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Ein trostloser Sonntag

»Mutter,« fragte Haus am anderen Morgen beim Kaffee, »kannst du Lena in der nächsten Zeit nicht etwas von ihren häuslichen Pflichten entbinden? Sie ist blaß und schmal geworden; da möchten wir sie gern bei kürzeren Ausflügen mitnehmen, wenn du sie mir anvertrauen willst. Luft und Sonne würden ihr sicher gut tun.«

Der Professor warf über seine Zeitung hinweg einen prüfenden Blick auf sein vor Freude errötendes Töchterchen. »Der Junge spricht mir aus der Seele, Mutter,« bemerkte er. »Lena will mir schon lange nicht mehr gefallen.«

»Ich will ihr gern ein wenig mehr Freiheit gewähren,« entgegnen die Mutter bereitwillig. »Aber, Hans, durch übergroße Märsche darf sie nicht überanstrengt werden.«

»Gewiß nicht, Mutter; das würde auch Erwin als künftiger Arzt gar nicht leiden.«

»Nimm uns auch mit, Hans,« flehten Werner und Helmut, aber der große Bruder vertröstete sie auf ein anderes Mal; heute sollte es nur Lenas Vergnügen gelten. »Also, Maus, was möchtest du am liebsten?«

»Rudern,« rief sie lebhaft, »mal wieder so wie früher auf dem Neuen See.«

»Schön! Dann packe nur Frühstück für uns ein, damit wir nicht zu schnell zurück müssen. Wird um zwei Uhr gegessen, Mutter?«

»Ja, mein Junge; nicht später, bitte.«

In frohem Eifer lief Lena in die Speisekammer, schnitt Brot, belegte es und wickelte es ein. Die Knaben ließen sich ihr Frühstück auch gleich geben, da sie zu einem Kameraden zu gehen gedachten. Als Rolf nun traurig werden wollte, versprach die Mutter, ihn später auf Besorgungen mitzunehmen. Lena wusch noch schnell die Tassen, räumte den Kaffeetisch ab, und, um zu zeigen, daß sie der Mutter Güte nicht zu mißbrauchen gedenke, stellte sie sogar noch das Frühstück für die Eltern und Rolf bereit. Dann kleidete sie sich hurtig an und zeigte sich vor der Mutter, die ihre heimliche Freude an dem schlanken, hübschen Töchterchen hatte.

Gerade als sie gehen wollte, trat der Professor ein. »Hier telegraphiert mein alter Studienfreund Krause, daß er um ein Uhr durchkommt und erst am Abend weiterfährt. Ich freue mich außerordentlich auf ihn. Paßt es dir, liebe Luise, daß ich ihn zu Tisch mitbringe?«

»Natürlich, Ernst, das ist ja ganz selbstverständlich! Ich schiebe ein Fischgericht ein.«

»Mutter, muß ich nun zu Hause bleiben?« fragte Lena ängstlich.

»Nein, gehe nur; ich werde schon mit Elise fertig. Den Fisch besorge ich mir ja doch selbst.«

Vergnügt eilte Lena hinaus und schritt gleich darauf mit den jungen Leuten durch den Tiergarten nach dem Neuen See.

»Dies ist eigentlich gar kein rechtes Vergnügen,« sagte Hans, als sie wohl eine Stunde umhergerudert waren. »In Zukunft mußt du dich dazuhalten, etwas früher mit deinen häuslichen Obliegenheiten fertig zu werden, Lena. Am liebsten möchte ich täglich nach Wannsee hinunter. Dort kommt man doch vorwärts; hier dreht man sich ja nur im Kreise.«

»Willst du das Rudern als Feriensport betreiben?« fragte Erwin, und als Hans nickte, fuhr er fort: »Mir ist's recht! Fräulein Lena könnte es auch nicht schaden, natürlich nur ihren Kräften angemessen.«

Lena war Feuer und Flamme und erhielt sofort die ersten Unterweisungen. Das gab viel Spaß, und Hans war der Spielraum nicht mehr zu klein. Zur Frühstückspause ließen sich alle drei Butterbrot und Obst trefflich schmecken. Die Jünglinge plauderten so angeregt und so wenig gelehrt, daß Lena sich völlig mit Erwins Gegenwart aussöhnte. Dann mußte sie das Steuer führen lernen und bekam schließlich auf ihre dringende Bitte nochmals die Ruder in die Hände.

