Joseph Conrad
Lord Jim
Joseph Conrad

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Vierunddreissigstes Kapitel

Marlow streckte seine Beine aus, stand rasch auf und schwankte ein wenig, als wäre er von einem Flug durch den Raum gelandet. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Brüstung und sah über das Durcheinander langer Rohrstühle weg. Die darin ausgestreckten Körper schienen durch seine Bewegung aus ihrer Erstarrung gerissen. Einer oder zwei setzten sich, wie erschrocken, auf; da und dort glimmte noch eine Zigarre. Marlow blickte sie alle mit den Augen eines Mannes an, der aus der äußersten Versunkenheit eines Traums zurückkehrt. Ein Räuspern wurde laut; eine ruhige Stimme ermunterte nachlässig: »Nun?«

Nichts, sagte Marlow leicht auffahrend. Er hatte es ihr gesagt – das ist alles. Sie glaubte ihm nicht. Weiter nichts. Was mich angeht, so weiß ich nicht, ob es mir ansteht, mich zu freuen, oder ob ich es bedauern soll. Ich kann tatsächlich bis zum heutigen Tage nicht sagen, was ich glaubte, und werde es wohl nie. Aber was glaubte der arme Kerl selber? Ihr wißt ja, die Wahrheit wird den Sieg davontragen. Magna est veritas et... Ja, wenn ihr die Möglichkeit dazu gegeben wird. Es gibt ein Gesetz, kein Zweifel – und ebenso regiert ein Gesetz das Glück beim Würfelspiel. Nicht die Gerechtigkeit, die Dienerin der Menschen, sondern der Zufall, das Glück – Fortuna – die Verbündete der geduldigen Zeit – hält gleichmäßig und genau die Waage. Wir beide hatten ganz das nämliche gesagt. Sagten wir beide die Wahrheit – oder tat es einer von uns – oder keiner?...

Marlow machte eine Pause, kreuzte die Arme über der Brust und fuhr in verändertem Ton fort:

Sie sagte, daß wir lögen. Arme Seele. Nun – überlassen wir es dem Zufall, dem Verbündeten der Zeit, die nicht zur Eile gebracht werden kann und deren Feind der Tod ist, der nicht warten will. Ich war zurückgewichen – ein wenig eingeschüchtert, muß ich gestehen. Ich hatte einen Angriff auf die Furcht selbst gewagt und war aus dem Sattel gehoben worden – kein Wunder. Ich hatte nichts erreicht, als daß ich ihre Angst noch vermehrt hatte, durch die Hindeutung auf ein heimliches Einverständnis, eine unerklärliche und unbegreifliche Verschwörung, sie für immer im Dunkeln zu lassen. Und es war so leicht, natürlich, unvermeidlich gekommen, durch sein Tun, durch ihr eigenes Tun! Es war, als hätte ich einen Blick in das Triebwerk des unerbittlichen Schicksals getan, dessen Opfer und dessen – Werkzeuge wir alle sind. Es war schauderhaft, an das Mädchen zu denken, das ich dort regungslos stehengelassen hatte; Jims Schritte hatten einen schicksalsvollen Klang, wie er in seinen schweren Schnürstiefeln, ohne mich zu sehen, vorbeitrappte. »Was? Kein Licht?« sagte er mit lauter, erstaunter Stimme. »Was macht ihr zwei da im Dunkeln?« Im nächsten Augenblick schon sah er sie. »Hallo, Mädchen?« rief er gutgelaunt. – »Hallo, Junge!« antwortete sie sofort, erstaunlich unbefangen.

