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Des Vaters Brief

Der Sommer mit seinen Freuden und seiner Lust verging; es wurde September. Kalte, rauhe Winde trieben Bernd von Braunlage herunter in das wärmere Wernigerode. Mit Freuden wurde er daheim begrüßt; alle hatten ihn mehr oder weniger vermißt.

Der Aufenthalt hatte ihm gut getan. Er fühlte sich frischer und konnte sich wieder mit seinen Stöcken im Hause bewegen, wie in früheren Jahren. Das war immerhin ein Fortschritt. Der Arzt hatte ihm zwar keine völlige Genesung versprechen können, aber doch mehr allgemeine Körperkraft und weniger Schmerzen, wenn er sich noch jahrelang im Sommer einer Kur unterziehe.

Seine Mutter, die ihn selbst geholt und mit Doktor Jonas gesprochen hatte, war zwar glücklich über diese Aussicht. Aber eine große Wehmut ergriff sie doch, wenn sie andere junge Leute fröhlich ihre Straße ziehen sah und sich sagen mußte, daß ihr Junge niemals völlig gesund werden könne. Sie hatte das ja gewußt und war für jede kleine Erleichterung in seinem Befinden dankbar; dennoch empfand sie sein Leiden schwerer, je älter er wurde. Es schien ihr auch, als ob Bernd seit seinem Braunlager Aufenthalt trotz seines besseren Befindens nicht so gleichmäßig heiter sei wie sonst. Es lag oft wie leise Traurigkeit über seinem Wesen. Da er bisher indessen jede Regung seines Herzens ihr oder Ilse mitgeteilt hatte, wartete sie geduldig, bis er sich aussprechen würde.

Er arbeitete sehr fleißig. Nach Skizzen, die er in Braunlage entworfen hatte, bemalte er Fächer mit einer Feinheit und einem Geschmack, der die jungen Mädchen immer von neuem entzückte.

Ruth, die seit einigen Wochen in Villa Trautheim weilte, hatte sich sehr schnell eingelebt. Zu Dodos Leidwesen war sie seit der Krankheit nicht mehr der immer lachende Nück, aber sie erwies sich als ein liebenswürdiges Mädchen, mit dem Frau Winterfeld keine Schwierigkeiten hatte. Freilich nur bis zu einer gewissen Grenze, über die hinaus niemand etwas mit ihr anfangen konnte. Sie war eine ziemlich selbständige Natur; freiwillig tat sie alles, zwingen ließ sie sich nicht. Bisher war diese Klippe auch immer glücklich umschifft worden. Alle liebten das frohe, eigenartige Mädchen. In den Bund der Trautheimer war sie mit Begeisterung eingetreten und hatte mit allen Freundschaft geschlossen. So erhielt der Familienkreis durch sie einen angenehmen Zuwachs.

Auch Lisi blieb noch in der Villa Trautheim. Ihre Mutter hatte sich an der See nicht ganz nach Wunsch erholt; darum brachte Herr Lehmann seine Frau auf Anraten des Arztes in ein Sanatorium bei Bozen, wo man die gänzliche Heilung ihres Nervenleidens in Aussicht stellte. Lisi war oft traurig, die liebe Mutter noch länger entbehren zu müssen; sie fühlte sich aber so wohl bei den Trautheimern, daß ihr Kummer stets rasch eine Ableitung fand. Ihren Vater konnte sie ja auch sehen, so oft sie wollte; da kam es zu keinem Heimweh.

Nach einigen Regentagen wurde es wieder warm und sonnig; die jungen Mädchen konnten noch täglich größere Spaziergänge unternehmen, Uboff als Schützer zur Begleitung.

Eines Tages saß Bernd malend am offenen Fenster. Sein Pinsel ruhte jedoch, er sah zu Ruth hin, die Blumen für den Tisch pflückte. Wie eine Gemme, so fein geschnitten hob sich ihr Profil von dem grünen Hintergründe ab. Sie hatte sich zwar erholt, war jedoch zart und schmal geblieben. Das Haar, wieder etwas gewachsen, lockte sich um den feinen Kopf, fiel in die Stirn und umgab ihren Nacken. Eine leichte Röte lag ihr auf den Wangen und ihre großen, dunklen Augen glänzten im Gefühl der wiedergekehrten Gesundheit. Sie bot ein Bild lieblichster Jugendblüte.

Das schien auch ein junger, hochgewachsener Mann zu finden, der jetzt die Straße heraufkam, an der Gitterpforte stehen blieb und mit bewundernden Blicken dem jungen Mädchen zusah. Endlich öffnete er die Tür, trat schnell ein und nahm mit ein paar Sprüngen die letzte Terrasse.

Überrascht wandte Ruth sich um.

Er zog den Hut und verneigte sich. »Giese, Student der Jurisprudenz,« stellte er sich vor. »Können gnädiges Fräulein mir sagen, ob ich meine Schwester Lena zu Hause treffe?«

»Ei,« rief Ruth mit sonnigem Lächeln, »Sie sind Lenas Bruder?«

»Ich habe diese Ehre,« entgegnete er mit einer kleinen Verbeugung.

»Wie wird sie sich freuen! Ja, sie ist zu Hause; ich will – aber jedenfalls wissen Sie hier ebensogut Bescheid wie ich?«

Ehe er zu einer Antwort kam, ertönte vom Hause her ein lauter Jubelruf. So schnell sie nur laufen konnte, kam Lena, die durch Bernd verständigt worden war, den Garten herunter, dem Bruder in die Arme.

»Hans – Hans! Ich freue mich unbeschreiblich! Lieber, alter Junge du!« Sie faßte ihn bei den Schultern und sah strahlend zu ihm auf.

»Grüß Gott, Schwesterherz! Ich habe mir als schönsten Schluß meiner Reise aufgehoben, dich hier zu besuchen. Ist sie gelungen, die Überraschung?«

»Ach, Hans, ich bin selig!« Sie wollte ihn von neuem umarmen, doch er sagte schnell: »Bitte, willst du mich nicht der jungen Dame vorstellen?«

»Was für einer Dame?« Lena sah sich suchend um, denn Ruth hatte sich inzwischen zurückgezogen. »Träumst du mit offenen Augen, Hans?«

Er lachte. »Beinahe scheint es so! Ich hoffe indessen, sie im Hause wiederzufinden. Na, und dir geht es gut?«

»Ausgezeichnet, und über unseren Vater lauten die Nachrichten ja auch bedeutend besser. Mich wundert nur, daß er es so lange auf Amrum aushält. In diesen Tagen will er aber nach Hause reisen. Die Mutter wird sich freuen, wenn er erst wieder daheim ist. Hans, ein paar Tage bleibst du doch hier?«

»Wenn du recht artig bittest, und die jungen Damen mich alle sehr liebenswürdig behandeln, ja, dann bleibe ich vielleicht ein paar Tage.«

»Seht mal diese Einbildung!« Sie lachte laut auf.

