Joseph Conrad
Lord Jim
Joseph Conrad

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Fünfunddreissigstes Kapitel

Aber am nächsten Morgen, bei der ersten Biegung des Flusses, die die Häuser von Patusan verdeckte, wurde all dies mit seiner Farbe, seiner Zeichnung und Bedeutung körperlich meinem Blick entrückt, wie ein von der Phantasie auf die Leinwand gezaubertes Bild, dem man nach langer Betrachtung zum letzten Male den Rücken kehrt. Es haftet im Gedächtnis, unbeweglich, unverblichen, mit erstarrtem Leben, in einem unveränderlichen Licht. Da sind die Befürchtungen, die Hoffnungen, der Ehrgeiz, der Haß, meinem Geiste eingeprägt, wie ich sie gesehen hatte – lebhaft und für immer in ihrem Ausdruck festgehalten. Ich hatte mich von dem Bilde weggewandt und kehrte in die Welt zurück, wo Ereignisse wogen, Menschen wechseln, Licht flackert, Leben im breiten Bette flutet, gleichviel ob über Schlamm oder Steine. Ich wollte nicht hineintauchen; ich würde genug zu tun haben, den Kopf über der Oberfläche zu halten. Aber was die angeht, die ich zurückließ, so kann ich mir keine Veränderung denken. Der gewaltige, großherzige Doramin und seine mütterliche, hexenhafte, kleine Frau, wie sie gemeinsam auf das Land hinausblicken und heimlich ihre Träume elterlichen Ehrgeizes nähren; Tunku Allang, verrunzelt und ewig verwirrt; Dain Waris, klug und tapfer, mit seinem Glauben an Jim, seinem festen Blick und der spöttischen Freundlichkeit; das Mädchen, in ihre schreckhafte, argwöhnische Anbetung versunken; Tamb' Itam, finster und treu; Cornelius, im Mondlicht mit seiner Stirn an den Zaun gelehnt – ihrer bin ich sicher. Sie leben wie unter dem Stab eines Zauberers. Die Gestalt aber, um die all jene sich scharen, – die lebt, und ich bin ihrer nicht sicher. Keines Zauberers Stab kann ihn vor meinen Augen zum Bilde erstarren machen. Er ist einer von uns.

Wie ich euch sagte, begleitete mich Jim auf der ersten Strecke meiner Rückkehr in die Welt, der er entsagt hatte, und der Weg schien stellenweise durch das Innerste unberührter Wildnis zu führen. Die leeren Stromstrecken glitzerten unter der hochstehenden Sonne; zwischen den hohen Wällen der Bäume brütete die Hitze über dem Wasser, und das Boot durchschnitt, kräftig gerudert, die Luft, die sich unter dem Schutz hoher Bäume dick und warm festgesetzt zu haben schien.

Der Schatten der bevorstehenden Trennung hatte schon einen ungeheuren Zwischenraum zwischen uns gelegt, und als wir sprachen, geschah es mit Anstrengung, als ob wir unsere leisen Stimmen über eine große und wachsende Entfernung senden müßten. Das Boot flog rasch dahin; wir schmachteten nebeneinander in der stickigen, überhitzten Luft; der Geruch von Schlamm und Sumpf, der urzeitliche Geruch fruchtbarer Erde quoll uns entgegen; bis es plötzlich bei einer Biegung war, als ob eine große Hand in der Ferne einen schweren Vorhang in die Höhe gezogen, ein ungeheures Portal geöffnet hätte. Das Licht selber schien sich zu bewegen, der Himmel über unseren Köpfen weitete sich, ein fernes Murmeln erreichte unser Ohr, eine Frische umwehte uns, füllte unsere Lungen, beflügelte unsere Gedanken, unser Blut, unsere Schmerzgefühle— und gerade vor uns senkten sich die Wälder zu dem dunkelblauen Rücken der See.