»Alle Wetter,« rief Hans plötzlich nach einem Blick auf die Uhr, »es wird die höchste Zeit. Schnell die Ruder her, Lena!«

»Ja, mach, Hans; zu spät dürfen wir nicht kommen.« Sie zog ihr Tuch aus der Tasche, das heiße Gesicht zu trocknen, und riß dabei einen Schlüssel heraus.

Erwin hob ihn auf, aber statt ihn zurückzunehmen, starrte sie entsetzt darauf.

»Was ist, Fräulein Lena?« fragte der junge Mann verblüfft.

»Hans –« stammelte sie fassungslos – »Hans – das ist ja der Speisekammerschlüssel!«

Hans pfiff durch die Zähne. »Eine nette Geschichte! Aber nicht mehr zu ändern. Mutter wird längst zum Schlosser geschickt haben; also rege dich nicht auf, Maus.«

Lena seufzte tief. »Das wird was Schönes setzen! Und dazu der fremde Gast! Hans, rudere doch schnell, daß wir nach Hause kommen.«

»An der Anlegestelle wären wir ja schon; ich will nur noch bezahlen. Nun zur Untergrundbahn; so kommen wir am schnellsten vom Flecke. In einer halben Stunde spätestens sind wir daheim.«

Lena erwiderte nichts; sie sah so ängstlich und betrübt aus, daß die jungen Männer sie nach Möglichkeit trösteten. Im Sturmschritt kamen sie zu Hause an.

»Unglückswurm, was hast du wieder angerichtet,« rief Werner, der auf ihr Klingeln öffnete.

»Elise hat geheult, und Mutter sieht kreideweiß aus,« berichtete Helmut.

Lena, die eilig ihren Hut abnehmen wollte, sanken die erhobenen Arme schlaff hernieder. Es war ein untrügliches Zeichen großer Erregung, wenn die Mutter »weiß« aussah.

»Na, es wird so schlimm nicht sein,« tröstete Hans. »Komm, ich gehe mit dir in die Küche.«

Der junge Student kam indessen nicht weiter als bis über die Schwelle. Sein vergnügtes: »Guten Tag, Mutter! Entschuldige –« wurde unterbrochen. Frau Professor, eifrig am Herde beschäftigt, auf dem es brodelte, briet und schmorte, als sollte ein ganzes Regiment gespeist werden, rief sehr energisch über die Schulter: »Ich habe jetzt keine Zeit, Hans, für niemand! Lena, deck den Tisch recht hübsch! Wir sprechen uns nachher.«

Lena stand mit so kläglichem Gesicht da, daß Hans ihr beruhigend die Hand drückte. »Mach deine Sachen recht gut und vergiß nichts! Nach Tisch ist der Mutter Zorn schon etwas verraucht.«

Seufzend ging Lena ins Eßzimmer und begann zu decken, von Werner und Helmut eifrig unterstützt.

»Wann hat Mutter es denn mit dem Schlüssel gemerkt?« erkundigte sie sich.

»Erst kurz vor eins. Als sie den Fisch besorgt hatte, kam Besuch, der über eine Stunde blieb. Wie Mutter in die Küche ging und glaubte, es koche schon alles, da stand die Elise noch da und heulte, weil sie den Speisekammerschlüssel nirgends finden konnte.«

»So ein dummes Frauenzimmer,« schalt Werner. »Statt 'reinzugehen und Mutter nach dem Schlüssel zu fragen, stellte sie sich hin und heulte! Ein Glück, daß wir gerade kamen! Im Galopp ging's zum Schlosser. Der ist noch gar nicht lange weg.«

»Hat Mutter sehr gescholten?« fragte Lena bedrückt.

»Gesagt hat sie eigentlich gar nichts,« entgegnete Werner nachdenklich.

