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Kriegsaussichten

Dem schönen Herbst war ein strenger Winter gefolgt. Die Jugend begrüßte ihn mit Wonne, denn er brachte herrliches Eis; es gab viel Vergnügen auf den spiegelglatten Flächen. Lena huldigte dem Eissport mit Leidenschaft: sie wäre wohl oft zu spät nach Hause gekommen, hätte der gewissenhafte Werner nicht stets aufgepaßt.

»Jungen, es gibt doch kein schöneres Vergnügen!« rief sie eines Tages frohlockend aus, als sie stundenlang bei der Rousseauinsel gelaufen waren.

»Ja, aber nun ist es genug für heute; es wird dunkel,« sagte Werner.

»Einmal herum können wir noch,« erklärte Helmut, ergriff Lenas Hand und lief mit ihr davon. Werner sauste hinterher und ruhte nicht eher, als bis beide nach einem nochmaligen Rundlauf abschnallten, dann ging es eilig heimwärts. Es war aber doch schon völlig dunkel, als sie kurz vor der Teestunde zu Hause ankamen. Zu ihrer Freude hörten sie, daß Erwin da sei. Der junge Mann hatte sein letztes Examen bestanden und war seit einiger Zeit an der königlichen Klinik tätig. Die Jungen stürmten ins Zimmer, ihn zu begrüßen, Lena folgte etwas langsamer.

Bild: Richard Gutschmidt

»Es gibt doch kein schöneres Vergnügen!«

»So spät, Mädchen?« fragte die Mutter tadelnd. Der Vater jedoch, der seine blühende Tochter voller Wohlgefallen betrachtete, nahm sich ihrer an.

»Sie hatte ja zwei Kavaliere, Mutter, und der Weg ist weit. Aber nun habt ihr gewiß guten Appetit mitgebracht, ihr drei?«

»Ja, Vater, einen wahren Riesenhunger,« versicherte Helmut. »Mach bloß schnell, daß es bald etwas gibt, Lena.«

Aber die Schwester hatte sich auf die Lehne von Vaters Stuhl gesetzt, einen Arm um seinen Nacken geschlungen und berichtete mit großer Anschaulichkeit von ihrem Eisvergnügen.

Werner schüttelte den Kopf. »Wenn man dich erzählen hört, wundert man sich oft, das alles miterlebt zu haben. Du schneidest gewaltig auf, Lena.«

»Junge, du mußt entschieden lernen, dich Damen gegenüber etwas höflicher auszudrücken,« bemerkte der Vater heiter. »Lena schmückt nur aus, mein Sohn! Doch nun, Töchterchen, darfst du wohl an den Teetisch denken.«

»Ach ja, ich verschmachte selbst beinahe.« Sie stand auf und lief in die Küche.

»Ich habe schon Teewasser aufgesetzt, Fräulein Lena,« rief Elise ihr entgegen. »Es steht auch schon alles auf dem Tisch bis auf den Aufschnitt. Haben Fräulein Lena den mitgebracht?«

»O weh, den habe ich ganz vergessen! Ich laufe schnell hin.« Sie sah ins Wohnzimmer und winkte Helmut heraus. »Still, frage nicht, komm mit! Ich soll abends nicht allein gehen, und wir haben nichts zu essen.«

»Das ist deine eigene Schuld, Flattergeist.«

»Ja. Aber wenn wir schnell laufen, merkt es vielleicht niemand.«

»An mir soll es nicht liegen.«

Helmut machte Schritte, daß Lena kaum folgen konnte; so waren sie in unglaublich kurzer Frist wieder daheim. Lena war aber noch etwas atemlos, als sie zum Tee bat, in der Hoffnung, ihre Abwesenheit sei nicht bemerkt worden. Die Mutter durchschaute jedoch die Sachlage und schüttelte den Kopf über des Töchterleins allzu glühendes Antlitz. Sie sagte aber nichts, und Lena kam um den Tadel herum.

Es wäre auch schade um den herrlichen Tag gewesen und um ihre strahlende Stimmung, die nicht unter der kleinen Vergeßlichkeit gelitten hatte. Ja, Lena nahm es sehr verschieden mit ihren Fehlern. Zuweilen focht ein Rückfall sie wenig an, dann wieder konnte sie in Reue zerfließen und sich so winzig klein fühlen, daß es gar nicht zu beschreiben war.