Dies war ihr üblicher gegenseitiger Gruß, und der Anflug von Großtuerei, den sie ihrer lieblichen, etwas hohen Stimme gab, war sehr drollig, anmutig und kindlich und entzückte Jim aufs höchste. Dies war die letzte Gelegenheit, bei der ich sie diesen vertrauten Anruf tauschen hörte, und er jagte mir einen Schauer ins Herz. Da war die hohe, liebliche Stimme, der anmutige Versuch, das Großtun; aber es schien alles vorzeitig hinzusterben, und der spielerische Ruf klang wie ein Stöhnen. Es war zu gräßlich. »Was hast du mit Marlow angefangen?« fragte Jim; und dann: »Er ist hinuntergegangen? Sonderbar, ich habe ihn nicht getroffen... Sind Sie da, Marlow?«

Ich antwortete nicht; ich wollte nicht hineingehen, wenigstens noch nicht gleich. Es war mir unmöglich. Während er mich rief, war ich dabei, durch ein kleines Tor, das auf ein Stück kürzlich gerodeten Landes führte, zu entkommen. Nein; ich konnte ihnen noch nicht gegenübertreten. Ich schritt eilig mit gesenktem Kopf einen ausgetretenen Pfad entlang. Der Boden stieg sacht ab, die wenigen großen Bäume waren gefällt, das Unterholz weggehauen, das Gras verbrannt worden. Er hatte die Absicht, hier die Anpflanzung von Kaffee zu versuchen. Der große Berg, dessen Doppelgipfel kohlschwarz im klaren, gelben Licht des aufgehenden Mondes emporragte, schien seinen Schatten über das zu diesem Versuch vorbereitete Stück Erde zu werfen. Jim hatte soviel Versuche vor; ich hatte seine Tatkraft, seinen Unternehmungsgeist und seinen Scharfsinn bewundert. Nichts auf Erden schien nunmehr unwirklicher als seine Pläne, seine Tatkraft und seine Begeisterung; als ich die Augen erhob, sah ich einen Teil des Mondes tief unten in der Kluft durch die Büsche glänzen. Es sah einen Augenblick lang so aus, als wäre die glatte Scheibe von ihrem Platz am Himmel auf die Erde gestürzt und in den Abgrund gerollt; ihre aufsteigende Bewegung erschien wie ein gemächliches Zurückschnellen; sie machte sich aus dem Gewirr der Zweige frei; der kahle, gewundene Ast eines Baumes, der am Abhang stand, zog ihr einen schwarzen Strich quer durchs Gesicht. Sie warf ihre waagerechten Strahlen von weither, wie aus einer Höhle, und in diesem trauervollen, gleichsam verfinsterten Licht starrten die Stümpfe der gefällten Bäume dunkel empor; von allen Seiten fielen die schweren Schatten zu meinen Füßen, mein eigener, wandelnder Schatten und, quer über meinen Pfad, der Schatten des einsamen, stets mit Blumen bekränzten Grabes. In dem verdunkelten Mondlicht nahmen die ins Grün geflochtenen Blüten fremde Formen und unkenntliche Farben an, als wären sie von einer besonderen Gattung, von keiner Menschenhand gepflückt, nicht in dieser Welt gewachsen und einzig für Tote bestimmt. Ihr starker Duft hing in der warmen Luft und machte sie dick und schwer, wie Weihrauch. Die Klumpen weißer Korallen leuchteten um den dunklen Hügel wie ein Kranz aus gebleichten Schädeln, und alles ringsumher war so ruhig, daß, als ich stille stand, jeder Ton und jede Bewegung in der Welt zu Ende gekommen schien. Es war ein großer Friede, als wäre die Erde ein einziges Grab, und eine Zeitlang stand ich da und dachte hauptsächlich der Lebenden, die, in entlegenen Orten vergraben und aus dem Gedächtnis der Menschen gestrichen, dennoch dazu bestimmt sind, an deren tragischen oder seltsamen Nöten teilzunehmen. Vielleicht auch an ihren erhabenen Kämpfen – wer weiß? Das menschliche Herz ist groß genug, um die ganze Welt zu umfassen. Es ist tapfer genug, die Bürde zu tragen, – wo aber ist der Mut, der sie von sich schleuderte?