Hans schob den Arm unter ihren und ging langsam mit ihr den Garten hinauf. Da erblickte er an einem der oberen Fenster ein rosiges Gesicht mit dunklen Schelmenaugen neugierig herabspähen.

»Wie soll es mir armem Studio hier unter so vielen liebreizenden Mägdelein wohl ergehen?« fragte er seufzend. »Denke nur, wenn sie mich alle, wie die Elfen im Märchen, bezaubern, was tu ich dann?«

Lena ging nicht auf den Scherz ein. »Sie werden es nicht,« sagte sie nur und fügte schnell hinzu: »Du, Hans, hast du in letzter Zeit von Erwin gehört? Ich erhielt seit meinem Geburtstag keinen Brief wieder, und jetzt haben wir schon September.«

»Ich weiß auch nicht mehr, als was ich dir damals samt seinem mir an dich aufgetragenen Gruße mitteilte. Danach war er ja nach Okahandja kommandiert und mußte sofort dahin mit seiner Truppe aufbrechen, da die Station als sehr gefährdet galt und der Feind sich in unmittelbarer Nähe befand.«

»Ich begreife nicht, daß er gar nichts von sich hören läßt,« sagte Lena.

»Gib dich nicht vorzeitig unnützen Sorgen hin, Schwesterherz,« entgegnete er. »Wie leicht kann ein Brief verloren gehen! Oder Erwin ist weiter ins Land hinein kommandiert, wo sich die Gelegenheit, einen Brief zu befördern, nicht leicht findet. Ich verfolge die Nachrichten vom Kriegschauplatz mit großer Genauigkeit; daher weiß ich, daß die unseren auf ihren Zügen oft gänzlich abgeschnitten sind, so daß sie wirklich, so gern sie wohl möchten, keine Briefschaften in die Heimat schicken können. Die Listen der Gefallenen und der Vermißten lese ich natürlich immer zuerst; erfreulicherweise habe ich Erwins Namen bisher nicht darunter gefunden. Also keine traurigen Gedanken, Lena! Aber da kommt die Tante mit ihren Mädchen!«

Er eilte Lena voraus und begrüßte die Verwandten herzlich. Erfreut umdrängten ihn die drei Cousinen und schüttelten ihm die Hände.

»Einen gescheiteren Einfall hättest du nicht haben können, Hans,« rief Ilse fröhlich.

»Es zog mich unwiderstehlich zu euch her, Cousinchen. Aber sag, Tante Marie, kannst du mich auch beherbergen, oder soll ich mir erst schnell eine Unterkunft suchen?«

»Nein, lieber Junge! Im zweiten Stock stehen zwei Fremdenzimmer bereit; du brauchst nur zu wählen.«

»Danke, Tante Marie. Ich werde mich so still und bescheiden deinem Haushalt anzupassen suchen, wie es einem wohlerzogenen jungen Manne zukommt, der deinen Backfischchen kein schlechtes Beispiel geben will.«

»Oho, Herr Vetter! Die meisten von uns sind angehende junge Damen, haben also das Backfischalter hinter sich,« verwies ihn Anna scherzend.

»O weh, wie wird es mir gehen, Tante, wenn ich gleich beim ersten Schritt ins Haus einen solchen Verstoß mache,« seufzte Hans.

»Ich traue es dir schon zu, daß du dich als künftiger Staatsanwalt gewandt zwischen allen Klippen hindurchschlängelst,« entgegnete Frau Winterfeld heiter und ging mit dem Neffen zu Bernd.

Helle Freudenröte flog diesem über das Antlitz, als er des Vetters ansichtig wurde. In Hans bewunderte er alles, was ihm versagt war: männliche Kraft und Tüchtigkeit, eifriges Vorwärtsstreben und einen eisernen Willen, dem keine engen Schranken gezogen waren; wie das frische, kraftvolle Leben erschien ihm der junge Student. An gar keinen Verkehr mit Altersgenossen gewöhnt, war es Bernd schon etwas Neues, den Vetter lebhaft erzählen zu hören.

Hans berichtete, daß er seinen Freund nach Friedrichshafen zu dessen Eltern begleitet habe, dort vier Wochen geblieben sei, dann noch einen Abstecher in die Schweiz gemacht, den Rhein heruntergekommen und teilweise Thüringen durchstreift habe. Seit einigen Tagen sei er im Harzgebiet.

Beim Abendbrot machte er auch die Bekanntschaft der vier übrigen jungen Mädchen. Ein Lächeln des Erkennens glitt über sein Gesicht, als er Ruth ansichtig wurde.

»Ich hatte schon das Vergnügen, das gnädige Fräulein im Garten zu treffen,« sagte er mit einer Verbeugung.

Ruth neigte nur ein wenig den Kopf und setzte sich.

»Du, Hans,« rief Klärchen, »laß es dir bloß nicht einfallen, meine Lisi gnädiges Fräulein anzureden; die lacht dir ins Gesicht.«

»Ja, Hans,« bemerkte Ilse neckend, »es ist nicht einfach für einen jungen Mann, für die verschiedenen Jahrgänge, die sich bei uns zusammengefunden haben, den passenden Ton zu finden.«

»Das dämmert mir auch bereits; ich bitte daher die Damen im voraus um Verzeihung, wenn ich in arger Unkenntnis ...«

Ein fröhliches Lachen erklang, in das er einstimmte.

Er nahm nun seinen Platz zwischen Lena und Ilse ein und sah zu Gertrud hinüber. »Ich kann Ihnen Grüße von Ihrer Frau Mutter bringen, Fräulein Welzin,« sagte er.

»Von meiner Mutter? Haben Sie die gesehen, Herr Giese?«

»Ja, ich komme geradeswegs von Braunlage.«

»Dann sind Sie auch in unserem Erholungsheim gewesen,« rief Dodo lebhaft. »Wie hat es Ihnen gefallen?«

»Außerordentlich!« Ein prüfender Blick flog zu Dodo hinüber; die Grübchen erschienen in ihren Wangen.

»Ich erlasse Ihnen das ›gnädige‹ auch,« sagte sie schelmisch. »Ich habe noch eine Menge Unterrichtsstunden und bin noch lange keine erwachsene junge Dame.«

Hans verneigte sich, dachte aber: »Da rate nun einer, was von diesen niedlichen Mädchen erwachsen ist und was nicht!«

»Lena hat mir,« fuhr er fort, »in ihren seltenen Briefen so viel vom Arbeiterheim und von ihrem Aufenthalt in Braunlage vorgeschwärmt, daß ich mich entschloß, den Harz vom Süden herauf zu durchwandern und über Braunlage hierher zu kommen. Vorgestern abend langte ich spät dort an, blieb im ›Blauen Engel‹ und ging heute morgen nach dem Erholungsheim. Das ist wirklich eine großartige Schöpfung; sie macht dem guten Herzen Ihres Herrn Vaters alle Ehre.«

»Oh, unser Papa ist auch sehr gut!« rief Dodo begeistert.