Heute war sie voll sprühenden Übermutes; heute dünkte ihr das Leben ein einziger sonnendurchleuchteter Freudentag! Sie bemerkte auch kaum, daß Erwin bei ihren lustigen Einfällen immer stiller wurde und seine ernsten Augen oft wehmütig auf ihr ruhten. Endlich kam es ihr doch zum Bewußtsein. Da man gerade von Tisch aufstand, trat sie auf ihn zu. »Habe ich es zu arg getrieben?« fragte sie zaghaft.

»Nein, Fräulein Lena, ich wünsche von Herzen, daß Sie noch recht lange Ursache haben, so froh und glücklich zu sein.«

»Wie Sie das sagen! So, als ob ich es wohl bald nicht mehr sein würde. Ist was mit Hans vorgefallen?«

»Nein, es geht ihm gut. Ich erhielt gestern einen langen Brief von ihm.«

»Dann ist ja alles in Ordnung.« Sie atmete erleichtert auf und schickte sich an, die Reste des Aufschnittes zu verschließen.

Sie trat gerade wieder ins Wohnzimmer, als der Vater sagte: »So, ihr Jungen, der Krieg in Südwestafrika ist unvermeidlich. Morgen geht das erste Seebataillon von Kiel ab.«

»Vater!« Helmut rief es und sprang begeistert aus. »Wäre ich doch ein Mann und könnte mit! Fein wäre das!«

»Na, ich danke! Gegen die Schwarzen möchte ich gewiß nicht mit,« rief Lena entsetzt.

»Wenn solches Volk unsere deutschen Farmer überfällt und man da als Deutscher ruhig zusähe, wäre man keinen Schuß Pulver wert. Das mußt du sogar einsehen, wenn du auch bloß ein Mädel bist,« erklärte Helmut.

»Darf Hans nicht mit, Vater?« fragte Werner.

»Nein, er ist ja zurückgestellt und erst nächstes Jahr mit seinem Studium fertig; das weißt du doch.«

Werner entgegnete nichts, aber er sah Erwin fragend an.

Ein heftiger Schreck durchzitterte Lena; ihr war, als ziehe aus weiter Ferne eine Wolke daher, ihr frohes Dasein zu verdunkeln.

»Wenn ich angenommen werde, dann gehe ich als Arzt mit nach Südwestafrika,« erklärte Erwin. »Ich ließ es eure Eltern bereits wissen, daß ich mich gemeldet habe. Mein Professor billigt das Vorhaben und hat sich für mich verwendet. So habe ich Aussicht, angenommen zu werden. Ich hoffe auf einen zweiten Truppentransport, falls der Aufstand dann nicht schon unterdrückt ist.«

Lena war blaß geworden. Sie wußte, wenn Erwin einen Entschluß gefaßt hatte, war alles Abreden und Bitten erfolglos. Schweigend hörte sie zu, als eingehend über das Land und die heimtückische Art der Kriegführung des Feindes gesprochen wurde.

Als Erwin sich später verabschiedete, blieb er neben ihr stehen.

»Billigen Sie meine Absicht nicht, Fräulein Lena?«

»Nicht ganz. Wenn das Vaterland in Gefahr ist, wäre jeder ein Feigling, der dem Rufe nicht folgt, aber hier – weshalb müssen gerade Sie gehen?«

»Weil ich es für meine Pflicht halte, Fräulein Lena. Ich habe eine eiserne Gesundheit einzusetzen und besitze weder Vater noch Mutter, die sich um mich sorgen. Das sind Gründe, die sehr schwer in die Wagschale fallen; das müssen Sie einsehen, liebe junge Freundin.«

Lena entzog ihm ihre Hand. »Gewiß,« entgegnete sie kurz. »Sie haben vollkommen recht. Gute Nacht!« Ohne sich umzusehen, ging sie ins Zimmer zurück. »Junge Freundin« – ob er sie immer noch für ein Kind hielt? Sie wollte ihm grollen; statt dessen weinte sie sich in den Schlaf.

Der nächste Tag war kein sonnendurchleuchteter Freudentag für Lena, obgleich die Sonne am Himmel stand; im Gegenteil, er war für sie grau in grau gehüllt, der wahre Elendstag, wie sie solche Tage nannte, an denen sie besonderes Pech hatte.