Ich muß in eine Träumerei versunken sein; ich weiß nur, ich stand dort lange genug, um das Gefühl äußerster Einsamkeit so völlig von mir Besitz ergreifen zu lassen, daß alles, was ich vor kurzem gesehen und gehört hatte, ja die menschliche Rede selber aus dem Dasein geschwunden schien und nur noch eine kleine Weile länger in meinem Gedächtnis lebte, als wäre ich der letzte überlebende der Menschheit. Es war eine seltsame, wehmütige Einbildung, aus halbem Bewußtsein emporgestiegen, wie alle unsere Einbildungen, die ich für Gesichte einer unerreichbar fernen, unklar geschauten Wahrheit halte. Dies war, in der Tat, einer der verlorenen, vergessenen, unbekannten Plätze der Erde; ich hatte einen Blick unter seine dunkle Oberfläche getan; und ich fühlte, daß er, wenn ich ihn morgen für immer verließ, aus dem Dasein hinweggewischt sein würde, um einzig in meinem Gedächtnis zu leben, bis ich selber der Vergessenheit anheimfiele. Ich habe auch jetzt noch das Gefühl; vielleicht ist es dies Gefühl, das mich verleitete, euch diese Geschichte zu erzählen, den Versuch zu machen, ihren Kern, sozusagen ihre Wirklichkeit – die Wahrheit, die sich mir in einem kurzen Wahnbild enthüllte, an euch weiterzugeben.

Cornelius kam herzu. Er schoß wie eine Natter aus dem langen Grase hervor, das in einer Vertiefung des Bodens wuchs. Ich glaube, sein Haus vermoderte irgendwo in der Nähe, ich habe es nie gesehen, da ich nie weit genug in dieser Richtung gekommen bin. Er rannte mir auf dem Pfad entgegen, seine Füße, von schmutzigen weißen Schuhen bekleidet, waren auf dem dunklen Boden sichtbar; er raffte sich auf und begann unter seinem großen Ofenröhrenhut hervor zu winseln und zu jammern. Sein vertrocknetes kleines Gerippe verschwand völlig in einem schwarzen Tuchanzug. Es war sein Feiertagsgewand und erinnerte mich daran, daß dies der vierte Sonntag war, den ich in Patusan verbracht hatte. Während meines ganzen Aufenthalts hatte ich den unbestimmten Eindruck gehabt, daß er mir sein Herz auszuschütten wünschte, sobald er meiner nur habhaft werden könnte. Er schlich um mich herum, mit einem sehnsüchtigen, gierigen Blick in seinem grämlichen gelben Gesicht; aber seine Schüchternheit hatte ihn eben so sehr zurückgehalten wie mein natürliches Widerstreben, mit einem so eklen Geschöpf etwas zu tun zu haben. Es wäre ihm trotzdem gelungen, wenn er nicht stets auf dem Sprung gewesen wäre, sich, sobald man ihn nur ansah, zu drücken. Er schlich vor Jims strengem Blick davon, vor meinem eigenen, in den ich mich Gleichgültigkeit zu legen bemühte, wie vor dem grimmig verächtlichen Tamb' Itams. Er schlich ewig davon. Sooft man seiner ansichtig wurde, machte er sich fort, das Gesicht zurückgewandt, entweder mit mißtrauischem Knurren oder mit jammervoll kläglicher, stummer Miene, doch kein angenommener Ausdruck konnte die angeborene, unverbesserliche Niedrigkeit seiner Natur verhüllen, ebensowenig wie irgendein Gewand eine abscheuliche Verkrüppelung des Körpers verbergen kann.

Ich weiß nicht, ob es eine Folge der völligen Niederlage war, die ich vor einer Stunde in meinem Kampf mit einem Gespenst der Furcht erlitten hatte – jedenfalls ließ ich mich ohne den leisesten Versuch eines Widerstands von ihm einfangen. Es schien mein Los zu sein, Geständnisse entgegenzunehmen und vor unbeantwortbare Fragen gestellt zu werden. Es war qualvoll, aber die Verachtung, die maßlose Verachtung, die des Mannes Erscheinung einflößte, erleichterte es ein wenig. Seine Person konnte wirklich nicht von Belang sein. Nichts war von Belang, seit ich zu der Einsicht gekommen war, daß Jim, der allein mir am Herzen lag, sein Schicksal gemeistert hatte. Er hatte mir gesagt, daß er zufrieden war – nahezu. Das war mehr, als die meisten von uns zu behaupten wagen würden. Ich – der ich das Recht habe, mich für gut genug zu halten, wage es nicht. Ich vermute, auch keiner von euch hier würde es wagen?...

