen hatte) so bekannt, ja berüchtigt, wie ein verschrobener Grillenfänger in einem ganzen Landstrich berühmt wird. In Bangkok zum Beispiel, wo er eine Anstellung bei den Brüdern Yucker, Reedern und Teakholzhändlern, fand, war es nahezu tragikomisch zu nennen, wie er im hellen Sonnenschein umherging und sein Geheimnis hätschelte, das in aller Leute Munde war. Schomberg, der Besitzer des Hotels, wo er wohnte, ein grobkörniger Elsässer von rauhem Wesen und ein unbezähmbarer Nacherzähler von skandalösem Klatsch, pflegte mit aufgestützten Ellbogen jedem Gast, der nebst den kostspieligeren Getränken auch noch etwas Zeitchronik zu schlürfen beliebte, eine ausgeschmückte Fassung der Geschichte vorzutragen. »Und Sie müssen wissen, der netteste Kerl in der Runde, ein ganz ungewöhnlicher Mensch«, lautete sein großmütiges Endurteil. Es spricht sehr zugunsten der Besucher von Schombergs Etablissement, daß Jim sich ganze sechs Monate in Bangkok halten konnte. Ich machte die Beobachtung, daß ganz fremde Leute sich zu ihm hingezogen fühlten wie zu einem hübschen Kind. Sein Benehmen war zurückhaltend, aber es war, als ob seine Erscheinung, sein Haar, seine Augen, sein Lächeln ihm Freunde würben, wo er sich zeigte. Und er war nicht auf den Kopf gefallen. Ich hörte Siegmund Yucker (aus der Schweiz gebürtig), einen gutmütigen, von einer schrecklichen Dyspepsie geplagten Mann, der so lahm war, daß sein Kopf bei jedem Schritt, den er machte, einen Viertelkreis beschrieb, sich sehr anerkennend äußern, daß er bei seiner Jugend schon »große Kapazitäten« zeige, als wäre es eine Frage des Kubikinhalts gewesen. »Warum schicken Sie ihn nicht ins Land hinein?« schlug ich eifrig vor (Brüder Yucker hatten Ländereien und Teakbaumwälder im Innern). »Wenn er Kapazitäten hat, wie Sie sagen, wird er die Arbeit bald richtig anpacken. Und körperlich ist er sehr geeignet. Sein Gesundheitszustand ist immer vorzüglich.« – »Ach! es ist ein großes Glück, in diesem Lande frei von Dyspepsie zu sein«, seufzte der arme Yucker neidisch, indem er einen verstohlenen Blick auf seine ruinierte Magengrube warf. Er murmelte, nachdenklich auf sein Pult trommelnd: »Es ist eine Idee. Es ist eine Idee.« Unglücklicherweise ereignete sich an diesem Abend ein sehr peinlicher Zwischenfall im Hotel. Ich weiß nicht, ob Jim sehr darum zu tadeln ist, aber die Sache selbst war höchst bedauerlich. Sie zählte zu der unangenehmen Gattung der Wirtshausschlägereien. Der gegnerische Held war ein schielender, verkommener Däne, dessen Visitenkarte unter seinem falschen Namen den Titel »Erster Leutnant der Königlich Siamesischen Marine« aufwies. Der Kerl hatte natürlich keinen Begriff vom Billardspiel, wollte aber nicht geschlagen werden. Er hatte so viel getrunken, daß er nach der sechsten Partie eklig wurde und über Jim eine höhnische Bemerkung machte. Die meisten Leute hatten nicht gehört, was gesagt worden war, und denen, die es gehört hatten, schien vor Schreck über die gräßlichen Folgen, die daraus entstanden waren, jede genaue Erinnerung geschwunden zu sein. Es war ein Glück für den Dänen, daß er schwimmen konnte, denn das Zimmer ging auf eine Veranda, und darunter floß der Menam breit und schwarz. Ein Boot voll Chinesen, die vermutlich auf einer Diebsexpedition begriffen waren, fischte den Offizier des Königs von Siam heraus, und Jim fand sich um Mitternacht herum ohne Hut an Bord meines Schiffes ein. »Jeder einzelne im Zimmer schien darum zu wissen«, stieß er hervor, noch ganz außer Atem von dem Streit. Der Vorfall tat ihm in gewisser Beziehung sehr leid, obwohl er, wie er sagte, »keine Wahl« gehabt hatte. Doch was ihn am meisten bestürzte, war, daß die Art seiner Bürde jedermann so bekannt war, als hätte er sie die ganze Zeit über sichtbar auf den Schultern getragen. Natürlich konnte er hiernach nicht mehr an dem Ort bleiben. Er wurde wegen der rohen Gewalttat, die für einen Mann in seiner mißlichen Lage so unziemlich war, allgemein verurteilt; einige behaupteten, er sei schmählich betrunken gewesen; andere tadelten seinen Mangel an Takt. Selbst Schomberg war sehr gegen ihn aufgebracht. »Er ist ja ein sehr netter junger Mann«, eiferte er, »aber der Leutnant ist ebenfalls prima. Er diniert täglich an meiner Table d'hôte, müssen Sie wissen. Ein Billardqueue ist dabei zerbrochen worden. Ich kann mir das nicht gefallen lassen. Das erste, was ich heute morgen tat, war, zum Leutnant zu gehen und meine Entschuldigung vorzubringen, und ich glaube, ich habe die Sache für meine Person eingerenkt; aber denken Sie nur, Kapitän, wenn jeder so loslegen wollte! Der Mann hätte, weiß Gott, ertrinken können, und ich kann hier nicht einfach in ein Geschäft gehen und ein neues Queue kaufen. Ich muß nach Europa darum schreiben. Nein! Nein! So darf man sich nicht hinreißen lassen!«... Er war nicht gut zu sprechen auf die Geschichte.