Es fing gleich morgens an. Sie verschlief die Zeit, obgleich sie rechtzeitig geweckt wurde. Der Kaffee, den Elise schon fertig hatte, erregte des Vaters Unwillen im höchsten Grade; so fing die Mißstimmung an.

Lena schlich umher, als habe sie sieben Sorgenbündel auf dem Nacken. Sie hörte kaum hin, als die Mutter ihr Aufträge erteilte, und vergaß noch die Hälfte von dem, was sie glücklich erfaßt hatte. All ihre strahlende Laune war wie fortgefegt. Sie fühlte sich traurig und bedrückt und stellte bei sich fest, daß die Erde das reine Jammertal sei. Eine Begründung hätte sie freilich nicht anzugeben gewußt; sie grübelte auch nicht darüber. Ihre Gedanken kreisten wie gebannt um das eine Wort, das seit gestern abend einen schrecklichen Klang für sie hatte: »Südwestafrika«. Zu gern hätte sie in des Vaters Bibliothek nach einem Buch über dieses ferne Land gesucht; natürlich gab es aber gerade heute besonders viel zu tun.

»Nun, höre einmal zu, Lena,« gebot die Mutter nach dem Frühstück, als die Wohnung vollständig in Ordnung und Elise in die Waschküche gegangen war. »Ich habe eine notwendige Besorgung. Tante Marie bat mich in ihrem Briefe um verschiedene Sachen, die Eile haben; also muß ich selbst gehen. Für das Mittagessen ist alles vorbereitet; du brauchst nur gegen zwei Uhr die Flammen unter dem Suppen- und Schmortopf anzuzünden und um halb drei Uhr die Kartoffeln aufzusetzen. Du bist zwar heute morgen unglaublich zerfahren, aber das, meine ich, solltest du doch fertig bringen. Laß mir auch das Gulasch nicht anbrennen!«

»Nein, Mutter, gewiß nicht,« versprach Lena eifrig.

Kaum hatte sich die Gangtür hinter Mutter und Rolf geschlossen, lief sie in Vaters Zimmer, fand in seinem Schrank, was sie suchte, und ließ sich auf den nächsten Stuhl nieder.

Noch waren nicht fünf Minuten verflossen, da war sie völlig vertieft in das Buch. Der dunkle Erdteil, an den sie bisher keinen Gedanken verschwendet hatte, interessierte sie plötzlich aufs höchste. Alles wünschte sie zu wissen: ob es in den deutschen Kolonien viele wilde Tiere gäbe und welcher Art, ob die Hitze unerträglich oder das Klima leidlich gesund sei.

Darüber vergaß sie Zeit und Stunde. Sie fuhr erschrocken zusammen, als die Uhr dicht über ihrem Kopfe schlug. Verwirrt stand sie auf. Sollte sie nicht irgend etwas besorgen? Um Himmels willen – das Mittagessen!

Hastig klappte sie das Buch zu und lief in die Küche. Dort entzündete sie zwei der Gasflammen und prüfte den Inhalt der beiden Kochtöpfe. So, jetzt konnte sie eigentlich ruhig weiterlesen; hier hatte sie ja nichts zu tun. Da fiel ihr der Mutter Mahnung ein, das Gulasch öfter umzurühren und eine halbe Stunde später die Kartoffeln aufzusetzen. Holte sie jetzt gleich ihr Buch, dann vergaß sie sich. Also die halbe Stunde warten!

Die Hände hinter dem Rücken gekreuzt, wanderte sie von der Küche durch sämtliche Stuben und rührte jedesmal, wenn sie wieder an den Herd kam, das Gulasch gewissenhaft um. Sie fand sich bewunderungswert. Wie lang aber dreißig Minuten werden konnten! Der Zeiger rührte sich ja kaum!

Endlich war es so weit. Lena wartete bis auf die letzte Sekunde, dann setzte sie hastig die Kartoffeln auf.

Jetzt das Buch! Gleich darauf saß sie gemütlich am Herde, vor sich das Buch, in der rechten Hand den Kochlöffel, mit dem sie unablässig in dem Fleischgericht umherrührte, um nur bloß nichts zu versäumen. Eine herrliche Erfindung! So kam der Geist doch auch gleich zu seinem Recht. Nun sollte noch jemand sagen, daß die Lena Giese ihre fünf Sinne nicht richtig beisammen habe; dieser geniale Einfall zeugte schon beinahe von einem sechsten.