Ich atmete tief auf, ich genoß die Weite des offenen Horizonts, die Verschiedenheit der Luft, die von der Arbeitslust des Lebens, von der Tatkraft einer makellosen Welt zu zittern schien. Dieser Himmel und dieses Meer lagen offen vor mir. Das Mädchen hatte recht: es ging ein Zeichen, ein Ruf von ihnen aus – ein Etwas, dem jede Fiber in mir Antwort gab. Ich ließ meine Augen durch den Raum schweifen wie ein von Ketten Befreiter, der seine verkrampften Glieder ausstreckt, rennt, springt, sich dem beseligenden Überschwang der Freiheit hingibt. »Dies ist herrlich!« rief ich und blickte dann nach dem Sünder an meiner Seite. Er saß mit auf die Brust gesenktem Kopf da und sagte »ja«, ohne die Augen zu erheben, als fürchtete er, auf dem klaren Himmel der offenen See den Vorwurf seines romantischen Gewissens mit großen Lettern geschrieben zu sehen.

Ich entsinne mich der geringsten Einzelheiten dieses Nachmittags. Wir landeten auf einem Zipfelchen weißen Strandes. Er hatte im Rücken eine niedere Klippe, die am Rand bewaldet und bis zu ihrem Fuß mit Kletterpflanzen bewachsen war. Unter uns hob sich die glatte Meeresfläche in tiefem, heiterem Blau dem Horizont zu, der in der Höhe unserer Augen wie ein Strich gezogen war. Große, glitzernde Wellen flogen leicht und rasch, wie vom Wind gejagte Federn, über den dunklen, schillernden Wasserspiegel. Eine Inselkette lag massig und abgerissen der Seebucht gegenüber, die in ihrem fahlen, glasigen Wasser die Umrisse des Ufers getreulich wiedergab. Hoch oben im farblosen Sonnenschein schwebte ein einsamer, ganz schwarzer Vogel, der sich mit leicht schaukelnder Bewegung seiner Fittiche um denselben Punkt auf und nieder schraubte. Eine Anzahl rußiger, armseliger Hütten aus zerlumpten Matten hockten über ihrem eigenen Spiegelbild auf hohen, verkrümmten Pfählen, die schwarz wie Ebenholz waren. Ein einziges schwarzes Kanu stieß von ihnen ab, mit zwei winzigen schwarzen Männern, die sich außerordentlich anstrengten, mit ihren Rudern das fahle Wasser zu durchstreichen; und das Kanu schien mühsam auf einem Spiegel dahinzugleiten. Diese Anzahl elender Hütten war das Fischerdorf, das sich der besonderen Gunst des weißen Herrn rühmte, und die beiden herüberrudernden Männer waren das Oberhaupt der Fischer und sein Schwiegersohn. Sie landeten und kamen im weißen Sand zu uns herauf, hager, dunkelbraun, wie geräuchert, mit Ascheflecken auf der Haut ihrer nackten Schultern und Brust. Ihre Köpfe waren von schmutzigen, aber sorgfältig gefalteten Tüchern umwunden, und der alte Mann fing sofort an, mit Zungengewandtheit eine Klage vorzubringen; er streckte dabei einen schmächtigen Arm aus und richtete seine alten Triefaugen vertrauensvoll auf Jim. Die Leute des Rajah wollten sie nicht in Ruhe lassen; es wären Streitigkeiten wegen Schildkröteneiern entstanden, die seine Leute dort bei den Inseln gesammelt hatten. Auf sein Ruder gestützt, das er in Armeslänge von sich weghielt, deutete er mit der einen knochigen, braunen Hand über das Meer. Jim hörte eine Weile zu, ohne aufzublicken, und bedeutete ihm dann sanft, zu warten. Er wollte ihn hernach anhören. Sie zogen sich gehorsam in einige Entfernung zurück und hockten auf ihren Fersen, die Ruder im Sande neben sich; der silbrige Schimmer aus ihren Augen folgte geduldig unseren Bewegungen; und die Unendlichkeit des ausgebreiteten Meeres, die Stille der Küste, die sich nach Norden und Süden weit über die Grenzen meiner Sehweite hinaus erstreckte, lag wie ein ungeheures, majestätisches Antlitz vor uns vier auf einem Streifchen glitzernden Sandes abgesonderten Zwergen.