»Na, weißt du,« bemerkte Helmut, »so ein stiller Ärger ist mir unheimlicher als ein lauter. Wenn es sein muß, eine Ohrfeige, aber dann wieder gut! So eine Unterredung unter vier Augen, wie sie dir bevorsteht, du arme Lena, ist gräßlich. Ich kenne das!«

»Lena, du deckst ja verkehrt! Wir haben doch Vaters Freund noch hier. Mach bloß nicht noch mehr Dummheiten, Flattergeist.«

Lena nahm sich zusammen. Dann kam der Vater mit dem fremden Herrn, der von der Mutter auf das liebenswürdigste begrüßt wurde. Eine gute halbe Stunde später als sonst konnte gegessen werden. Lena begriff nicht, wie Mutter alles so schnell hatte fertig zaubern können; aber alles war tadellos, von der Suppe bis zu den gebratenen Hühnchen. Nur die Erdbeeren zum Nachtisch hätten etwas mehr durchzuckern sollen. Alle waren sehr vergnügt, nur Lena nicht. Unruhig forschte sie in den blassen Zügen der Mutter, die ihr Töchterchen indessen nicht weiter beachtete. Erst als sich die Herren in des Professors Zimmer zurückgezogen hatten, rief sie Lena zu sich.

»Mutti, du haust sie doch nicht,« bat Rolf inbrünstig. Er wurde über diesen Punkt beruhigt, und dann schloß sich die Tür hinter Mutter und Tochter. Nach geraumer Weile erst kam Lena wieder heraus, mit rotgeweinten Augen zwar, aber sie versicherte auf der Brüder teilnehmende Fragen, die Mutter sei geradezu engelsgut mit ihr gewesen.

»Darfst du nun morgens nicht mehr mit Hans und Erwin?« fragte Helmut.

»Doch – wenigstens so oft es geht; aber wenn wir wieder allein sind, soll ich selbständig kochen, weil ich da meine Gedanken beisammen haben muß.«

»Au weh,« seufzte Werner. »Da gib uns nur ja allemal die doppelte Portion Frühstück mit,« rief Helmut.

In der nächsten Zeit nahm Lena sich sehr zusammen. Sie wollte beweisen, daß es ihr wirklich ernst sei. Auch schämte sie sich vor Erwin Holm. Der junge Mann war so pünktlich, ordnungsliebend und zuverlässig, daß er sicher kein Verständnis für ihre große Zerfahrenheit hatte. Das zeigten ihr seine erstaunten Blicke, wenn die Gedankenlosigkeit ihr wieder mal einen Streich spielte.

Viel zum Nachdenken über sich selbst kam sie aber in dieser Zeit nicht; dazu stellten die Brüder zu viele Anforderungen an sie, namentlich Hans. Wo immer es anging, mußte sie jetzt dabei sein. Er war wieder der ritterliche, liebevolle Bruder früherer Zeiten, ohne deshalb den Freund zu vernachlässigen. Beide Jünglinge umgaben sie mit so viel Fürsorge, daß sie sich wie eine halbe Königin vorkam.

In ungetrübtem Frohsinn verbrachte die Jugend die langen Ferien. Allen kam der Herbst viel zu früh, denn nun hieß es Abschied nehmen. Hans kehrte zu seinen Studien nach Jena zurück, Erwin siedelte nach Zehlendorf zu seinem Onkel über, sich auf das Examen vorzubereiten.

»Es ist ordentlich still im Hause,« sagte Lena am nächsten Morgen zur Mutter. »Ich habe richtiges Heimweh nach den Herren Studenten. Ein Glück, daß Erwin wenigstens in der Nähe bleibt und öfter mal zu uns kommen kann! Und jetzt will ich mit allem Eifer an meinem Entwicklungsgang arbeiten, Mutter. Der Flattergeist wird endgültig gebannt; du sollst es sehen!«

»Das würde mir sehr angenehm sein, Kind.«

»Ja, Mutter, jetzt wird es ernst; ich bin durch ein heiliges Versprechen gebunden. Dir kann ich's ja erzählen, Mutti; ich weiß, du sagst es niemand wieder. Hans, Erwin und ich haben uns vorgestern abend im Garten feierlich gelobt, uns mit aller Kraft zu bemühen, unsere Fehler zu bekämpfen, in allem Guten zu wachsen und ganze Menschen zu werden. Da muß ich ja mit den beiden Schritt halten, will ich nicht für klein und schwach gelten. Es wird mir schwer fallen, aber es ist wunderschön, einem so hohen Ziele nachzustreben und noch dazu mit solchen Bundesgenossen, wie Hans und Erwin, nicht wahr, Mutti?«

Sinnend sah Frau Professor in die leuchtenden jungen Augen; zärtlich strich sie dem Töchterchen über die vor Begeisterung glühenden Wangen.

