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Eine Kletterpartie

»Lena, faßt du gern rohes Fleisch an?« fragte Dodo eines Sonntagmorgens, als beide nach dem Kaffee beschäftigt waren, kleine Fleischklößchen für die Suppe zu formen.

»Nein! Aber mir ist so lange vorgeredet worden, jedes weibliche Wesen müsse kochen können, daß ich es allmählich selbst für richtig halte. Na, und wenn man mal heiraten sollte –«

»Dann hält man sich eine Köchin,« fiel Dodo ihr ins Wort.

»Und wenn die mal krank wird?«

»Dann ist das Stubenmädchen noch da.«

»Und wenn das nichts versteht?«

»Dann nehme ich meinen lieben Mann unter den Arm und führe ihn in ein feines Restaurant. Das würde ich dir in solchem Falle auch empfehlen, Lena. Oh, was für ein langweiliges Geschäft ist dies! Ich werde ein bißchen Abwechslung in die Sache bringen.«

Zu Lenas Belustigung formte Dodo flache Klößchen mit Gesichtern, mit langen, spitzen Nasen, vorstehendem Kinn oder mit dicker Stülpnase, mit hochgewölbten Stirnen und statt der Augen Vertiefungen.

»Ich habe unbedingt Talent zum Modellieren, was meinst du, Lena?«

»Laß du dich nur von Tante Marie erwischen! Die wird es dir deutlich sagen.«

»Sieh mich mal an, Lena! Eins – zwei – drei –« Bums, flog ein Kloß Lena mitten auf die Stirn.

»Der gehörnte Siegfried, wörtlich genommen,« jubelte Dodo und klatschte in die Hände. »Entzückend siehst du aus.«

»Was geht hier vor?« fragte plötzlich Tante Maries Stimme.

Erschrocken wandte sich Lena um.

»Wie siehst du aus, Mädchen?« Schnell kam die Tante näher.

»Ich habe sie bloß ein bißchen verziert, Tante,« sagte Dodo entschuldigend, während Lena errötend den eigenartigen Zierat von ihrer Stirn entfernte.

»Die Küche, meine lieben Mädchen, ist nicht der Ort, eurem Übermut die Zügel schießen zu lassen; das habt ihr gewiß nicht bedacht. Auch habt ihr wohl die Güte, die Gesichter dort auf dem Fleischbrett in gewöhnliche Klößchen zu verwandeln, auf Kunstwerke dieser Art verzichte ich gern für alle Zeiten.«

Nach diesen freundlich, aber sehr bestimmt gesprochenen Worten ging die Hausfrau in die Speisekammer, und die Mädchen formten schweigend weiter.

Nach einer Weile seufzte Dodo tief und schielte nach Lena hin.

»Ich habe ja keine Ahnung gehabt, daß das Kochen eine so langweilig ernste Sache sei. Du, Lena, wo ist übrigens dein Horn geblieben? Hast du das in deiner bekannten Bewußtlosigkeit auch mit geformt?«

Bestürzt sah Lena auf. »Wahrhaftig ja! Aber ich weiß, es war ein besonders großer Kloß; der da, das ist er. Ich erinnere mich ganz genau. Ein Glück übrigens, daß es dir rechtzeitig eingefallen ist, Dodo,« flüsterte sie und entfernte das Klößchen. »Laß bloß das Lachen, wenn Tante uns hört!«

»Gut. Soll ich nicht reden und lachen, dann singe ich. Das ist entschieden eine angenehme Würze der Arbeit; auch formt es sich besser im Takt.« Mit lustiger Miene begann sie:

»Ich forme viel Fleischkügelchen
Aus Kalb und Ochs und Schwein,
Die kommen in den Suppentopf
Zur Kraftbouillon hinein.«

»Dodo, hör auf, ich kann nicht mehr!« Lena krümmte sich vor heimlichem Lachen.

»Da ist ein Herr, der möchte Fräulein Dodo sprechen,« rief plötzlich Sophie zur Tür herein. »Ich habe ihn in den Salon gebracht.«

»Hurra, da entgehe ich den Fleischklößchen! Schnell, Sophie, Wasser her, daß ich mich säubern kann und die große Küchenschürze ab! Adieu, Lena, viel Vergnügen!«

Eilig lief sie davon. Im nächsten Augenblick erklang ihr lautes Jubellachen. Eine Weile später erschien ihr glühendes Gesicht wieder in der Tür.

»Lena – Tante Marie – mein Papa ist da, mein Papa!« Fort war sie auch schon wieder.

»Oh,« sagte Lena und sah sich nach der Tante um.

»Ich werde dir Anna zur Hilfe schicken, liebes Kind.«

»Danke, Tante, ich werde schon allein fertig, ich spute mich tüchtig. Tante, du bist doch nicht mehr böse! Wir waren bloß sehr vergnügt.«

»Das dürft ihr auch stets sein, Lena, nur nicht Unsinn treiben, während ihr beschäftigt seid! Dodo muß den Ernst der Arbeit kennen und begreifen lernen. Das wird nicht sehr leicht sein, ich hoffe aber sehr auf deinen Einfluß, da sie sich dir besonders angeschlossen hat.«

»Aber, Tante – ich, was kann ich dabei tun?« fragte Lena bestürzt.

»Sie nicht in etwaigen Torheiten bestärken – das wäre vorläufig genug – und dann gutes Beispiel geben in freudiger Pflichterfüllung. Ich würde mich sehr freuen, Herz, wenn du mich in dieser Weise zu unterstützen suchtest, aus der lustigen Dodo, die bis jetzt noch nichts kann als lachen und singen, einen brauchbaren Menschen zu machen.«

Der Nichte freundlich zunickend, verließ sie die Küche.

Lena hatte die Hände sinken lassen und sah kläglich auf ihre Fleischklößchen. Gutes Beispiel geben? Wenn man selbst gern lustig ist und Unsinn treibt? Aber – ein brauchbarer Mensch werden, ja das wollte sie! Mit ganzer Seele wollte sie es, und wenn sie konnte, auch Dodo dazu verhelfen! Sie dachte an den fernen Freund, an die Stunde im Garten, in der sie einander das Gelöbnis strenger Selbsterziehung gaben, und ein frohes Lächeln umspielte ihre Lippen.