»Das Schlimme an der Sache ist«, bemerkte Jim mißmutig, »daß die armen Teufel von Fischern in diesem Dorf seit Generationen als des Rajahs persönliche Sklaven gegolten haben, – und dem alten Esel will es nicht in den Kopf...«

Er hielt inne. »Daß Sie das alles geändert haben«, sagte ich.

»Ja, ich habe das alles geändert«, brummte er mit dunkler Stimme.

»Sie haben Ihre Gelegenheit gehabt«, fuhr ich fort.

»Meinen Sie?« fragte er. »Nun ja. Wahrscheinlich. Ja. Ich habe das Vertrauen in mich selbst zurückgewonnen – einen guten Namen – doch wünsche ich manchmal... Nein! Ich will behalten, was ich habe. Kann nicht mehr erwarten.« Er streckte seinen Arm nach dem Meere aus. »Wenigstens nicht dort draußen.« Er stampfte mit dem Fuß auf den Sand. »Dies ist meine Grenze, weil mir nichts Geringeres genügen kann.«

Wir schritten am Strande auf und ab. »Ja, ich habe das alles geändert«, fuhr er fort, mit einem Seitenblick nach den beiden geduldigen, schwatzenden Fischern; »aber stellen Sie sich einmal vor, was sein würde, wenn ich fortginge. Himmel! Sehen Sie es denn nicht? Der Teufel wäre los. Nein! Morgen werde ich wieder hingehn und es auf mich nehmen, den Kaffee des alten Narren Tunku Allang zu trinken, und ich werde ein schreckliches Aufheben von den elenden Schildkröteneiern machen. Nein. Ich kann nicht sagen – genug. Niemals. Ich muß so fortmachen, fortmachen, meine Rolle durchhalten, um die Sicherheit zu fühlen, daß nichts mir was anhaben kann. Ich muß sie in ihrem Glauben an mich bestärken, um mich sicher zu fühlen und um – um...« Er tastete nach einem Wort, schien auf dem Meere danach auszublicken... »um in Berührung zu bleiben mit« ... seine Stimme sank plötzlich zu einem Murmeln herab... »mit denen, die ich vielleicht nie wiedersehen weide. Mit – mit Ihnen, zum Beispiel.«

Ich war ganz gedemütigt bei diesen Worten. »Um Himmels willen«, sagte ich, »mein Lieber, stellen Sie mich doch nicht so aufs Piedestal; machen Sie es nur so, wie Sie es für richtig halten.« Ich fühlte eine Dankbarkeit, eine Zuneigung für diesen Verirrten, der mich heraushob aus den Reihen einer unbedeutenden Menge, wo ich meinen Platz hatte. Wie wenig war dies schließlich, um sich dessen zu rühmen! Ich wandte mein glühendes Gesicht weg; unter der niedrigen Sonne lag purpurn glühend, wie eine dem Feuer entrissene glimmende Kohle, das weite Meer, in all seiner unendlichen Stille dem Nahen des feurigen Gestirns hingegeben. Zweimal setzte er zum Sprechen an, schwieg aber immer wieder; endlich sagte er ruhig, als hätte er eine Formel gefunden:

»Ich werde treu sein. Ich werde treu sein«, wiederholte er, ohne mich anzusehn. Zum erstenmal ließ er seine Augen über das Wasser schweifen, dessen Bläue unter den Gluten des Sonnenuntergangs einer düsteren Färbung gewichen war. Oh! Er war romantisch, romantisch. Ich gedachte einiger Worte Steins... »Sich dem toddrohenden Element hingeben!... Dem Traum folgen und wieder dem Traum folgen – und so – immer, usque ad finem...« Er war romantisch, aber trotzdem treu. Wer konnte sagen, welche Formen, welche Erscheinungen, welche Gesichte, welche Verzeihung er in der Glut des Westens erblickte! ... Ein kleines Boot, das den Schoner verließ, kam langsam, im regelmäßigen Takt zweier Ruder, zur Sandbank, um mich fortzuholen. »Und dann ist ja Juwel da«, sagte er aus der großen Stille von Erde, Himmel und Meer heraus, die sich bis auf meine Gedanken gelegt hatte, so daß seine Stimme mich auffahren ließ. »Juwel.« – »Ja«, murmelte ich. – »Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was sie mir ist«, fuhr er fort. »Sie haben es gesehen. Mit der Zeit wird sie verstehen lernen...« – »Ich hoffe es«, unterbrach ich. – »Sie vertraut mir auch«, sagte er sinnend, und darauf mit verändertem Ton: »Wann werden wir uns wohl wiedersehn?«