Dies war das schlimmste Vorkommnis während der ganzen Zeit seiner – sagen wir –, seiner Verbannung. Niemand konnte es mehr beklagen als ich; denn wenn es auch von ihm hieß, sobald er erwähnt wurde: »O ja, ich weiß! Hat sich hier außen ziemlich weit herumgetrieben«, so war er doch dabei bisher noch nie ernstlich zu Schaden gekommen. Diese letzte Sache jedoch verursachte mir großes Unbehagen, denn wenn ihn seine übermäßige Reizbarkeit noch öfters in solche Wirtshausschlägereien verwickelte, mußte er allmählich seinen Ruf als friedlicher, wenn auch unangenehmer Narr verlieren und als gewöhnlicher, händelsüchtiger Bummler gelten. Ungeachtet des Vertrauens, das ich in ihn setzte, konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, daß in solchen Fällen vom Schein zum Sein nur ein Schritt ist. Ich hoffe, ihr werdet begreifen, daß ich gerade damals nicht daran denken konnte, ihn abzuschütteln. Ich nahm ihn in meinem Schiff aus Bangkok fort, und wir hatten eine ziemlich lange Überfahrt. Es war kläglich zu sehen, wie er sich in sich selbst zurückzog. Ein Seemann interessiert sich für ein Schiff, selbst wenn er nur Fahrgast ist, und beobachtet das Seeleben um sich herum mit der kritischen Genußfreude eines Malers zum Beispiel, der die Arbeit eines anderen ansieht. Kurzum, er ist in jedem Sinne des Wortes »auf Deck«. Aber mein Jim verkroch sich die meiste Zeit unten, wie ein blinder Passagier. Er steckte mich so an, daß ich es vermied, von Berufssachen zu reden, wie es sich doch sonst zwischen zwei Seeleuten auf einer Fahrt ganz von selbst ergibt. Wir sprachen ganze Tage lang kein Wort; es war mir höchst peinlich, meinen Offizieren in seiner Gegenwart Befehle zu erteilen. Oft, wenn wir auf Deck oder in der Kajüte allein waren, wußten wir nicht, was wir mit unseren Augen anfangen sollten.

Ich brachte ihn bei De Jongh unter, wie ihr wißt; war froh, überhaupt eine Stelle für ihn zu finden, doch überzeugt, daß seine Lage anfing, unerträglich zu werden. Er hatte einen Teil jener Spannkraft eingebüßt, die ihn in den Stand setzte, nach jedem Fall in seine frühere Stellung zurückzuschnellen. Eines Tages, als ich an Land kam, fand ich ihn auf dem Kai; das Wasser der Reede und die offene See bildeten eine glatte, ansteigende Fläche, und die Schiffe vor Anker, die am weitesten draußen lagen, schienen reglos am Firmament zu schweben. Er wartete auf sein Boot, das mit Proviantvorrat für irgendein zur Abfahrt bereites Schiff beladen wurde. Nachdem wir uns begrüßt hatten, blieben wir stumm nebeneinander stehen. »Himmel!« sagte er plötzlich, »diese Arbeit bringt einen um.«