Da trat Ilse ein, blieb aber lachend stehen.

»Lena, bist du verzückt, daß du die Wand anstarrst, als böte sie den herrlichsten Anblick der Welt?«

»Ilse« – Lena atmete tief auf – »wir wollen uns untereinander helfen, ganze Menschen zu werden, nicht wahr?«

»Ja, Lena, von Herzen gern. Weißt du, wir wollen auch einen Bund schließen, und eine jede soll geloben, den anderen zu helfen, vor allen Dingen durch gutes Beispiel. Aber wie sagt Mutter doch immer? Das Nächste zuerst, und da sie mich hergeschickt hat, ein Frühstück zu besorgen, wird das wohl das Nächste sein. Bekommen wir denn deine Klößchen noch heute mittag zu essen, Flattergeist?« fragte sie, mit schelmischem Lächeln auf die noch immer nicht geformte Fleischmasse weisend.

Lena lachte und machte sich hurtig ans Werk.

Beim zweiten Frühstück lernte sie Dodos Vater kennen. Herr Frankental war ein kleiner, untersetzter Herr, mit freundlichen und doch energischen Zügen, bartlos, mit nur sehr spärlichem dunklen Haupthaar und hellen blauen Augen, denen man ansah, daß sie mit scharfem Blick allen Dingen auf den Grund zu dringen wußten.

»Seht doch nur,« rief Dodo, die kaum die Begrüßung abwarten konnte, »den Karton da hat Papa für uns alle mitgebracht, und wißt ihr, was drin ist? Bonbons und Schokolade! Da heißt es nachher: alle Mann 'ran, zum Verteilen.« Sie stellte den verheißungsvollen Karton auf den Tisch und hob den Deckel in die Höhe, um die Freundinnen hineinschauen zu lassen.

Da bat die Hausfrau zum Frühstück.

Herr Frankental zog die Uhr. »Meinen verbindlichsten Dank, gnädige Frau, allzulange darf ich mich aber nicht aufhalten. Ich will noch weiter, nach Braunlage, und womöglich den nächsten Zug benutzen.«

»Papa, das wäre dann ja nur ein Einguck bei mir,« schmollte Dodo. »Hier ist es doch auch viel schöner als in Braunlage.«

»Zugegeben, meine Kleine, es wird aber die höchste Zeit, mich mal selbst nach dem Hausbau umzusehen. Deshalb habe ich mich, da auch unsere Ruth viel besser ist, schleunig auf die Reise begeben.«

»Bauen Sie ein Haus in Braunlage?« erkundigte sich Frau Winterfeld.

»Wie? Davon hat Dodo noch nichts erzählt?«

»Ach, daran habe ich rein gar nicht gedacht und dabei habe ich mich immer brennend dafür interessiert!«

»Ja, gnädige Frau, ich lasse dort ein Haus bauen,« erklärte der Fabrikbesitzer, »aber nicht für mich und meine Familie, sondern für meine Arbeiter. Ich will die Kranken und Erholungsbedürftigen hinschicken, und zwar nicht nur im Sommer, sondern auch im Winter. Ich habe mich schon jahrelang mit dem Gedanken getragen und freue mich, daß er nun endlich zur Ausführung gelangt. Diesen Frühling noch, sobald das Haus fertig ist, soll es eingeweiht werden. Dazu komme ich selbstverständlich mit meiner Frau und Ruth; hoffentlich ist sie bis dahin so weit hergestellt. Wenn ich dann Sie alle bitten dürfte, an der kleinen Feier teilzunehmen? Sie würden uns eine große Freude bereiten, gnädige Frau.«

Frau Winterfeld nahm die Einladung mit einigen freundlichen Worten an und der Fabrikherr freute sich über die frohen Gesichter der Mädchen.

»Weißt du was, Papa? Eigentlich könntest du uns schon heute alle mit nach Braunlage nehmen.«

»Das ist aber wirklich ein guter Einfall, Töchterchen! Was sagen die jungen Damen dazu? Und vor allen Dingen Sie, verehrte Frau Winterfeld?«

»Ach, Tante Marie, du erlaubst es, nicht? Bitte, sag schnell ja,« bettelte Dodo und lief zu ihr hin.

»Bedenkst du auch, gute Dodo, was es für deinen lieben Vater heißt, alle meine lustigen Mägdelein unter seine Obhut zu nehmen?« fragte die Hausfrau lächelnd.

»Tante!« Dodo schlug die Hände zusammen. »Da verkennst du meinen Goldvater völlig! Nicht, Papa, dir ist es ein unbändiges Vergnügen, uns alle zu entführen?«

»Versteht sich! Es wird mir ein besonderes Vergnügen sein!«

»Da muß ich wohl meine Erlaubnis zu dem Ausflug geben,« sagte Frau Winterfeld. »Empfangen Sie vielen Dank für Ihre große Güte, Herr Frankental. Aber nun schnell, Kinder, daß ihr fertig werdet!«

»Mutter« – Kläre faßte ihre Hand, um ihre volle Aufmerksamkeit auf sich zu lenken – »wenn meine Lisi doch auch mit dürfte!«

»Kind, das wäre unbescheiden.«

»Wer ist denn das, deine Lisi?« fragte Herr Frankental, der die Worte verstanden hatte. »Komm mal her und erzähl mir das!«

»Lisi ist meine allerbeste Freundin,« entgegnete Kläre dunkelrot und verschämt.

»Natürlich muß sie da mit, wenn sie nicht zu weit entfernt wohnt.«

»Nein, ganz dicht am Westerntor!«

»Das paßt ja gut. Lauf schnell hin, hole sie ab und geh dann gleich mit ihr zur Station voraus.«

»Ja – ich – ich – danke Ihnen auch vielmals, Herr Frankental, aber – ich wollte ganz gewiß nicht unbescheiden sein.«

»Das weiß ich, mein liebes Mädchen. Ich fasse die Sache schon richtig auf und freue mich herzlich deiner treuen Freundschaft.«

Erleichtert ging Klärchen zu der Mutter. »Du bist mir nicht böse, Mutti?« bat sie.