»Niemals – es sei denn, daß Sie herauskommen«, antwortete ich mit abgewandtem Blick. Er schien nicht überrascht zu sein; eine Weile blieb er ganz still.

»Dann leben Sie wohl«, sagte er schließlich. »Vielleicht ist es so ebensogut.«

Wir schüttelten uns die Hand, und ich schritt zum Boot, das mit dem Schnabel auf dem Strand wartete. Der Schoner, das Großsegel gesetzt und die Klüverschote im Wind, tänzelte auf der purpurnen See; es lag ein rosiger Hauch auf seinen Segeln. »Werden Sie bald wieder nach Hause gehen?« fragte Jim, als ich eben das Bein über das Dollbord des Bootes schwang. – »In einem Jahr etwa, wenn ich am Leben bleibe«, sagte ich. Der Stevenlauf scharrte im Sand, das Boot stieß ab, die nassen Ruder blitzten und tauchten ein-, zweimal in die Flut. Jim, an der Uferkante, erhob die Stimme: »Sagen Sie ihnen...« begann er. Ich gab den Männern ein Zeichen, mit Rudern innezuhalten, und wartete verwundert. Sagen – wem? Die halb untergegangene Sonne schien ihm ins Gesicht; ich sah ihren roten Schein in seinen Augen, die mich stumm ansahen ... »Nein – nichts«, sagte er und gab mit einer leichten Bewegung der Hand dem Boot die Weisung, weiterzurudern. Ich blickte nicht wieder nach dem Ufer, bis ich an Bord des Schoners geklettert war.

Die Sonne war schon untergegangen. Die Dämmerung lag über dem Osten, und die ganz in Schwarz getauchte Küste dehnte ihre dunkle Mauer, die wie das Bollwerk der Nacht selber erschien, ins Unendliche aus; der westliche Horizont war eine einzige Glut aus Gold und Purpur, in der eine große losgelöste Wolke schwamm und einen schieferfarbenen Schatten auf das Wasser warf. Jim am Strande sah dem Schoner zu, wie er abfiel und in Fahrt kam.

Die beiden halbnackten Fischer waren aufgestanden, sobald ich fort war; wahrscheinlich gossen sie die Klage ihres kleinlichen, armseligen, knechtischen Daseins in die Ohren des weißen Herrn, und wahrscheinlich hörte er sie an, machte ihre Beschwerde zu seiner eigenen, denn gehörte dies nicht zu seinem Glück – »dem Schweineglück«, dem er, wie er mir versicherte, so völlig gewachsen war? Auch sie, sollte ich meinen, waren im Glück, und sie besaßen die Hartnäckigkeit, es festzuhalten. Ihre zimtfarbenen Körper verschwammen auf dem dunklen Hintergrund, lange bevor ich ihren Beschützer aus den Augen verlor. Er war weiß von Kopf bis Fuß und blieb beharrlich sichtbar gegen das Bollwerk der Nacht in seinem Rücken, das Meer zu seinen Füßen, das Glück – noch immer verschleiert – an seiner Seite. Was sagt ihr? War es noch verschleiert? Ich weiß nicht. Für mich schien diese weiße Gestalt in der Stille der Küste und des Meeres im Kernpunkt eines großen Rätsels zu stehn. Die Dämmerung verlor sich rasch am Himmel über seinem Kopf, der Streifen Sand war schon unter seinen Füßen versunken, er selber erschien nicht größer als ein kleines Kind – bald war er nur noch ein Fleck, ein winziger, weißer Fleck, der alles Licht in der verdunkelten Welt einzufangen schien... Und plötzlich verlor ich ihn...


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