»Angeregt hat Papa die Sache,« setzte Ruth hinzu, »aber gefördert hat sie Mama.«

»Ja,« fiel Dodo lebhaft ein, »sie hat unseren Großpapa gebeten; der ist nämlich sehr reich und wohnt auch in Magdeburg. Der hat dem Papa eine Menge Geld dazu gegeben, sonst hätte er das Heim nicht jetzt schon bauen können oder es jedenfalls für weniger Personen einrichten müssen.«

»Du schwatzest aus der Schule, Neck,« rief Ilse lachend.

Dodo wurde rot. »Ich erzähle es ja auch nicht jedem Beliebigen, und Papa hat es bei der Einweihung doch selbst gesagt.«

»Jedenfalls ist es eine segensreiche Einrichtung. Es wäre nur zu wünschen, daß auch andere Fabrikherren dem schönen Beispiel folgen möchten,« entgegnete Hans. Dann sprach er noch eingehend mit Gertrud über deren Mutter und widmete sich später den jungen Mädchen.

Der erste Abend war kaum verflossen, da gestanden diese sich untereinander, daß der zukünftige Staatsanwalt ein reizender Mensch sei und Lena alle Ursache habe, stolz auf ihn zu sein.

»Zu schade, daß wir nicht auch so einen netten großen Bruder haben,« sagte Dodo, als sie mit der Schwester in ihrem Zimmer war. »Wie glücklich wäre der Papa! Dann brauchte er die Fabrik später nicht zu verkaufen. Das ist für ihn immer ein trauriger Gedanke.«

»Welche Idee, Dodo! Unsere Fabrik in fremden Händen,« rief Ruth, die vor dem Spiegel stand und ihr Lockenhaar bürstete. »Die bleibt natürlich in der Familie. Eine von uns heiratet einen Mann, der sie später einmal übernimmt.«

Dodo blieb der Mund offen stehen vor Verwunderung. »Will Papa das?« fragte sie.

»Wollen? Nein, zwingen ließe ich mich auch niemals. Ich halte es aber für eine Ehrensache, weil die Fabrik nun schon so lange unserer Familie gehört. Da ich die Älteste bin und mich auch mehr für die Fabrik interessiere, ist es selbstverständlich, daß ich mal die bin, die den richtigen Schwiegersohn für Papa finden muß. – Es war zu schön,« fuhr sie nach einer Pause fort, »wenn Papa nach meiner Krankheit bei mir saß und mir allerlei aus der Fabrik und von den Leuten erzählte. Das gefiel mir sehr gut und ich konnte auch sehen, wie glücklich Papa über mein Interesse war. Da sagte er denn einmal: ›Schade, mein lieber Nück, daß du kein Junge bist! Aus dir könnte mir ein würdiger Nachfolger erwachsen.‹ Damals kam mir zuerst der Gedanke, was meine Pflicht sei. Natürlich könnte ich auch als Mädchen die Fabrik mal weiterführen; heirate ich aber, dann muß selbstverständlich mein Mann sie übernehmen.«

»Das hast du dir eigentlich wunderhübsch ausgedacht,« sagte Dodo anerkennend. »Weiß Papa schon davon?«

»Nein, das hat ja noch lange Zeit.«

In der offenen Tür ihres Zimmers erschien jetzt Lena. »Wenn du nun aber mal einen Mann heiratest, der meinetwegen Offizier ist, oder Künstler, oder Gelehrter, wie soll es dann werden?« fragte sie, in hohem Grade interessiert.

»Na, dann gibt er natürlich seinen Beruf auf und tritt in die Fabrik ein,« erwiderte Ruth in größter Seelenruhe, als ob sich das alles von selbst verstünde.

Lena machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ich glaube, nicht jeder Mann würde das tun,« entgegnete sie dann ernst.

»Es kann natürlich auch nur von einem auserlesenen Menschen die Rede sein,« erklärte Ruth großartig. »Will er mir das Opfer nicht bringen, dann wird natürlich nichts aus der Sache; das ist doch sehr einfach.«

»O Nück, wie du das sagst! Es klingt wundervoll,« rief Dodo entzückt.

Lena erwiderte nichts. Schweigend zog sie sich in ihr Zimmer zurück.

Bald hatte sie Ruth und deren Zukunftspläne ganz vergessen. Ihre Gedanken flogen zu dem fernen Freund, um den sie sich immer mehr Sorgen machte. Ob Erwin seinen schönen Beruf wohl aufgeben würde, um reicher Fabrikbesitzer zu werden? Sie lachte leise in sich hinein. Das wußte sie ganz genau: wenn Erwin dereinst sich eine Braut wählte, mußte sie ihm folgen, und sollte es sogar bis nach Südwest sein!

Lena erschrak so heftig bei diesem Gedanken, daß sie plötzlich kerzengerade im Bette saß. Was kümmerte es sie eigentlich, was Erwins Frau dereinst tat? Rein gar nichts! Von ihr selber wurde ja so Ungeheuerliches nicht verlangt.

Erleichtert legte sie sich wieder auf die Kissen, aber sie konnte lange nicht einschlafen.

Am folgenden Nachmittag erließ Frau Winterfeld den jungen Mädchen die Handarbeitstunde, um mit ihnen und Hans einen größeren Spaziergang zu unternehmen. Da es ein Samstag war, also auch die beiden Jüngsten mitgehen konnten, herrschte allgemeine Freude. Gleich nach Tisch schnitten Anna und Ilse Butterbrot und packten ein Vorratkörbchen; dann wurde Abschied von Bernd genommen.

»Soll ich nicht bei dir bleiben?« fragte Ilse, die allein außer der Mutter einen Schatten auf seiner Stirn bemerkte.

Er lächelte freundlich. »Auf keinen Fall, Große! Ich will fleißig malen; außerdem behalte ich Uboff zur Gesellschaft hier. Geh und sei recht vergnügt, Ilse!«

Sie konnte sich aber nur schwer von dem Bruder trennen und winkte ihm Grüße zu, solange sie sein blasses Antlitz zwischen den Blüten und den grünen Blättern des wilden Weins, der den Balkon umrankte, sehen konnte. Ihr war, als müsse es ihm heute besonders schwer fallen, an seinen Stuhl gefesselt zu sein. Glücklicherweise sah sie den schwermütigen Blick nicht, mit dem er ihr nachschaute; sie wäre nicht zum ungetrübten Genuß des Spaziergangs gekommen.