Er lächelte mich an; er konnte für gewöhnlich immer noch ein Lächeln aufbringen. Ich erwiderte nichts. Ich wußte sehr wohl, daß er nicht seine Pflichten meinte, – er hatte gute Tage bei De Jongh. Nichtsdestoweniger war ich vollkommen überzeugt, daß, wie er es gesagt hatte, die Arbeit ihn umbrachte. Ich sah ihn gar nicht an. »Möchten Sie diesen Teil der Welt ganz und gar verlassen«, fragte ich; »es mit Kalifornien oder der Westküste versuchen? – ich will sehen, was ich tun kann...« Er unterbrach mich ein wenig verächtlich. »Was würde es ändern?«... Ich war sofort überzeugt, daß er recht hatte. Es würde nichts ändern; es war nicht Erleichterung, was er brauchte, worauf er sozusagen paßte; sondern, wie ich dunkel fühlte, etwas schwer zu Erklärendes – so etwas wie eine Gelegenheit. Ich hatte ihm viele Gelegenheiten geboten, aber es waren bloße Gelegenheiten gewesen, sein Brot zu verdienen. Doch was kann einer schließlich mehr tun? Seine Lage erschien mir hoffnungslos, und mir kam des armen Brierly Ausspruch in den Sinn: »Er soll zwanzig Fuß tief unter die Erde kriechen und nicht wieder vorkommen.« Besser das, dachte ich, als hier oben auf das Unmögliche warten. Doch nicht einmal dessen konnte man gewiß sein. Gleich darauf, bevor noch sein Boot drei Ruderlängen vom Kai weg war, hatte ich mich entschlossen, abends zu Stein zu gehen und ihn um Rat zu fragen.

Dieser Stein war ein vermögender und angesehener Kaufmann. Sein »Haus« (denn es war ein Haus, Stein & Co.; und es gab auch irgendeinen Teilhaber, der, wie sich Stein ausdrückte, »auf die Molukken aufpaßte«) hatte ein großes interinsulares Geschäft, mit einer Anzahl Handelsstationen an den entlegensten Plätzen, zum Einsammeln der Produkte. Sein Reichtum und sein Ansehen waren jedoch nicht vornehmlich die Veranlassung, warum ich seinen Rat nachsuchte. Ich hatte den Wunsch, ihm meine Notlage anzuvertrauen, weil er einer der zuverlässigsten Männer war, die mir vorgekommen sind. Auf seinem langen, bartlosen Gesicht lag der Glanz einer schlichten, sozusagen unverbrauchten und klugen Herzensgüte. Es hatte tiefe Falten bis über das Kinn, und die Hautfarbe war die eines Mannes, der eine sitzende Lebensweise führt, – was aber in Wirklichkeit durchaus nicht zutraf. Sein dünnes Haar war glatt von einer hohen, massigen Stirne zurückgebürstet. Man konnte meinen, daß er mit Zwanzig ungefähr ebenso ausgesehen haben mußte wie jetzt mit Sechzig. Es war das Gesicht eines Gelehrten; nur die fast ganz weißen, dichten und buschigen Augenbrauen und der entschlossene, durchdringende Blick, der darunter hervorkam, waren nicht ganz in Einklang mit seinem, ich möchte sagen, studierten Aussehen. Er war groß und gelenkig; seine leicht vorgebeugte Haltung und ein unschuldiges Lächeln ließen ihn wohlwollend geneigt erscheinen, einem sein Ohr zu leihen; seine großen, blassen, an langen Armen sitzenden Hände machten spärliche, bedächtige Gesten, die hinweisend und erläuternd wirkten. Ich spreche ausführlich von ihm, weil sich unter dem Äußern dieses Mannes mit dem aufrechten, gütigen Wesen eine Unerschrockenheit des Geistes und ein körperlicher Mut bargen, die man hätte Waghalsigkeit nennen können, wären sie nicht wie eine natürliche Funktion des Körpers – beispielsweise eine gute Verdauung – völlig unbewußt gewesen. Es wird manchmal von einem Manne gesagt, daß er sein Leben in seiner Hand trägt. Diese Redensart würde auf ihn nicht gepaßt haben; in der ersten Zeit seines Aufenthalts im Osten hatte er Ball damit gespielt. All dies gehörte der Vergangenheit an, aber ich kenne die Geschichte seines Lebens und den Ursprung seines Vermögens. Er war auch ein Naturforscher von einiger Bedeutung, oder vielleicht sollte ich sagen, ein gelehrter Sammler. Entomologie war sein Spezialfach. Seine Sammlung von Prachtkäfern und Langfühlern – schrecklichen, noch im Tode bösartig aussehenden Miniaturungeheuern – und sein Schmetterlingskabinett, das die seltensten Exemplare auf wies, hatten seinen Ruhm weit über die Lande verbreitet. Der Name dieses Kaufmanns, Abenteurers, ehemaligen Ratgebers eines malaiischen Sultans (von dem er nie anders sprach als von »meinem armen Mohammed Bonso«), war auf Grund von ein paar Scheffeln toter Insekten der gelehrten Welt Europas bekannt geworden, die von seinem Leben und Charakter keinen Begriff haben konnte und sicher auch keinen Wert darauf gelegt hätte. Ich, der über ihn Bescheid wußte, hielt ihn für besonders geeignet, meine vertraulichen Mitteilungen über Jim und seine mißliche Lage entgegenzunehmen.


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