Marlow hielt inne, als erwartete er eine Antwort. Niemand sprach.

Ganz recht, begann er aufs neue. Laßt es keinen wissen, da die Wahrheit nur durch einen grausamen, kleinen, schrecklichen Zusammenbruch aus uns herausgepreßt werden kann. Aber er ist einer von uns, und er konnte sagen, er sei – fast zufrieden. Man bedenke! Fast zufrieden. Man könnte ihn beinahe um seinen Niederbruch beneiden. Fast zufrieden. Nunmehr war alles belanglos. Es war nicht mehr von Belang, wer ihn verdächtigte, wer ihm vertraute, wer ihn liebte, wer ihn haßte—besonders, da es Cornelius war, der ihn haßte.

Immerhin war dies eine Art Anerkennung. Man kann einen Mann sowohl nach seinen Feinden wie nach seinen Freunden beurteilen, und dieser Feind Jims war so, daß kein anständiger Mann sich zu schämen brauchte, ihn zum Feind zu haben, allerdings ohne viel Aufhebens von ihm zu machen. Dies war Jims Ansicht, und ich teilte sie; doch Jim mißachtete ihn aus allgemeinen Gründen. »Mein lieber Marlow«, sagte er, »ich fühle, daß, wenn ich geradeaus meines Wegs gehe, mir nichts was anhaben kann. Wirklich! Sie sind jetzt lange genug hier gewesen, um das Ganze ziemlich übersehen zu können, – und, offen gesagt, finden Sie nicht, daß ich ziemlich sicher bin? Es hängt alles von mir ab, und, beim Himmel! ich habe genügendes Selbstvertrauen. Das Schlimmste, was er tun könnte, wäre, mich zu töten. Ich glaube nicht einen Augenblick, daß er es täte. Er könnte nicht, müssen Sie wissen – nicht, wenn ich selbst ihm dazu ein geladenes Gewehr in die Hand gäbe und ihm dann den Rücken kehrte. So ein Kerl ist er. Und angenommen, er wollte – er könnte? Nun – was dann? Ich bin nicht hierhergekommen, um mein Leben in Sicherheit zu bringen – nicht wahr? Ich kam her, um meinen Rücken gegen die Mauer zu stemmen, und ich werde hier bleiben...«

»Bis Sie ganz zufrieden sind«, fiel ich ein.

Wir saßen bei diesem Gespräch unter dem Sonnensegel im Heck seines Boots; zwanzig Ruder blitzten wie ein einziges, zehn an jeder Seite, und durchstrichen das Wasser mit einem einzigen Aufklatschen, während Tamb' Itam hinter unserm Rücken sich schweigend nach rechts und links neigte, bemüht, das lange Kanu im stärksten Strom zu halten. Jim senkte den Kopf, und unsere letzte Unterredung schien endgültig zu erlöschen. Er gab mir das Geleit bis zur Mündung des Flusses. Der Schoner war tags vorher mit der Ebbe stromab gegangen, während ich meinen Aufenthalt über Nacht verlängert hatte. Und nun gab er mir das Geleit.