Die jungen Mädchen hätten schon längst gern der Fütterung der Wildschweine im fürstlichen Wildschweinpark einmal beigewohnt; bisher war es aber nie dazu gekommen. Dodo hatte nun am Morgen den Vorschlag gemacht, den heutigen Spaziergang dazu zu benutzen, und alle hatten lebhaft zugestimmt. Hans wäre lieber weiter gegangen, freute sich aber, den jungen Mädchen einen Gefallen erweisen zu können.

Es war ein klarer Herbsttag. Das Laub der Eichen und Buchen begann sich zu röten und schuf herrliche Färbungen zwischen den dunklen Tannenwäldern. Jede einzelne Kuppe des Hochgebirges hob sich scharf von dem reinen Himmel ab. Es war ein Vergnügen, über die Berge zu wandern.

»Es gruselt mich schon,« sagte Dodo, als sie den Park erreichten und an Hans vorübergingen, der die Eingangstür offen hielt.

»Durchaus unnötig, Fräulein Dodo. Zur Sicherheit werde ich an Ihrer Seite bleiben.«

»Ach ja, bitte, Herr Giese! Sie glauben nicht, was für eine Beruhigung mir das ist; ohne männlichen Schutz hätte ich mich überhaupt nicht hergewagt. Aber wo sind denn die Tiere?« fragte sie und sah sich neugierig um.

»Wir gehen bis zur Futterstelle; dort versammeln sich die Wildschweine, sobald es sechs Uhr ist. Tiere haben ein sicheres Gefühl für die Zeit der Fütterung. Ich bin oft bei Onkel und Tante zu Besuch gewesen und dann auch häufig hierhergegangen, um zuzusehen. Es ist sehr ergötzlich, wenn die Tiere auf den Pfiff des Jägers, dem ihre Pflege obliegt, von allen Seiten herbeigelaufen kommen.«

»Können sie den Menschen nicht gefährlich werden,« erkundigte sich Dodo und spähte ängstlich in das dichte Unterholz.

»Davon hat man hier noch nie etwas gehört, im übrigen dürfen Sie das gute Zutrauen zu mir haben, Fräulein Dodo, daß ich Sie bis auf den letzten Blutstropfen verteidigen werde.«

»Spotten Sie nur! Ich habe aber doch gelesen, daß alte Keiler sehr bösartige Tiere sein sollen.«

»Wenn sie in Wut sind, möchte ich ihre nähere Bekanntschaft auch nicht ohne eine Flinte machen,« scherzte Hans. »Aber beruhigen Sie sich, Fräulein Dodo! Wenn die geringste Gefahr vorläge, würde der Eintritt in den Park ja überhaupt nicht erlaubt sein.«

Nach einer kurzen Wanderung erreichten sie die Futterstelle, einen runden Platz im Tannenwalde, in dessen Mitte der ziemlich hohe Futterkasten stand. Nur einige ältere Wildsauen führten ihre Sprößlinge dort spazieren. Die Frischlinge machten den jungen Mädchen durch ihr drolliges Wesen viel Spaß.

»Ich hätte nie geglaubt, daß ein Wildschweinbaby so niedlich sein könnte,« rief Dodo. »Ich habe nicht ein bißchen Angst mehr.«

»Na – na –« sagte Hans gedehnt.

Aber Dodo fühlte einen Riesenmut in sich. Sie machte mit Klärchen und Lisi Jagd auf die Frischlinge, um eins zu streicheln, bis Annas Ruf: »Wer will Birnen und Butterbrot,« sie zu dem Berghang zurücklockte, wo sich die Gesellschaft gelagert hatte.

»Der Jäger kommt noch nicht, Kinder,« sagte die Mutter. »Wir können da in aller Ruhe essen.«

Nach und nach kamen von allen Seiten große und kleine Wildschweine gelaufen.

»Wie fein wir hier sitzen, gerade wie in einem Amphitheater,« bemerkte Lena.

»Ja, ich fühle mich hier oben vollkommen sicher,« erklärte Dodo, schrie aber im nächsten Augenblick gellend auf, als zwischen ihr und der vor Schreck erstarrten Lisi ein mächtiger Keiler, der hinter ihnen aus dem Walde den Berg herunterkam, mit ärgerlichem Grunzen hindurchschoß. Aufspringen, nach einem entsetzten Blick, der den drei noch hinterher folgenden Vierfüßlern galt, hinunterrennen und mit einem kühnen Satz auf die Futterkiste springen, war für Dodo eins. Auf diesem erhabenen Standpunkt hielt sie sich für völlig sicher. Sie hatte jedoch nicht damit gerechnet, daß gerade die Kiste auf die Wildschweine eine besondere Anziehungskraft ausübte. Mit lautem Grunzen drängten alle heran, große und kleine, alte und junge, stiegen mit den Vorderbeinen am Rand in die Höhe und ein mächtiger Keiler stieß mit den Hauern nicht eben sanft gegen die Futterkiste. Immer mehr Schweine kamen angerannt; als ob der ganze Wald lebendig würde, tauchten rechts und links die häßlichen, plumpen Körper auf. Es war ein urkomischer Anblick, die zierliche weiße Mädchengestalt wie auf einem Postament inmitten der sie umgebenden, laut nach Futter grunzenden, sich hin und her schiebenden schwarzbraunen Masse.

Aber schon eilte Hans ihr zu Hilfe.

»Schnell, schnell,« rief Dodo und streckte ihm die Hände entgegen, »die Untiere stoßen mich noch um – oh – bitte, schnell!«

Da hatte er sich auch schon einen Weg zu ihr gebahnt, hob sie auf und trug sie sicher durch die aufgeregte Herde hindurch zu der Tante, die sich doch etwas um ihren Schützling beunruhigte.

Bild: Richard Gutschmidt

Auf diesem erhabenen Standpunkt hielt sie sich für völlig sicher.

Die Mädchen wollten sich ausschütten vor Lachen.

»Dodo als Heldin inmitten ihrer Vasallen,« rief Ilse. »Schade, daß wir dieses Bild nicht verewigen konnten!«

»Ja, du machtest dich reizend, Neck, in deiner ganzen Erhabenheit,« scherzte Ruth und trocknete die Tränen von Dodos Wangen.