»Nein, mein Herzblatt! Genieße den schönen Tag recht und bleibt auch immer bei den anderen.«

»Ja, Mutti! Adieu, ich freue mich riesig. Adieu, Berni, ich bringe dir alles mit, was ich an hübschen Blumen finde.«

Klärchen lief davon, ihre Lisi zu holen. Beide mußten noch ein Weilchen auf dem kleinen Bahnhof Westerntor warten, ehe die anderen kamen. Lisi machte ihren schönsten Knicks, der freilich etwas unbeholfen ausfiel, und ihr fröhlichstes Gesicht, als Kläre sie Herrn Frankental zuführte.

»Das also ist deine Lisi? Nun, freust du dich, Mädelchen?«

»Ja, riesig!«

»Bedanke dich doch,« flüsterte Kläre ihr mit einem leisen Rippenstoße zu.

»Ich bedanke mich auch,« sagte Lisi gehorsam, aber mit verwunderten Augen. »Das tut man doch immer erst, wenn alles zu Ende ist,« setzte sie leise für Kläre hinzu.

»Ja, dann tun wir es natürlich noch einmal. Es ist doch aber sehr nett von Herrn Frankental, daß er dich auch mitnimmt.«

»Lisi, siehst du auch ordentlich aus?« fragte Anna. »Laß dich einmal ansehen!«

»Oh, Kläre hat mich schon rundum gedreht, aber ich will es gern nochmal machen.« In rasender Geschwindigkeit drehte sie sich um die eigene Achse.

»Mach keinen Unsinn, Lisi! Halt still, dein Haarband ist sonst fort, ehe wir in den Zug steigen. Ja, es scheint alles in Ordnung – aber du hast ja deinen Gürtel mit Nadeln zugesteckt!«

»Die Schnalle war an einem Ende abgerissen, und nähen mochte ich nicht erst, da habe ich das andere auch abgeschnitten. Es geht wirklich sehr gut, ich habe eine Sicherheitsnadel genommen.«

»Das habe ich gar nicht gesehen,« sagte Klärchen bestürzt und zupfte schnell Lisis weiße Bluse etwas tiefer über den Gürtel, damit die Nadel nicht sichtbar sei. Die beständige Unordnung ihrer geliebten Lisi war der sehr ordnungsliebenden Kläre immer von neuem schmerzlich.

»Ich weiß gar nicht, was unsere Jüngste eigentlich zu der Dicken hinzieht,« sagte Ilse kopfschüttelnd.

»Die Gegensätze ziehen sich mal wieder an,« entgegnete Anna. »Die materielle Lisi ist ein gutes Gegengewicht für unsere phantastische Kleine.«

»Schokolade?« hörten die Schwestern Lisi entzückt ausrufen. »Du, ich wollte, Dodos Vater käme recht oft zu uns.«

Die Mädchen mußten lachen. Da brauste der Zug heran. Man mußte sich beeilen, denn es hatten sich viele eingefunden, die das herrliche Wetter benutzen wollten, die Höhen in ihrem ersten Frühlingsschmuck zu sehen.

Herr Frankental bereute seinen schnell gefaßten Entschluß, die Mädchen mitzunehmen, nicht. Die rosigen, frohen Gesichter, die vielen Ausrufe des Entzückens machten ihm sichtliche Freude.

»Jetzt paßt auf,« rief Ilse, die am Fenster saß. »Nun kommt gleich ein großartiger Ausblick auf das Schloß. Dann geht es hinauf in die Berge, und es wird immer schöner. Seht nur die leuchtend grünen Spitzen der Tannen und die weißen Birkenstämme mit ihren schlanken Wipfeln! Die reinen Märchenbäume, im grünen Brautschleier! Da ist das Thumkulental. Wie wunderschön ist doch der Frühling!« In ihrer Begeisterung war sie aufgestanden und sah mit glänzenden Augen in die Herrlichkeit des jungen Lenztages.

Auf der Station Dreiannen-Hohne mußte umgestiegen werden. Dann ging es weiter über Sorge nach Braunlage, eine Fahrt von großer landschaftlicher Schönheit. Hier nahm Herr Frankental einen Omnibus, um schneller in den ziemlich entfernt gelegenen Ort zu kommen. Die Mädchen kannten sämtlich schon Braunlage; alles aber erschien ihnen wieder wie neu und machte ihnen die größte Freude.

Bild: Richard Gutschmidt

Vom Bahnhof aus fuhr die Gesellschaft in einem Omnibus.

»Ich bin sehr neugierig auf unser Arbeiterheim,« sagte Dodo, die wieder Feuer und Flamme für des Vaters Bau war. »Wir gehen doch gleich hin, nicht, Papa?«

»Versteht sich! Erst erlaubst du aber wohl, daß ich unser Mittagessen bestelle,« erwiderte ihr Vater, als der Omnibus hielt. Während er dann in das Hotel ging, mit dem Wirt zu verhandeln, kletterten die Mädchen aus dem Wagen und hielten fröhlich Umschau.

»So,« sagte Herr Frankental, wieder aus dem Hause tretend, »jetzt will ich nur noch den Maurermeister holen und du, Dodo, führst deine Freundinnen den Hüttenberg hinan auf den Weg nach Elend. Du kennst ihn ja, Töchterlein. Aber hübsch langsam marschieren, daß der alte Papa nachkommen kann! Auf Wiedersehen, meine Damen; empfehle mich so lange!«

Kläre und Lisi kniffen sich vor Vergnügen über die feierliche Anrede.

»Es hat doch sein Gutes, wenn man schon mit zu den Großen gehört und auch als Dame behandelt wird,« sagte Klärchen und reckte die schlanke Figur. Im Grunde gab Lisi nicht viel darauf, weil es aber Kläre einen so großen Spaß machte, stimmte sie ihr bei. Doch als Kläre vorschlug, sie wollten sich nun auch damenhaft benehmen, erklärte sie sehr entschieden, das nicht zu verstehen und auch keine Lust dazu zu haben.