Jim war ein bißchen ärgerlich über mich gewesen, weil ich Cornelius überhaupt erwähnt hatte. Ich hatte in Wahrheit nicht viel gesagt. Der Mann war zu unbedeutend, um gefährlich zu sein, obwohl er so voll von Haß war, wie nur in ihm Raum hatte. Er hatte mich in jedem zweiten Satz »Euer Hochwohlgeboren« genannt und hatte an meinem Ellbogen gewinselt, während er mir von dem Grabe seiner »seligen Frau« zu dem Tor von Jims Hof folgte. Er bezeichnete sich als den unglücklichsten aller Menschen, als ein Opfer, das wie ein Wurm zertreten worden sei; er beschwor mich, ihn anzusehen. Ich wollte nicht den Kopf umdrehen, um dieser Aufforderung zu folgen; doch konnte ich aus einem Augenwinkel seinen leichenbitterischen Schatten neben dem meinen dahingleiten sehen, während der Mond, zu unserer Rechten schwebend, sich das Schauspiel hämisch zu betrachten schien. Er suchte – wie ich euch schon gesagt habe – seinen Anteil an den Ereignissen in jener denkwürdigen Nacht zu erklären. Er hatte sich durch Zweckmäßigkeitsgründe bestimmen lassen. Wie konnte er wissen, wer die Oberhand gewinnen würde? »Ich hätte ihn gerettet, Euer Hochwohlgeboren! Ich hätte ihn für achtzig Dollar gerettet«, beteuerte er mit süßlichen Tönen, immer einen Schritt hinter mir. – »Er hat sich selbst gerettet«, sagte ich, »und er hat Ihnen vergeben.« Ich hörte eine Art Gekicher und wandte mich nach ihm um; sogleich schien er die Flucht ergreifen zu wollen. »Worüber lachen Sie?« fragte ich und blieb stehen. – »Lassen Sie sich nicht täuschen, Euer Hochwohlgeboren!« kreischte er, anscheinend ganz die Selbstbeherrschung verlierend. »Er sich retten! Er weiß nichts, Euer Hochwohlgeboren – absolut nichts. Wer ist er? Was will er hier – der große Dieb? Was will er hier? Er streut jedermann Sand in die Augen, auch Ihnen, Euer Hochwohlgeboren; aber mir kann er nicht Sand in die Augen streuen. Er ist ein großer Narr, Euer Hochwohlgeboren!« Ich lachte verächtlich und wandte mich zum Gehen. Er lief mir nach bis zu meinem Ellbogen und flüsterte ungestüm: »Er ist hier nicht mehr als ein kleines Kind – als ein kleines Kind – als ein kleines Kind.« Ich beachtete das natürlich nicht im geringsten, und da er sah, daß die Zeit drängte – wir näherten uns schon dem Bambuszaune, der jenseits des geschwärzten Bodens der Rodung herschimmerte –, so kam er zur Sache. Er begann ekelhaft weinerlich. Seine großen Mißgeschicke hätten seinen Kopf angegriffen. Er hoffte, ich würde gütigst vergessen, was ihm nur seine Leiden erpreßt hätten. Er hätte nichts damit gemeint; nur wisse eben der hochwohlgeborene Herr nicht, was es heiße, zugrunde gerichtet, zusammengebrochen zu sein, jedermann auf sich herumtrampeln lassen zu müssen. Nach dieser Einleitung kam er der Sache, die ihm am Herzen lag, näher, aber in so weitschweifiger, stoßweiser, verrückter Art, daß ich lange nicht begriff, wo er hinauswollte. Er wünschte, daß ich mich bei Jim für ihn verwenden sollte. Es schien auch eine Art Geldangelegenheit zu sein. Ich hörte hin und wieder die Worte »mäßige Provision«, »passendes Geschenk«. Er schien eine Vergütung für etwas zu verlangen und ging sogar so weit, mit einiger Wärme zu erklären, daß das Leben nichts mehr wert sei, wenn man einem alles geraubt habe. Ich erwiderte natürlich kein Wort, aber ebensowenig verstopfte ich meine Ohren. Der Kern der Sache, der mir allmählich klar wurde, war der, daß er als Gegenwert für das Mädchen Anspruch auf eine Geldsumme zu haben glaubte. Er hatte sie aufgezogen. Das Kind eines andern. Hatte ihm viel Plage und Schmerzen verursacht – alter Mann – passendes Geschenk. Wenn der hochwohlgeborene Herr ein Wort für ihn einlegen wollte... Ich blieb stehen, um ihn mit Neugierde anzusehen, und wahrscheinlich aus Angst, ich könnte ihn für erpresserisch halten, bequemte er sich eilends zu einem Zugeständnis. Wenn man ihm sofort ein »passendes Geschenk« gäbe, wäre er bereit, erklärte er, »ohne jede weitere Provision das Mädchen in Obhut zu nehmen, wenn für den Herrn die Zeit gekommen sein würde, wieder heimzukehren«. Sein kleines gelbes Gesicht, ganz verschrumpft, als wäre es zusammengequetscht worden, drückte den gierigsten, unverhohlensten Geiz aus. Er winselte schmeichlerisch: »Keine weitere Mühe – natürlicher Vormund – Geldsumme...«