»Ihr habt gut lachen,« versetzte diese kläglich. »Bei euch ist das schreckliche Vieh nicht hindurchgeschossen. Diese Hauer! Davon träume ich heute nacht noch. Kommt kein Wildschwein mehr?«

»Die Herrschaften sind sämtlich versammelt. Mancher Mensch könnte Pünktlichkeit von ihnen lernen,« erwiderte Hans mit einem neckenden Seitenblick auf Lena. »Da kommt auch der Jäger. Jetzt brauchen Sie sich nicht mehr zu fürchten, Fräulein Dodo.«

Mit lautem Quieken und Grunzen wurde der Mann von dem Schwarzwild begrüßt. Gelassen ging er auf die Kiste zu, versetzte den dreistesten Tieren einen kleinen Klaps und schloß auf. Hans trat zu ihm und auch die Damen wagten sich ein wenig näher. Sehr possierlich war es, wie die Tiere sich auf das hingestreute Futter stürzten, einander wegdrängten, wegbissen und überkugelten, um nur die ersten zu sein. Das ging nicht ohne Geschrei und heftiges Grunzen ab, aber schließlich kam doch jedes der Wildschweine zu seinem Recht.

Endlich wurde Dodos Bitte, das Feld zu räumen, solange die Tiere noch friedlich fraßen, nachgegeben.

»Hat es Ihnen kein Vergnügen gemacht, Fräulein Dodo?« fragte Hans lächelnd.

»Es war jedenfalls sehr mäßig, und eins weiß ich gewiß: ich mache in meinem Leben den Borstentieren meine Aufwartung nicht wieder! Ich habe ein für allemal genug von diesem ersten Besuch.« Sie schaute ängstlich nach rückwärts, solange sie sich im Wildpark befanden, und atmete erst befreit auf, als das schützende Gatter hinter ihr zufiel.

Über den hochgelegenen Erbgrafenweg ging es nun wieder heimwärts. Ein herrlicher Sonnenuntergang folgte dem schönen Herbsttage. Rote und goldene Lichter spielten über das ganze Brockengebiet und übergossen die in bläulichen Hauch gehüllten Gipfel mit einem Glorienschein.

»Tante,« schlug Hans vor, »können wir nicht einmal zeitig früh aufbrechen, nach Rübeland gehen und die Hermannshöhle besuchen? Für Fräulein Dodos Sicherheit verspreche ich besonders einzustehen.«

»Ach ja, gleich morgen, Mutter; bitte, laß uns morgen gehen, sonst können wir nicht mehr mit,« flehten Lisi und Kläre.

»Kinder, dann wäre Bernd ja wieder allein.«

»Ich bleibe bei ihm,« erklärte Ilse schnell. »Gewiß, ich tue es gern; ich war am häufigsten von uns allen in der Höhle.«

»Aber du, Ruth, müßtest entweder auf dem Hinweg oder zurück fahren.«

»Tante, ich bin heute nicht im geringsten müde,« bat Ruth. »Laß mich also wenigstens erst hingehen. Fühle ich mich dann zu matt, verspreche ich, es zu sagen. Ich weiß genau, was ich mir zutrauen kann,« fügte sie liebenswürdig, aber auch entschieden hinzu.

Tante Marie nickte. »Wir sprechen noch darüber, liebe Ruth,« sagte sie freundlich.

Ruth antwortete nichts weiter; sie ließ sich mit Hans in ein Gespräch ein und schritt mit ihm voran.

»Was mein Nück nicht als notwendig einsieht, das tut sie nicht,« sagte Dodo leise zu den anderen. »Aber, Lena, schade, daß dein Hans nicht Siegfried heißt! Tapfer und mutig ist er, das hat er vorhin bewiesen.«

»Wenn sein Mut nicht weiter reichte, als zu jener Heldentat im Wildpark, dann wäre es traurig um ihn bestellt, Dodo.«

Daheim empfing Bernd sie mit seinem lieben, heiteren Lächeln. Sophie hatte dafür gesorgt, daß man sich sogleich an den Teetisch setzen konnte. Nach der Mahlzeit zog sich Frau Winterfeld in ihr Zimmer zurück, einen inzwischen eingegangenen Brief ihrer Schwester zu lesen.

»Hast du gute Nachrichten von daheim erhalten, Tante Marie?« forschte Hans, als sie bald nachher zu der Jugend auf den geräumigen Balkon trat.

Sie nahm einen Stuhl und setzte sich. »Ja, Kinder, eure Mutter schreibt sehr erfreut, daß euer guter Vater am Dienstag heimkehrt. Sie läßt herzlich grüßen und hofft, daß du, lieber Hans, dann zu Hause bist.«

»Natürlich! Ich habe mich ja so eingerichtet, zum Empfang meines alten Herrn daheim zu sein.«

Lena seufzte unwillkürlich. Da sah die Tante sie freundlich an.

»Möchtest du auf einige Tage mitfahren?« fragte sie.

»Tante –« Lena sprang auf, rot vor Freude – »darf ich wirklich? Oh, wird das herrlich, so als Überraschung zu Hause aufzutauchen! Nicht, Hans?«

»Freilich. Ich verpflichte mich auch, dir deine Schutzbefohlene wieder herzubringen, Tante Marie.«

»Aber liebster Junge –«

»Selbstredend, Tante! Mein sorgendes Bruderherz würde es mir nie erlauben, meine Schwester, genannt Flattergeist, allein auf die Reise gehen zu lassen.«

»Hans, du bist der reine Spottvogel!«

»Mutter?« fragte Anna sehr zögernd.

»Ja, meine liebe Maus, jetzt, da die Sache entschieden ist, sollen alle erfahren, was uns schon seit Wochen beschäftigt hat. Anna will nämlich in eine Haushaltungsschule eintreten, Hans, um sich für die Zukunft eine selbständige Stellung zu verschaffen. Ihre Gaben liegen auf diesem Gebiet und ich bin froh, daß eure Eltern, Hans und Lena, sich bereit erklärt haben, sie bei sich aufzunehmen. Dadurch wird mir die Sache wesentlich erleichtert. Meine Schwester schreibt, daß Anna angemeldet ist und zu Ostern eintreten kann.«

»Wie freue ich mich und wie will ich mich anstrengen, um recht gute Zeugnisse zu erzielen,« rief Anna mit glänzenden Augen. »Dann bekomme ich hoffentlich eine gute Stellung. Die Haushaltungslehrerinnen sollen ja vorläufig noch nicht zahlreich sein und später – oh, ich habe große Pläne und Mutter ist einverstanden! Dann wird Villa Trautheim in eine richtige Haushaltungsschule umgewandelt. Natürlich müssen wir später noch ein Stück Grund kaufen, um einen Gemüsegarten, einen Hühnerhof und was sonst fehlt, anzulegen; aber ich will auch soviel wie möglich sparen, wenn ich erst etwas verdiene.«

»Da hast du dir deine Zukunft ja schon regelrecht aufgebaut, Anna,« sagte Hans anerkennend. »Du weißt wirklich, was du willst, und gehst gerade auf dein Ziel los. Glück auf, Cousinchen!«

»Danke, Hans!« Anna errötete vor Freude über des Vetters Lob und übersah dabei, daß sich Ilses Gesicht verfinstert hatte. Erst Hans' Frage: »Nun, Ilse, und du? Ist dein Lebensplan auch schon klipp und klar?« ließ sie nach der Schwester hinblicken.