»Dann nicht, liebe Dicke,« erwiderte Klärchen lustig, faßte sie bei der Hand und lief mit ihr voraus.

»Das ist recht, ihr Mädel, tobt euch nur ordentlich aus,« rief Ilse ihnen lachend nach.

Oben im Walde warteten die Mädchen auf die Herren. Dann gingen alle durch den Wald an hübschen Villen vorüber zur Straße, die nach Elend führt. Hier lag inmitten herrlicher Bäume das künftige Arbeiterheim, ein zweistöckiges Haus mit großen, übereinander liegenden Veranden, hohen, luftigen Räumen und einem geräumigen Eßzimmer, das bei schlechtem Wetter auch zum Aufenthalt dienen sollte.

Der Bau war fertig bis auf die Fenster und den Anstrich. Tapeziert war noch nicht; die Wände wurden vorläufig gestrichen. Das Gelände war so groß, daß auch noch ein Garten angelegt werden konnte. Es bot sich eine sehr schöne Aussicht, rechts auf den Wurmberg, links und geradeaus auf den Ort, auf frischgrüne Wiesenflächen und auf gegenüberliegende Waldungen. Die Mädchen waren entzückt von dem Hause, von seiner Lage und seinem Zweck und sprachen sich sehr lebhaft darüber aus.

Herr Frankental lächelte. »Ich freue mich auch, daß das Werk so weit gediehen ist,« sagte er. »Eine große Schwierigkeit gibt es aber noch zu überwinden, nämlich eine geeignete Persönlichkeit zu finden, die dem Heim als Hausmutter vorstehen könnte. Es würden sich ja viele melden, mir wäre aber eine durch Empfehlung Bekannter gefundene Frau lieber. Es müßte eine energische, dabei gütige und gebildete Frau sein, vor der meine Arbeiter Achtung empfänden, und die auch wieder ein Herz für die Leute hätte. Wollen Sie mal mit Ihrer Frau Mutter darüber sprechen, Fräulein Anna? Vielleicht kennt sie eine Persönlichkeit, die sich für den Posten eignet. Natürlich würde ich sie, da sie das ganze Jahr hier wohnen müßte, so stellen, daß sie sorgenfrei leben könnte. Würde es Sie interessieren, sich die Räume anzusehen, die ich als Wohnung für die zukünftige Hausmutter bestimmt habe?«

»Sehr gern, Herr Frankental,« entgegnete Anna bereitwillig. »Ich werde heute abend noch mit meiner Mutter sprechen, fürchte aber, sie wird Ihnen auch niemand vorzuschlagen wissen. Ei, die hübsche, helle Küche! Das muß ja ein Vergnügen sein, hier zu kochen.«

Neugierig durchschritten die Mädchen die Wirtschaftsräume, die alle im Untergeschoß lagen, dann stiegen sie die schmale Treppe wieder hinan. Nun ging es in zwei größere Zimmer, die nebst einem kleineren für die künftige Heimmutter bestimmt waren.

»Natürlich darf sie, falls sie eine eigene Einrichtung besitzt, davon mitbringen, soviel in diese Räume hineingeht; andernfalls richte ich die Wohnung selbstverständlich ganz ein. Aber nun können wir wohl ans Essen denken?«

Alle waren einverstanden. Ilse und Anna, die am meisten Interesse für die Sache hegten, schritten mit den Herren voran und ließen sich von Herrn Frankental noch eingehend über die Arbeiter erzählen. Bei Tisch herrschte dann eine sehr heitere Stimmung. Lisi stieß Klärchen freudestrahlend an, als auch sie beide ein Glas Wein erhielten, genau wie die Großen. Herrn Frankentals Vorschlag, den Zug nur bis zur Steinernenrenne zu benutzen, dort Kaffee zu trinken und von da nach Hause zu gehen, fand ungeteilten Beifall.

So fuhr die Gesellschaft nach dem Bahnhof zurück und bestieg den Zug, der sie schnell an ihr Ziel brachte.

»Papa,« bat Dodo, »zum Kaffee ist es eigentlich zu früh; dürfen wir nicht noch ein wenig im Wald herumlaufen und Blumen für Berni suchen?«

»Gern, Töchterchen, wir haben noch reichlich eine Stunde Zeit. Ich will inzwischen einige eilige Briefe erledigen und wünsche den jungen Damen unterdessen viel Vergnügen.«

Fröhlich machten sich die Mädchen auf den Weg und freuten sich an dem rauschenden Wasser, das jetzt im Frühling in großer Menge über die zahllosen Felsblöcke im Flußbett stürzte, weithin Gischt und Schaum spritzend.

»Wißt ihr, was wir tun?« schlug Ilse vor. »Wir gehen schnell noch zum Ottofelsen. Ich habe Sehnsucht nach einer ordentlichen Kletterei und einem schönen Ausblick, wie er dort sich bietet.«

Alle stimmten ihr bei, nur Anna meinte, es sei zu weit.

»Ach, Maus, sei kein Spielverderber,« bat Ilse. »Wir laufen schnell. Bedenke doch, daß wir eine volle Stunde Zeit haben!«

»Aber nicht für den Weg allein, die Stunde gilt auch für das Kaffeetrinken.«

»Wenn dir das wichtiger ist als der wundervolle Fernblick, dann bleibe einfach zurück,« erwiderte Ilse kurz und wandte sich zum Gehen. »Wer mit will, der komme!«

»Ich gehe mit – Ilse – warte doch.«

»Ich auch – ich auch –«

»Sei doch nicht langweilig, Maus!«

So tönte es durcheinander, und der allgemeine Frohsinn, der helle Sonnenschein, die eigene Jugendlust verlockten die gewissenhafte Anna, auch einmal leichtsinnig zu sein. So zog sie mit durch den frühlingsfrischen Wald. Es war ja auch wunderschön, mal wieder draußen zu sein und alle trüben Gedanken hinter sich zu werfen. Unter heiterem Lachen und Plaudern ging es im Laufschritt Ilse nach, die, mit allen Wegen der heimatlichen Wälder bekannt, die Mädchen den kürzesten Weg führte.