Ich stand und staunte. Solche Sachen waren offenbar sein Beruf. Ich entdeckte plötzlich in seiner kriechenden Haltung eine Art Sicherheit, als hätte er sein Leben lang mit Gewißheiten gehandelt. Er muß der Meinung gewesen sein, daß ich seinen Vorschlag kühl erwog, denn er wurde so süß wie Honig. Jeder Herr setze eine Provision aus, wenn die Zeit gekommen sei, heimzukehren, fing er wieder an. Ich schlug das kleine Gatter zu. »In diesem Fall, Herr Cornelius«, sagte ich, »wird die Zeit niemals kommen.« Es bedurfte einiger Sekunden, bis er den Sinn dieses Satzes erfaßte. »Was!« schrie er geradezu. »Warum?« rief ich innerhalb des Zaunes. »Haben Sie ihn nicht selbst so sagen hören? Er wird nie heimkehren.« – »Oh! das ist zuviel«, schrie er. Er redete mich nicht mehr mit »Euer Hochwohlgeboren« an. Er war eine Weile ganz still und sagte dann ohne eine Spur von Demut, sehr leise: »Er wird niemals gehen – ah! Er – er – er kommt hierher, der Teufel weiß woher – kommt hierher – der Teufel weiß warum – auf mir herumzutrampeln, bis ich sterbe – ah – herumzutrampeln« (er stampfte mit beiden Füßen auf), »so herumzutrampeln – niemand weiß warum, bis ich sterbe...« Seine Stimme erlosch fast; ein Hüsteln plagte ihn; er kam ganz dicht an den Zaun heran und sagte mir in vertraulichem, kläglichem Ton, daß er nicht auf sich herumtrampeln lasse. »Geduld – Geduld«, stammelte er und schlug sich auf die Brust. Ich hatte aufgehört, über ihn zu lachen, aber er gab mir unvermutet ein wildes, wahnwitziges Gelächter zu hören. »Ha! Ha! Ha! Wir werden sehn. Wir werden sehn! Was? Mir zu stehlen? Mir alles zu stehlen? Alles! Alles!« Sein Kopf sank auf eine Schulter, seine Hände hingen leicht gefaltet vorn herunter. Man hätte meinen können, daß ihm das Mädchen über alles teuer gewesen, daß er durch den grausamen Verlust um den Verstand gebracht und ihm das Herz gebrochen sei. Plötzlich hob er den Kopf und stieß ein Schimpfwort aus. »Wie ihre Mutter – genau wie ihre falsche Mutter. Auch im Gesicht. Im Gesicht. Der Teufel!« Er lehnte seine Stirn gegen den Zaun und gab in dieser Stellung auf portugiesisch in schwachen Lauten schreckliche, mit Klagen und Seufzern vermischte Drohungen und Verleumdungen von sich, die mit einem Heben der Schultern hervorkamen, als wäre er von einem fürchterlichen Erbrechen befallen. Es war ein unaussprechlich toller und widerlicher Anblick, und ich eilte davon. Er rief mir etwas nach. Irgendeine Verunglimpfung Jims wahrscheinlich – doch nicht zu laut, wir waren zu nah am Haus. Alles, was ich deutlich hörte, war: »Nicht mehr als ein kleines Kind – ein kleines Kind!«


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