Sie lachte lustig auf, goß zur Vorsicht, damit nicht etwa ein Unglück geschehe, etwas Wasser unter das Fleisch und vertiefte sich dann, recht mit sich zufrieden, in ihre Lektüre.

Mechanisch rührte sie weiter, den Ellbogen bequem aufgestützt, ohne zu merken, wie die Zeit verging und ihr Gericht allmählich immer steifer wurde.

Da schlug die Flurglocke an. Verstört sprang sie auf, lief schnell in ihr Stübchen, warf das Buch auf das Bett und eilte zu öffnen.

»Alles in Ordnung?« fragte Mutter unruhig.

»Alles!«

»Ein Glück! Ich wurde in den Geschäften länger aufgehalten und war schon recht in Sorge. Hast du die Sahne schon zum Gulasch getan?«

»Nein, Mutter; das hast du nicht gesagt. Ein bißchen Wasser habe ich hinzugegossen.«

»Nun, es ist ja auch noch Zeit.« Die Mutter hob die Nase, legte den Muff und die Pakete auf den nächsten Tisch und eilte in die Küche.

Bestürzt lief Lena hinterher.

»Kind – die Flammen sind ja viel zu groß!«

Frau Professor hob den Schmortopf ab, schraubte sämtliche Flammen kleiner und beugte sich dann über das bedenklich singende Fleisch.

»Was für ein Brei ist das?« fragte sie.

»Brei? Aber das ist doch das Gulasch,« verteidigte Lena ihr sorgsam behütetes Gericht.

Die Mutter drehte die Flammen völlig aus und stellte den Topf zum Abkühlen ins offene Fenster. Dann hob sie die Deckel mit ärgerlicher Miene von den anderen Töpfen.

»Kartoffelmus,« sagte sie kurz. »Wann hast du angesteckt?«

»Um zwei Uhr, wie du sagtest.«

»Das ist unmöglich. Auch bei der größten Flamme könnte das Fleisch nicht so völlig von den Knochen gekocht sein, wie dies da.« Sie deutete ärgerlich auf den Topf mit der Suppe.

Bild: Richard Gutschmidt

Gleich darauf saß sie gemütlich am Herde, vor sich das Buch.

»Aber Mutter, ich weiß bestimmt, daß die Uhr gerade vollgeschlagen hatte, als ich anzündete.«

»Aber du weißt nicht, wie oft sie schlug?«

Lena schüttelte den Kopf.

»Das sieht dir ähnlich! Nach dem bißchen Brühe, die noch glücklich im Topf ist, hast du mindestens eine Stunde zu früh angezündet.«

Entsetzt starrte Lena die Mutter an. Als sie aber sah, wie die Röte in deren Antlitz der von der ganzen Familie gefürchteten Blässe Platz machte, hielt sie es an der Zeit, den für die Sache sich sehr interessierenden Rolf schleunigst aus der Küche zu befördern und fürs erste selbst zu verschwinden. Augenblicklich war die Mutter am besten allein bei ihren Kochtöpfen aufgehoben.

Nach längerer Zeit erst getraute sie sich zaghaft wieder in den Bereich der mit Recht erzürnten Mutter.

»Schnell, hilf mir andere Kartoffeln schälen,« gebot diese kurz.

Mit zitternden Fingern, recht ungeschickt, vollzog Lena die ungewohnte Arbeit. Sie hätte gern ein Wort der Entschuldigung gesagt, wagte es aber nicht. Aus Erfahrung wußte sie, daß der Augenblick nicht günstig war. Auf der Mutter Geheiß mußte sie dann das Suppenfleisch durch die Hackmaschine gehen lassen, den abgekühlten Gulaschbrei darunter mengen und Frikandellen formen.

Inzwischen waren die Knaben und auch der Professor gekommen, alle höchst erstaunt, daß das Mittagessen noch nicht fertig war.

»Gewiß wieder Lenas Schuld,« murrte Helmut.