Sie erreichten ihr Ziel schon nach zwanzig Minuten. Ilse begann sofort die Stufen zu erklimmen, die zur Platte der sich einsam im Walde erhebenden Felsenmasse führten.

»Da kann ich nicht hinauf, und wieder herunter schon gar nicht,« rief Dodo und blieb erschrocken stehen.

»Unsinn,« erklärte Ilse. »Du hältst dich hübsch in der Mitte; wenn du eine von uns vor, eine andere hinter dir hast, wirst du das Kunststück schon fertig bringen. Vorwärts!«

»Ich habe aber schreckliche Angst!«

»Schäme dich! Ein deutsches Mädel und Angst,« versetzte Lena und schob Dodo auf die erste Stufe. »Mach, Eidechslein, du wirst doch hier hinaufschlüpfen können.«

»Du darfst nur nicht in die Tiefe sehen,« rief Anna, »sondern immer nach oben!«

Dodo ließ sich überreden, behauptete aber, sich ausruhen zu müssen, als sie die beiden ersten Leitern glücklich erklommen und eine ziemlich breite Platte, von einem eisernen Geländer umgeben, erreicht hatten.

Ilse trat ungeduldig von einer Seite zur anderen und trieb unaufhörlich vorwärts. So wurden die drei letzten Leitern zu dem wie ein Turm aufsteigenden Felsengebilde noch erstiegen. Sofort traten alle an das abschließende Gitter, nur Dodo mußte sich setzen, ein so heftiges Herzklopfen und Zittern hatte sie befallen.

»Ich komme nicht wieder hinunter, du wirst es sehen,« klagte sie Anna, die bei ihr blieb.

»Denke jetzt nicht daran, Dodo; hast du dich erst wieder erholt, wird es schon gehen,« tröstete diese, machte sich aber im stillen Vorwürfe, ihr zugeredet zu haben. »Iß ein Stückchen Schokolade!«

Dieser Aufforderung kam das Schleckerchen sehr gern nach. Allmählich getraute sie sich, Anna unterfassend, auch weiter vor, um die Aussicht zu genießen.

Es war ein Bild von großer landschaftlicher Schönheit, über die Waldungen hinaus breitete sich Wernigerode mit den Vororten. Darüber hinwegragend zeigte sich das stolze Fürstenschloß und dahinter die weite Ebene mit ihren Dörfern und Städten, abgeschlossen von den in der Ferne verschwindenden dunkelblauen Bergen des Unterharzes. Nach Westen erhoben sich aus düsteren Tannenwaldungen die wild zerklüfteten Hohneklippen, weiter nördlich der Brocken hinter den finsteren Zeterklippen und dem Rennekenberge.

Die Meinung war verschieden, welcher Teil hübscher sei, ob der wilde, düstere oder der liebliche nach der Stadt zu. Klärchen schob ihre Hand in die Ilses.

»Die Felsen dort drüben sind doch am schönsten, nicht wahr?« redete sie eifrig. »Sieh mal nach der Leistenklippe und denk dir dazu Mondschein und tanzende Elfen! Ein solches Bild male ich noch!«

Hastig entzog Ilse der Schwester die Hand und wandte sich ab.

»Ach, Elfen gibt es ja gar nicht,« ließ Lisi sich vernehmen.

»Doch – in allen Märchen,« rief Klärchen triumphierend. »Weißt du nicht, Lisi, das von der weißen Schlange, die ein goldenes Krönlein auf dem Kopfe hat? Die haust dort drüben in den Hohneklippen. Wenn es einem Sonntagskind gelingt, einem Jungen natürlich, ihr das Krönlein fortzunehmen, wird er König über den ganzen Harz; die Schlange verwandelt sich in eine wunderschöne Prinzessin, die den Buben heiratet, und auf dem Felsen erhebt sich ein herrliches Schloß. So lautet die Sage. Ich will später, wenn ich groß bin, ein Bild malen, wie ein armer Bube, der Lust nach dem roten Gold hat, die Schlange in einer Sonntagnacht ergreifen will, und etwas zwischen dem Gestein flimmern und blitzen sieht. Das ist das Krönlein, und zwei grünlich schillernde Augen sehen ihn an, daß er in tiefster Seele erschrickt. Aber er muß die Hand ausstrecken, er kann nicht anders, und da« – Klärchen atmete tief auf, ihre Augen glänzten – »da fällt ein heller Mondstrahl gerade neben ihn in eine Spalte. Aus dem steigt eine weiße Lilie auf, die ist so schön, daß dem Buben feierlich zu Sinn wird; er kniet nieder und preßt seine Lippen auf die Blume. Da zischt es neben ihm und die Schlange verschwindet unter dem Gestein. Siehst du, Lisi, die Schlange ist das Böse im Leben, aber das Gute siegt darüber.«

Lisi sperrte Mund und Augen auf. »Wie du dir nur so etwas ausdenken kannst,« sagte sie verblüfft.

Klärchen lachte. »Die Sage hat Bernd mir erzählt und nun sehe ich das alles deutlich dort oben. Jetzt weiß ich auch, was ich einmal lernen will: ich werde Märchenmalerin!«

Staunend sahen die Mädchen die entschlossene Kleine an, die ihrer selbst so sicher war. Zärtlich streichelte Anna ihr die glühenden Wangen. »Kleine Kläre, du,« sagte sie nur.

»Wir müssen wieder gehen,« erklärte Ilse, schroffer, als ihre Absicht war, und wandte sich der Leiter zu.

»Oh, was fang ich bloß an? Ich komme nicht hinunter,« jammerte Dodo.