»Nein.« Nur dies eine kleine Wort kam kurz und herb von Ilses Lippen; stumm wandte sie dann den Kopf und starrte in das Grün des Gartens hinab.

Forschend sah Hans zu der Tante hin, die aber wandte sich Ruth zu und fragte liebreich: »Bist du müde geworden, mein Herz? Du siehst blaß aus und hast matte Augen.«

»Ja, ich bin müde.« Mit reizendem Lächeln und anmutiger Bewegung ergriff Ruth Frau Winterfelds Hand. »Du hast recht, liebe Tante, der doppelte Weg würde mir morgen zu viel werden. Es ist besser, ich fahre eine Strecke.«

»Das ist recht. Deine Eltern haben mich noch besonders gebeten, dich vor übergroßer körperlicher Anstrengung zu hüten. Aber nun, ihr lieben Mädchen, zu Bett, für Bernd wird es auch hohe Zeit. Hans, du rauchst gewiß noch gern eine Zigarre? Ich setze mich nachher ein halbes Stündchen zu dir.«

An diesem Abend lag Ilse noch lange wach. Sie hatte ja gewußt, daß die Mutter einleitende Schritte für Anna getan hatte, und war davon bisher nicht sonderlich berührt worden. Jetzt aber, da die Pläne eine greifbare Gestalt annahmen, und sie gewahr wurde, wie zielbewußt die Schwester vorging, drängte sich ihr die Frage nach der eigenen Zukunft gebieterisch auf. Die völlig talentlose Maus, die sie zuweilen heimlich bemitleidet hatte, besaß so viel Willenskraft, sich durch Fleiß, Ausdauer und völlige Hingabe an den gewählten Beruf eine Lebensstellung aufzubauen; sie selbst dagegen, die immer als des Vaters getreuestes Ebenbild gegolten, hatte einen so schwachen Willen, daß sie schon vor dem bloßen Gedanken an die Zukunft zurückschreckte?

Sie wußte nicht, wie tief und schwer sie seufzte, sie hörte nur, wie jemand über die Dielen huschte und sich zu ihr auf den Rand des Bettes setzte.

»Ilse, was fehlt dir?« fragte Anna leise. »Ist es dir nicht recht, daß ich zu Ostern nach Berlin gehe?«

»Doch! Wie kannst du nur so etwas denken, Anna! Ich freue mich und will dir wünschen, daß deine Pläne sich alle verwirklichen.«

»Ja, siehst du, Ilse, Mutter und ich haben hin und her überlegt, was das beste für mich sei. Nun ist es ihr ein lieber, tröstlicher Gedanke, daß ich einmal ihr begonnenes Werk in größerem Maßstabe weiterführen könnte. Dann bliebe Bernd in den gewohnten Verhältnissen und uns allen würde das Heim erhalten, auch wenn wir unsere liebe Mutter dereinst nicht mehr haben.«

»Wie weit voraus du schon denkst, Anna! Aber du hast recht, tausendmal recht! Nur ich – was soll aus mir werden? Warum mußte unser Vater von uns gehen und mich so ratlos zurücklassen!« Sie schlug die Hände vor das Gesicht und brach in so verzweifeltes Weinen aus, daß Anna in der ersten Bestürzung kein Wort äußerte.

»Arme Schwester,« sagte sie dann leise und streichelte ihr das Haar, »ja, für dich ist es besonders schwer, daß unser lieber Vater uns verlassen mußte. Aber Gott wird dir sicher den richtigen Weg weisen, fasse du nur selbst den Mut, ihn zu erkennen. Wie gern würde ich dir helfen, Ilse! Wirklich, ich wäre glücklich, könnte ich ein Opfer für dich bringen.«

»Gute Schwester! Aber ich muß allein mit mir fertig werden, mir kann niemand helfen. Du hast ganz recht, ich muß Mut haben. Der ist mir verloren gegangen, aber ich werde ihn schon wiederfinden. Gehe jetzt schlafen, Maus! Gute Nacht!«

»Gute Nacht, Ilse! Versuche auch, zur Ruhe zu kommen.« Sie schlüpfte in ihr Bett, und da drüben alles still blieb, schlief sie bald ein.

Ilse aber fand noch lange keine Ruhe.

Am nächsten Morgen ging sie früh zur Mutter.

»Gib mir des Vaters Brief,« bat sie.

»Ich wußte, daß du mich heute darum bitten würdest, liebe Tochter. Treibt dich wirklich die innere Notwendigkeit, des Vaters letzten Wunsch zu erfahren, oder sind es andere Gründe? Darüber mußt du dir völlig klar sein. Nein, Ilse,« setzte sie schnell hinzu, als die Tochter errötete, »ich bin fest überzeugt, daß du dich herzlich über Annas Entschluß freust, sollte er und Hans' Frage aber nicht dennoch zu deinem eigenen Entschluß beigetragen haben?«

»Ich will nicht leugnen, Mutter, daß er dadurch beschleunigt wurde, aber gerade in der letzten Zeit habe ich heftig mit mir gerungen. Ich kann diesen Zwiespalt in mir nicht länger ertragen. Alles Schöne, was ich in der Natur oder an Kunstwerken sehe, jede schöne Linie, jede edle Form begeistert mich und drängt mich hin zur Kunst, wenn ich dann aber denke, daß ich nur zum Gewerbe tauge, wird alles starr und tot in mir. Ich halte das nicht länger aus. Ich muß zu einem Entschluß kommen, so oder so!«

»Wenn es so steht, liebes Kind, dann bist du wohl reif für des Vaters Brief,« entgegnete die Mutter, schloß ihren Schreibtisch auf und reichte Ilse das versiegelte Schriftstück.

Ein seltsamer Schauer überrann das Mädchen. Noch einmal sollte sie Zeilen von des Vaters Hand lesen, noch einmal seinen Rat hören? Wie ein Ruf aus einer anderen Welt würde es ihr sein.

Eine große Angst ergriff sie. Sie wußte plötzlich, daß sie, wie durch eine höhere Gewalt gezwungen, bedingungslos des Vaters letzten Wunsch erfüllen würde. Wie in Fesseln geschlagen fühlte sie sich, als ob ihr eigener freier Wille für alle Zeiten verloren gehen sollte. Sie erblaßte so, daß die Mutter, die ahnte, was in ihr vorging, sie bewegt in die Arme schloß.