»Ja, sie hat die Mutter wieder geärgert; man sieht es mit einem halben Blick,« sagte Werner. »Wenn ich die Mutter wäre, ließ ich sie überhaupt nicht an den Herd. Ich führe aus der Haut, wenn sie mir alle paar Tage etwas verdürbe.«

»Ja, und wie muß man nun wieder hungern,« seufzte Helmut. »Die Lena ist doch ein schreckliches Geschöpf.«

Viel später als gewöhnlich wurde das Essen aufgetragen. Die Mutter sah erschreckend blaß aus und genoß fast gar nichts. Lena errötete unter den vorwurfsvollen Blicken der Brüder und hielt es für schicklich, ihrem gesunden jungen Appetit nicht wie sonst nachzugeben, sondern nach der ersten Portion die Waffen zu strecken. Dabei hatte sie unbändigen Hunger und frischgebratene Frikandellen waren obendrein noch ihr Leibgericht.

Ach, was für ein Elendstag war dies doch, daß man sich aus reinem Schicklichkeitsgefühl nicht einmal sattessen konnte! Und dieser Schreck, als die Mutter nach Tisch mit in des Vaters Zimmer ging! Das geschah nur, wenn sie etwas Ernstliches mit ihm zu besprechen hatte.

»Na, das wird nett werden,« prophezeite Werner.

In unruhiger Spannung und doch mit einer gewissen Neugierde harrte Lena. Ob diese Unterredung wirklich mit ihrer Person in Zusammenhang stand?

Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Als aber die Mutter nach fast einer Stunde aus des Vaters Zimmer trat, wußte Lena sofort, daß über ihr Schicksal entschieden war. Unwillkürlich erhob sie sich und sah der Mutter bange in die Augen.

»Ja, Lena,« beantwortete diese die stumme Frage, »Vater und ich sind zu der Einsicht gekommen, daß es am besten ist, wir geben dich ein Jahr aus dem Hause.«

»Mutter – lieber will ich mal hungern, oder angebranntes Zeug essen, aber laß die Lena hier,« bettelte Helmut.

»Ja, Mutter, laß uns zusammen,« bat auch Werner. »Sie ist sonst ein guter Kamerad, und trennen müssen wir uns noch früh genug.«

Lena sagte nichts; ihr erblaßtes Antlitz, ihre flehenden Augen jedoch sprachen deutlich genug.

»Es geht nicht anders, Kinder, so herzlich ich es auch bedaure,« entgegnete die Mutter fest. »Im Elternhause wird Lena – das sehe ich immer mehr ein – ihre Pflichten niemals ernst nehmen, so oft sie auch schon die besten Vorsätze gefaßt hat; mag sie es nun bei Fremden lernen! Nach dem Osterfest muß sie fort.«

»So, Flattergeist, das hast du nun davon,« schalt Helmut, als die Mutter gegangen war. Dann bemühten er und Werner sich aber eifrig, die Schwester damit zu trösten, daß Ostern noch fern liege und die Mutter sich gewiß versöhnen lasse, wenn Lena sich bis dahin ernstlich zusammennehme.

Aber diese saß da wie ein Häufchen Unglück und schüttelte den Kopf. »Es nützt doch nichts,« erwiderte sie mutlos. »Wenn solche Elendstage kommen wie der heutige, dann geht alles schief; ich kenne mich ja.«

»Dummes Zeug!« fuhr Werner hitzig auf sie los. »Schafft der Tag dich oder schaffst du dir deinen Tag? Wie kannst du solchen Unsinn reden! Der Tag ist doch nicht verantwortlich für dich, sondern umgekehrt.«

Lena wurde rot; sie dachte an das Buch auf ihrem Bett, durch das alles Unheil gekommen war.

»Hab' doch mal nur ein Fünkchen Ehrgeiz,« mahnte Helmut etwas handgreiflich, indem er sie leicht in die Rippen stieß.

»Ja, reiß dich mal zusammen und zeig, daß auch ein Mädel kann, was es will,« half Werner nach.

»Glaubt ihr, daß die Mutter nachgibt, wenn –«

»Natürlich! Wenn sie Tatsachen sieht!«

Der Glanz kehrte in Lenas Augen zurück; sie stand auf. »Ich will,« sagte sie, nichts weiter, doch die Jungen waren befriedigt.

In der nächsten Zeit war Lena sehr still und in sich gekehrt, aber ängstlich darauf bedacht, nichts zu vergessen und zu versäumen; ja, sie suchte der Mutter jeden Wunsch an den Augen abzulesen. Frau Professor kam auch nicht wieder darauf zurück, ihr Töchterchen fortzugeben, und Lena wiegte sich allmählich immer mehr in Sicherheit, in der Hoffnung, doch noch daheim bleiben zu dürfen.


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