»Hab' dich nicht so,« verwies Ilse kurz. »Faß meine Hand, ich führe dich Stufe für Stufe.«

»Sei vernünftig,« bat auch Anna. »Hier oben kannst du doch nicht bleiben.«

»Ja – ja – ich will gern, aber ich kann eben nicht,« jammerte Dodo. »Mich schwindelt!«

»Nimm dich mal zusammen,« befahl Lena, »eins – zwei – drei.«

Sie schob Dodo vorwärts, Ilses ausgestreckter Hand entgegen, aber kaum hatte die Ängstliche einen Blick in die steil abstürzende Tiefe geworfen, als sie leichenblaß wurde, die Hände abwehrend aufhob und gegen Lena zurücktaumelte. »Ich kann nicht, und wenn mein Leben davon abhinge,« wimmerte sie.

Bestürzt führten die Mädchen die Zitternde zurück und waren ihr behilflich, sich zu setzen.

»Wären wir doch nicht hierher gegangen,« seufzte Anna.

»Ja« – Dodo strich sich über das blasse Gesicht, ein Schelmenlächeln aber zuckte ihr um die Lippen, als sie Lena ansah – »käm doch jetzt ein gehörnter Siegfried und trüge mich hinunter! Aber Märchen erlebt bloß Klärchen.«

»Ich will sehen, ob ich dir einen Siegfried herbeischaffen kann,« erbot sich Ilse schnell entschlossen. »Irgend etwas muß geschehen; ein vertrauenerweckendes männliches Wesen wird wohl in der Nähe aufzutreiben sein. Es ist ja gerade die Zeit zum Spazierengehen.«

»Ich gehe mit – ich auch!« riefen Klärchen und Lisi und kletterten hurtig hinter Ilse die Leiter hinunter.

»Vorsicht – um Himmels willen, Vorsicht!« rief Anna den beiden erschrocken nach.

Eine Weile hörte man die drei noch die eisernen Stufen hinunterpoltern, dann wurde es still um die Zurückgebliebenen.

»Was dein Vater wohl von uns denken wird,« sagte endlich Anna, die ruhelos umherschritt. »Es ist mir riesig peinlich, ihn so lange vergeblich warten zu lassen. Vielleicht ängstigt er sich schon.«

»Nein, Maus, da verkennst du meinen Papa völlig; Von dem habe ich die Bangigkeit nicht geerbt.« Dodo lachte.

»Aber unangenehm bleibt es doch, besonders für mich als Älteste.«

»Spiel dich nicht als gutes Gewissen auf, Maus! Papa ist gegen Damen immer sehr höflich.«

Anna wurde rot. So bescheiden sie auch war, sie konnte es durchaus nicht vertragen, daß jemand sie für unpünktlich, rücksichtslos oder nachlässig hielt. Sie gestand offen ein, Fehler zu haben; es würde sie aber tief gekränkt haben, hätte jemand anders ihr auch nur den kleinsten vorgeworfen. Selbstüberhebung hatte der liebe Vater dies genannt und sie immer wieder auf den Kampf mit ihrem Hochmut hingewiesen. Stumm lehnte sie jetzt an der Brüstung und durchlebte schon in Gedanken den Augenblick, in dem sie vor Herrn Frankental hintreten und sich wegen ihrer Unpünktlichkeit schämen mußte. Ihr Stolz litt schwer darunter.

»Hoi – ho!« klang es da fröhlich von unten herauf.

»Das ist mein Siegfried,« jubelte Dodo und stand auf. Anna und Lena eilten zur Leiter, auch Dodo wagte sich ein Stückchen näher.

Nach einer Weile tauchte Ilses lachendes Gesicht auf, gleich hinter ihr das nicht minder heitere eines jungen Mannes.

»Hier kommt dein Retter aus der Not, Dodo,« rief Ilse übermütig und kletterte die letzten Stufen schnell hinauf.

Da stand auch der junge Mann schon, nahm seinen Hut ab und verneigte sich.

»Meine Damen« – eine zweite Verbeugung – »ich bin zu Ihrer Hilfe heraufbefohlen worden. Wem von Ihnen darf ich meine Ritterdienste anbieten? Doch zuvor gestatten Sie, mich Ihnen vorzustellen: Müller, Referendar aus Göttingen.«

Wäre ein kalter Regenschauer plötzlich niedergegangen, er hätte nicht abkühlender wirken können als der Name Müller auf die Phantasie der Sechs, denn natürlich waren Lisi und Klärchen gleichfalls wieder auf der Bildfläche erschienen und machten jetzt hinter des jungen Mannes Rücken spitzbübische Gesichter. Ein Siegfried mit dem seltenen Namen Müller! Die vier Großen waren aber nicht umsonst höhere Töchter und gebildete junge Damen; sie bewahrten ihren Ernst, und Dodos Gesicht strahlte eitel Sonnenschein. »Ich freue mich sehr, daß Sie mich hinunterbringen wollen, Herr Referendar,« sagte sie, »aber ich bin ganz unverzeihlich ängstlich.«

»Das ist durchaus nicht nötig, gnädiges Fräulein, wenn Sie sich unter meinen Schutz begeben.«

»Ich werde aber schwindlig, sowie ich die Leiter sehe.«

»Die brauchen Sie gar nicht anzusehen, denn wir steigen rückwärts hinunter. Erst die anderen Damen, dann ich, damit ich Sie halten kann. Wir steigen gleichzeitig auf die Leiter, Sie eine Stufe höher als ich. So! Jetzt fassen Sie, bitte, an beiden Seiten das Geländer fest an. Nur nicht zittern! Erlauben Sie!« Er legte seine kräftigen Hände um ihre bebenden Finger. »Jetzt steigen Sie, bitte! Ich bleibe dicht vor Ihnen. Immer gerade herunter! Eins – zwei – eins – zwei – es geht ja großartig! Da hätten wir glücklich die erste Leiter hinter uns. Das war die schwierigste; die anderen sind ein Kinderspiel dagegen. So – da sind wir auf der ersten Platte; hier dürfen Sie sich ein Weilchen ausruhen.«

Bild: Richard Gutschmidt

»Hier kommt dein Retter aus der Not.«

Dodo wandte sich um. »Es ging wunderschön,« rief sie, so glücklich über die eigene Leistung, daß alle lachen mußten.