»Mein teures Kind,« sagte sie liebevoll, »vergiß nicht, daß dein Vater dir nur raten, dich aber nicht auf einen Weg zwingen wollte, der dir nicht zusagt und deshalb vielleicht nicht zu deinem Glücke führt. Du bleibst auch nach dem Lesen des Briefes genau so frei in der Bestimmung über deine Zukunft wie vorher. Nun sei Gott mit dir, meine Ilse! Es wird mir schwer, gerade heute den ganzen Tag von dir fern zu sein, aber ich kann die Mädchen nicht allein gehen lassen und du mußt dich auch selbst durchringen. Davor kann selbst die treueste Mutterliebe dich nicht schützen.«

»Meine gute Mutter! Ich danke dir, und sorge dich nicht um mich! Ich habe mir fest vorgenommen, des Vaters tapfere Tochter zu sein.«

Freundlich lächelnd stand sie später auf dem Balkon und winkte den Abziehenden Grüße nach, besorgte dann schnell, was ihr in der Wirtschaft zu tun oblag, legte dem Bruder zurecht, was er zum Malen brauchte, und eilte schließlich hinauf ins Atelier. Nur hier konnte sie des Vaters letzte Zeilen lesen.

Voll ehrfürchtiger Scheu erbrach sie den Brief. Tränen stürzten ihr aus den Augen, als sie die teuren Schriftzüge und die Überschrift las: »Mein geliebtes Kind!« Der ganze Jammer um den Verstorbenen überfiel sie mit unwiderstehlicher Gewalt.

Sie hatte aber doch schon gelernt, sich zu mäßigen und zu beherrschen. So gab sie sich nur einem kurzen Ausbruch ihres Schmerzes hin, dann drängte sie die Tränen zurück und begann unter heftigem Herzklopfen zu lesen.

 

»Noch einmal muß ich zu Dir sprechen, so, als säße ich neben Dir und sähe Dir in die Augen. Vielleicht liest Du diese Zeilen bald, vielleicht werden Wochen, Monate oder Jahre vergehen. Wann es aber auch sei, liebe Tochter, laß mich bemerken, daß Du stets frei wählen sollst. Nur einen Rat erteilen will ich Dir, den Du indessen nicht zu befolgen brauchst. Wissen sollst Du, welche Absichten und Hoffnungen ich für Dich hegte; in Deinem endgültigen Entschluß sollst Du frei bleiben.

Dereinst gleich mir Landschaften zu malen, das war von jeher Dein Herzenswunsch. Dein Talent, liebe Tochter, liegt jedoch auf ganz anderem Gebiet. Ich habe mein möglichstes getan, Dich allmählich durch den Unterricht darauf hinzuleiten, Du bist mir auch stets willig gefolgt, aber nur bis zu einer gewissen Grenze. Sobald das Wort ›Kunstgewerbe‹ fiel, zuckte es spöttisch um Deine Lippen und in Deinen Augen blitzte es verächtlich auf. Ich gab aber die Hoffnung nicht auf, Dein starkes Talent würde Dir mit der Zeit den rechten Weg zeigen, und bin auch jetzt noch fest überzeugt, Du wirst nicht eher zur Ruhe kommen, als bis Du gerade diesen Weg eingeschlagen hast.

Wenn es mir doch gelingen wollte, Dir durch meine Worte klarzumachen, was für eine hohe Bedeutung das Kunstgewerbe in der jetzigen Zeit hat, und wie falsch Deine Ansicht ist, daß kein großes Talent dazu gehört, sich ihm zu widmen! Im Gegenteil, es verlangt auf all seinen weiten Gebieten ganze Künstler, und gerade Du besitzest einen so ungewöhnlich feinen Formensinn, daß Dir hier ein reiches Feld blühen würde und Du Bedeutendes leisten könntest.

Wäre ich gesund geblieben, hätte ich Dich im nächsten Winter auf einige Wochen nach Berlin gebracht, um mit Dir die Ateliers unserer großen Meister und Meisterinnen zu besuchen. Dann hättest Du Dich durch eigene Anschauung überzeugen können, daß es kein ›Heruntersteigen‹ bedeutet, sich dem Kunstgewerbe zu widmen.

Das Glück, Dich selbst einzuführen und Dich den geeigneten Meistern zu übergeben, wird mir leider versagt sein, den Weg aber kann ich Dir bahnen, falls Du ihn einschlagen willst. Mutter und ich haben eingehend darüber gesprochen. Wir hoffen, daß Onkel und Tante in Charlottenburg Dich während Deiner Studienzeit bei sich aufnehmen werden.

Du bittest, sobald Du Dich entschlossen haben solltest, in das Kunstgewerbemuseum einzutreten, persönlich um Aufnahme und legst die besten von Deinen Studienblättern vor. Für das vorteilhafteste würde ich es halten, wenn Du Dich für die Klasse meldetest, in der Pflanzen nach der Natur gezeichnet werden. Du lernst sie dort in ihrer dekorativen Verwertung kennen und wirst schnell die Naturform in die Kunstform zu bringen wissen. Beherrschst Du erst die Stilisierung gründlich, wird es Dir hochinteressant sein und große Freude bereiten, eigene Entwürfe zu machen. Ferner nimmst Du Unterricht bei einem Bildhauer, um Modellieren zu lernen; da schlage ich Dir Professor Wagner vor, mit dem ich gut bekannt war. Verbringe ihm meine Grüße und – ich bin dessen sicher – er wird Dich dann als Schülerin aufnehmen.

Wie lange Du zu Deinen Studien brauchen und welchem Zweige des Kunstgewerbes Du Dich dereinst zuwenden wirst, kann ich nicht sagen; ich vermute aber, daß die Kunsttöpferei Dich am meisten anziehen wird. Wie dem aber auch sein mag, mein Segen geht mit Dir, geliebte Tochter, auch dann, wenn Du Dich einem anderen Beruf zuwenden solltest.

Und nun behüte Dich der Herr im Himmel, meine geliebte Große! Er schenke Dir Glück und Befriedigung auf Deinem Lebenswege und geleite Dich mit seinem Segen! Werde das auch Deiner Mutter, Deinen Geschwistern! Bleib meine Große in allen Kümmernissen, in allen schweren Stunden! Du kannst es. Der Herr sei mit Dir!

Dein Vater.«

 

Im Übermaß ihres Gefühls sank Ilse an der Staffelei nieder.