»Natürlich, gnädiges Fräulein! Wenn man es richtig anzufangen weiß, leisten die Nerven alles, was sie sollen, denn schließlich kommen Furcht, Schwäche und Schwindelgefühl nur vom Nachlassen der Nerven.«

»Sie meinen, daß der Wille allein sie zu beherrschen vermag?« fragte Ilse.

»Gewiß, mein gnädiges Fräulein; mit wenig Ausnahmen möchte ich behaupten, daß der Wille alles vermag.«

Nun trieb Anna so energisch zum Aufbruch, daß Dodo bereitwillig erklärte, sich genügend ausgeruht zu haben. Ohne Unfall kam die kleine Gesellschaft unten an.

»Kennen sich die Damen gut aus, oder darf ich den Vorzug haben, Sie auf den rechten Weg zu bringen?« fragte der Referendar höflich.

Die Mädchen erklärten, genau Bescheid zu wissen. Sie alle, namentlich Dodo, dankten ihm für seine Hilfeleistung, dann trennten sie sich. Dodo kniff Ilse vor Vergnügen in den Arm. Als sie aber anfangen wollten, über den Müller-Siegfried zu lachen, verbot Anna es ihnen ernstlich.

»Im übrigen beeilt euch, soviel ihr könnt,« fügte sie hinzu. »Bedenkt, daß Dodos Vater schon über eine Stunde auf uns wartet und noch heute nach Magdeburg zurück will.«

»Wenn die Maus energisch wird, bleibt uns nichts übrig, als ihr gehorsam zu folgen,« versetzte Ilse heiter. »Also im Laufschritt, meine Damen! Etwaige Ermüdung beruht nur auf Einbildung.«

Ein fröhliches Lachen erklang, dann ging es so schnell durch den Wald, daß Dodo kaum folgen konnte.

Auf der Brücke, die zum Restaurant »Steinerne Renne« führt, kam ihnen Herr Frankental bereits entgegen.

»Na, Herrschaften, ich fürchtete schon, ihr hättet euch verlaufen. Was ist denn, kleiner Neck, du bist ja völlig außer Atem?« fragte er und legte Dodos Arm zärtlich in den seinen.

»Ach, Papa, was wir alles erlebt haben!«

»Das könnt ihr mir beim Kaffee erzählen, denn, so leid es mir tut,« wandte er sich an die übrigen Mädchen, »zum Gehen wird es nun zu spät; wir müssen mit dem nächsten Zuge hinunterfahren, damit ich den letzten Anschluß erreiche. Ich muß unbedingt nach Magdeburg zurück.«

»Verzeihen Sie, Herr Frankental,« begann Anna rot und verlegen, er wehrte jedoch freundlich ab.

»Wenn es Ihnen nur gefallen hat, das ist mir die Hauptsache! Ich für meine Person bin recht zufrieden, nicht laufen zu müssen.« Das wurde mit solcher Liebenswürdigkeit gesagt, daß der Maus ein Stein vom Herzen fiel und auch sie sich Kaffee und Kuchen vortrefflich schmecken ließ.

Allzuviel Zeit durften sie sich aber nicht lassen, wollten sie den Zug nicht verpassen. So ging es bald im Trab zur Station, die sie gerade erreichten, als der Zug einfuhr.

»Nun habe ich gar keine Blumen für Bernd,« sagte Klärchen bedauernd zu ihrer Unzertrennlichen während der Fahrt. »Übermorgen hat er Geburtstag und Waldblumen mag er am liebsten.«

Das tat Lisi auch leid; sie dachte nach, wie dem abzuhelfen sei. »Ich hab's,« rief sie vergnügt. »Wir arbeiten morgen mittag, gleich wenn wir aus der Schule kommen, dann können wir um vier nach Zwölfmorgen hinaufgehen. Dort stehen Blumen die Menge.«

»Ei ja! Aber dann müssen die Großen mit, sonst erlaubt es Mutti nicht.«

Auf der Haltestelle Westerntor nahmen die jungen Mädchen mit vielen Dankesworten Abschied von dem freundlichen Fabrikherrn. Dodo liefen helle Tränen über die Wangen, als der Zug weiterfuhr, und sie dem Vater mit ihrem Tuche nachwinkte, bis er verschwand.

»Daß du uns nur kein Heimweh bekommst, Eidechslein,« sagte Ilse.

»Dodo, warum nannte dein Papa dich Neck?« wollte Kläre wissen.

Dodo lachte. »Papa hat schon, als wir noch kleine Mädchen waren, Ruth und mich Nück und Neck genannt, weil wir immer lustig waren und Unsinn trieben. Als ich ihn mal fragte, was das eigentlich zu bedeuten habe, sagte er, so benenne man unnützes Elfengesindel, das nichts von der Not des Lebens wisse. Ach, hätte ich doch nur erst meinen Nück hier! Manchmal könnte ich vor Sehnsucht vergehen. Aber ihr braucht nicht zu denken, daß ich nicht gern hier bin. Im Gegenteil, ich fühle mich sehr glücklich bei euch; aber von meinem Nück bin ich vorher noch keinen einzigen Tag getrennt gewesen.«

»Nun, dein Nück kommt nun bald und wir haben dich alle sehr lieb,« versicherte Kläre mit so zärtlichen Augen, daß Dodo wieder froh und heiter wurde.

Zu Hause gab es dann viel zu berichten. Nach dem Abendessen teilte Dodo die Schokolade in acht Teile, denn Tante Marie als Hauptperson durfte nicht leer ausgehen.

»Mutter,« bat Ilse, »darf ich schnell zu Trude Welzin gehen?«

»Heute abend noch? Bist du nicht müde?«

»Ich müde?« Ilse lachte. »Mutter, wovon sollte ich das wohl sein?«

Die Mutter lächelte, als sie ihre blühende Tochter ansah und nickte freundlich.