»Mein lieber, guter Vater, wie danke ich dir,« sagte Ilse leise vor sich hin. »Ja, ich will deine Große sein, dein tapferes Kind, dir nachzustreben suchen. Wie töricht war ich, deinen lieben Brief nicht früher zu lesen! Als ob mir von dir etwas anderes denn Gutes kommen könnte!«

Mit feuchten Augen sah sie zu seinem letzten Werke auf. »Ich will deiner würdig werden, Vater,« wiederholte sie laut und feierlich, dann erhob sie sich und las den Brief noch einmal durch.

Auf dem Balkon unten saß Bernd und wunderte sich, daß Ilse ihn so lange allein ließ. Das war sonst nicht ihre Art. Da hörte er ihren leichten Schritt im Zimmer. Erfreut sah er ihr entgegen, aber das Wort erstarb ihm auf den Lippen, so blaß und ernst trat sie vor ihn.

»Ich habe soeben Vaters Brief gelesen, Bernd. Hier ist er, du allein sollst seinen Inhalt noch erfahren. Die Mutter kennt ihn bereits.«

Sie lehnte sich an die Brüstung und blickte in die liebliche Landschaft hinaus.

»Ilse, komm her zu mir,« bat er, als er fertig war. Forschend sah er ihr in die Augen.

»Ich will Vaters Rat befolgen,« antwortete sie auf seine stumme Frage. »Ich bin ihm unendlich dankbar und will seiner höheren Einsicht völlig vertrauen. Jedes Wort aus seinem Briefe redet so vertraut zu mir, daß ich mich in die alte glückliche Zeit, in der er noch bei uns war, zurückversetzt fühle. Wie mein teuerstes Kleinod will ich den lieben Brief hüten und mir immer wieder Mut und Freudigkeit aus ihm holen, sollten die alten Zweifel mich von neuem überfallen. Nun will ich auch wieder fleißig zeichnen, Bernd.«

Er drückte ihr die Hand. »Meine liebe Große! Ich wußte, daß der entscheidende Zeitpunkt nicht fern war, ich sah zu oft die Sehnsucht in deinen Augen aufleuchten. Lange konntest du nicht mehr zögern, dir des Vaters Brief geben zu lassen. Glaube mir, Ilse, jetzt bist du auf dem rechten Wege.«

»Du hast recht, Bruder, das fühle ich an der Ruhe und Stille in mir, an der Hoffnung, die schon ganz leise die Schwingen regt. So in den Tag hineinleben konnte ich nicht länger, ich mußte zu irgendeinem Entschluß kommen. Was ich aber auch ergreifen werde, das Menschenmögliche will ich auf meinem Gebiet erreichen.« Ihre Augen glänzten und die Röte kehrte in ihre blassen Wangen zurück.

»Du wirst es auch erreichen, Ilse, dafür bürgt dein Talent und deine Willenskraft.«

»Nun will ich erst des Vaters liebes, kostbares Vermächtnis verschließen und dann« – ihr Blick fiel zufällig auf die Uhr – »Bernd, es ist ja schon Mittagszeit!«

»Ja, Schwesterherz, und ich fühle einen rechtschaffenen Hunger.«

»Hast du kein zweites Frühstück bekommen, Berni?«

»Laß gut sein, Ilse, es soll mir jetzt um so besser schmecken.«

Sie eilte aus dem Zimmer und brachte ihm die Kakesdose und ein Gläschen Wein.

»Eine kleine Stärkung nur, und verzeih, daß ich dich fasten ließ. Nun geht es mit Windeseile.«

Bild: Richard Gutschmidt

Ilse lehnte sich an die Brüstung und blickte in die liebliche Landschaft hinaus.

Gegen sechs Uhr kamen Anna und Ruth mit dem Omnibus zurück, nur wenig später die übrigen Wanderer, die Fußwege benutzt hatten. Ilse lief der Mutter entgegen.

»Kind!« Mit banger Frage sah Frau Winterfeld der Tochter in die Augen.

»Mutter,« sagte Ilse schnell, »ich will alles tun, was der Vater für richtig befunden hat. Ich bin nun auch wieder froh und hoffnungsreich.«

»Dem Himmel sei gedankt, mein liebes Kind! Wie glücklich bin ich! Alles nähere später, mein Herz! Es gibt nun viel zu überlegen.«

Abends, als die Schwestern allein in ihrem Zimmer waren, erzählte Ilse der Maus alles. Anna freute sich sehr, dann aber machte sie ein so bedenkliches Gesicht, daß Ilse erstaunt fragte: »Was ist denn los, Maus?«

»Ich dachte nur daran, daß du dann zu Ostern gewiß auch nach Berlin willst.«

»Natürlich! Ich werde doch nicht unnötig noch länger warten.«

»Ich fange nur davon an, weil ich doch schon in der Schule angemeldet bin und Tante Giese nur ein kleines Fremdenzimmer hat, in dem bloß ein Bett stehen kann. Lena geht ja zu Ostern auch wieder nach Hause, ich weiß daher nicht, wo die Tante dann noch eine zweite von uns unterbringen soll.«

»Dann gehe ich in irgendeine Pension.«

»Aber, Ilse, wie soll Mutter das alles bezahlen!«

»Das weiß ich nicht. Du glaubst doch aber nicht im Ernst, daß ich von Ostern ab noch ein ganzes langes Jahr warte? Ich will vorwärts, ebensogut wie du; das mußt du doch begreifen.«

Anna antwortete nicht. Schweigend gingen die Schwestern, die sich sonst stets noch viel zu erzählen hatten, zu Bett.

Am nächsten Morgen fuhren Hans und Lena nach Charlottenburg, gleichzeitig packten Ruth und Dodo ihren Koffer. Sie wollten auf einen Tag nach Hause, Herrn Frankentals Geburtstag mitzufeiern, der mit dem Ruths zusammenfiel. Ilse, die eingeladen war, die Schwestern zu begleiten, wäre nun lieber zu Hause geblieben, um sofort Schritte in ihrer Angelegenheit zu tun. Die Mutter vertröstete sie jedoch auf später.

»Jetzt, da der Onkel zurückerwartet wird, könnte ich der Tante doch nicht mit unseren Angelegenheiten kommen,« sagte sie. »Genieße also den Aufenthalt in Magdeburg ungetrübt, liebe Tochter, inzwischen will ich mir die Sache mit Bernd und Anna überlegen.«

»Aber du glaubst doch, Mutter, daß es sich machen wird?«

»Wenn es sich irgend einrichten läßt, kommst du zu Ostern nach Berlin, Ilse. Noch ahne ich freilich nicht, wie es geschehen soll, mein Herz, aber du weißt ja, wie der Vater immer sagte: ›Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.‹«

Sie sprach tapfer, die gute Mutter, aber sie machte sich gar schwere Sorgen um die Zukunft, denn sie wußte nicht, wie sie die Kosten zur Ausbildung für beide Töchter auf einmal bestreiten sollte.


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