»Geh, mein Herz, grüße Frau Welzin und sage Gertrud, sie möge uns recht bald einmal besuchen.«

Schnellen Schrittes eilte Ilse den Kreuzberg hinunter in die Stadt und hatte bald das Haus erreicht, in dem die Witwe eine Treppe hoch eine Wohnung von drei Zimmern inne hatte.

»Ilse – du? Noch so spät? Das ist aber reizend von dir,« rief Gertrud froh überrascht. »Mutter, Ilse Winterfeld ist hier.«

»Ein sehr lieber Besuch,« entgegnete eine klangvolle Stimme und eine hochgewachsene Frau mit dunklem Haar, blauen, freundlichen Augen und sehr sympathischen Zügen trat aus der Küche ins Zimmer. Mit einem sonnigen Lächeln reichte sie Ilse die Hand.

»Wie lieb von Ihnen, Fräulein Ilse! Seien Sie uns herzlich willkommen!«

»Hier, Trude, ich habe dir etwas mitgebracht,« sagte Ilse und drückte ein Kästchen mit ihrem Anteil an Süßigkeiten der Freundin in die Hand.

»Oh, die herrliche Schokolade, Mutter, sieh nur! Und so viel? Soll ich das wirklich alles nehmen?«

»Alles, Trude! Dodos Vater war heute bei uns und hat eine Unmenge mitgebracht. Liebe Frau Welzin, Sie wollen doch nicht fortgehen?«

»Ich habe noch eine Kleinigkeit in der Küche zu tun, Fräulein Ilse, auch weiß ich aus eigener Erfahrung, daß junge Mädchen gern mal ein Weilchen allein sind.«

»Aber mein Besuch gilt Ihnen auch, Mama Welzin, und dann nennen Sie mich, bitte, nicht Fräulein. Ich bleibe für Sie die Ilse.«

»Sie sind ein liebes Mädchen. Ich bin sehr glücklich, daß Sie meiner Gertrud Ihre Freundschaft erhalten haben.«

»Ich habe Trude lieb, sie versteht mich und ich sie,« entgegnete Ilse und streckte der freudig errötenden Gertrud die Hand hin. »Wir wollen treu zusammenhalten, nicht, Trude?«

»Von Herzen gern, Ilse. Von allen Mitschülerinnen warst du mir stets die liebste.« Das sonnige Lächeln, das sie von der Mutter geerbt hatte, verklärte ihre Züge.

»Wie hübsch sie ist,« dachte Ilse. Dann erzählte sie so launig und heiter von dem heutigen Ausflug, daß Mutter und Tochter herzlich lachten.

Auf ihre Frage erklärte Frau Welzin, daß sie noch immer nicht vermietet habe, »und nun,« fügte sie hinzu, »will meine dumme Trude gleich die Flinte ins Korn werfen und zu Ostern die Schule verlassen! Helfen Sie mir gegen diesen Unsinn, Ilse! Man soll doch nicht gleich verzagen, sondern fest auf Gottes Güte und Hilfe rechnen.«

»Das tue ich auch, liebste Mutter,« erwiderte Trude. »Aber sieh nur selbst, Ilse, wie blaß und schmal meine Mutter in der letzten Zeit geworden ist! Könnte ich es da verantworten, wenn ich länger als unbedingt nötig Opfer von ihr annehmen wollte?«

»Ja, Mama Welzin, ich kann es nicht anders sagen. Sie haben tiefe Schatten unter den Augen und sind sehr blaß.«

»Ach, ihr Kinder, das kommt vom langen Winter. Frühling und Sommer werden mir schon wieder bessere Farben bringen. Auch dürft ihr nicht vergessen, daß ich eine alte Frau bin.«

»Sie – alt, Mama Welzin? Das glaubt Ihnen kein Mensch! Aber wie soll es nun mit der Trude werden?«

»Vorläufig bleibt alles beim alten, und mit Gottes Hilfe bringe ich sie zu Ostern aufs Seminar,« entgegnete die tapfere Frau lächelnd.

Ilse nahm bald darauf herzlich Abschied und lud Trude für den Dienstag nachmittag ein.

Auf dem Kreuzberg traf sie mit Klärchen zusammen, die Lisi begleitet hatte.

»Ich habe auf dich gewartet, Ilse, weil ich gern mit dir sprechen wollte. Ich muß immer an das Märchen von der Schlange denken; glaubst du, daß es ein hübsches Bild werden könnte?«

»Aber, Kläre, solche Bilder zu malen, das erreichst du erst nach vielen Jahren, wenn du überhaupt jemals so weit kommst,« lautete die ungeduldige Antwort Ilses.

»Ich weiß es, aber ich möchte gern wissen, ob es gut werden kann.«

»Möglich, Kind, doch laß mich dir raten und fang nicht an, solche Sachen jetzt schon zu deinem Vergnügen zu zeichnen. Nicht wahr, du hattest diese Absicht?« fragte sie strenge nach einem Blick in das enttäuschte Gesicht der jüngeren Schwester.

»Warum soll ich das nicht?« fragte Kläre kleinlaut.

»Weil du deinem Talent ernstlich schaden würdest, wenn du dich jetzt schon an Dinge wagtest, für die du erst viel später reif sein kannst. Du darfst nur zeichnen, was dein Lehrer dir gibt. Frage Bernd, wenn du mir nicht glaubst.«

»Aber, Ilse« – erschrocken sah Klärchen auf – »ich glaube dir doch. Ich bin bloß betrübt, weil ich es mir so hübsch gedacht hatte, immer ein bißchen für mich zu zeichnen und dabei dich und Bernd um Rat zu fragen. Aber wenn es nicht gut ist, tu ich es nicht.«

Sie wartete auf ein freundliches Wort, als es aber ausblieb, seufzte sie, und schweigend legten die Schwestern den Weg nach Hause zurück.

»Bist du mir böse, Ilse?« fragte Klärchen leise, als sie in die Haustür traten.

Ilse schüttelte statt einer Antwort nur heftig den Kopf und schritt rasch an der Schwester vorüber die Treppe hinauf.


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