»Sehr schön, mein Herz, vergiß aber nicht, daß es dir aus eigener Kraft niemals gelingen wird.«

»Ich weiß, Mutter; auch Erwin hat es ausgesprochen, daß alles Gelingen nur von Gottes Hilfe und seinem Segen abhängt. Er sprach so schön, daß wir alle drei in eine wahre Begeisterung gerieten und uns unwandelbare Freundschaft für das ganze Leben gelobten. Erwin ist ein sehr guter Mensch; findest du das nicht auch, Mutter?«

»Gewiß, Kind. Der Vater und ich sind glücklich, daß Hans einen solchen Freund gefunden hat.«

»Mein Freund ist er nun auch. Ich bin sehr stolz und will alles tun, dessen wert zu sein. Denn so wie ich bisher war, komme ich mir recht oberflächlich und unwürdig vor.«

Lena wandelte in der nächsten Zeit wie auf Wolken. Sie hatte einen eigenen Glanz in den Augen und ein geheimnisvolles Lächeln um die Lippen, wenn die Brüder sich wunderten, daß sie gar nichts Verdrehtes anstellte. Beide waren aber nicht recht zufrieden mit ihr. Sie tollte weder mit ihnen, noch lachte sie über ihre gelegentlichen dummen Streiche. Sie redete nur in überschwenglichen Worten über das Gute im allgemeinen und in den einzelnen Fällen, alles unklar und verschwommen, für die Knaben völlig unverständlich. Sie fingen an, sich über die Schwester lustig zu machen, erklärten sie unhöflicherweise für »übergeschnappt« und prophezeiten ihr einen gewaltigen Purzelbaum aus der Höhe ihrer Überspanntheit.

Sie hatte auch dafür nur ein Lächeln. Sie fühlte sich in ihrer jungen Weisheit sicher und geborgen. Dem ernsten Wollen mußte unbedingt das Gelingen folgen. Legte sie nicht jetzt schon ein glänzendes Zeugnis dafür ab? Seit vierzehn Tagen hatten die Gedanken ihr gehorcht; nicht das geringste hatte sie versäumt, nichts vergessen. Sie hatte sich den Kampf viel schwerer gedacht. Ob sie ein so starker Mensch war, daß sie alle Hindernisse gleichsam spielend überwand? Sie hatte sich so viel innere Kraft niemals zugetraut und bekam ordentlich Achtung vor sich selbst. Was Erwin wohl sagen würde, wenn er am nächsten Sonntag kam? Es war beim Abschied gleich ausgemacht worden, daß er stets den zweiten Sonntag in der Familie des Professors verleben sollte.

Mit besonderer Freude im Herzen erhob sich Lena am Sonntagmorgen und spähte hinter der Gardine hervor nach dem Wetter. Der Herbst war sehr schön in diesem Jahr. Noch immer standen Bäume und Büsche, der vorgeschrittenen Jahreszeit zum Trotz, in leuchtendem Farbenschmuck. Im Tau auf dem Rasen dehnten kleine Blümchen die zarten Glieder und freuten sich des langen Lebens; an den üppigen Dahlienbüschen wiegten sich in stolzer Pracht wahre Riesenexemplare leuchtender Blüten. Überall herrschte noch reiches Leben in der Natur.

Das Trommeln kräftiger Knabenfäuste gegen die Tür riß Lena unsanft aus ihrem stillen Genießen.

»Hast du die Zeit verschlafen?«

Erschrocken fuhr sie herum. Sie hatte stets für den Kaffee- und Teetisch zu sorgen; heute hätte sie ihre Pflicht fast vergessen.

»Ich komme sofort,« rief sie zurück. Sie warf hastig den Morgenrock über, band schnell eine hübsche Morgenschürze vor und eilte in die Küche. Gerade waren Vater und Mutter erschienen, als sie den Kaffee auftragen konnte. »Hätten wir dich nicht gerufen, wärst du nicht zur rechten Zeit fertig geworden,« raunte Helmut ihr zu.

»Still, verdirb mir nicht den Tag! Es ist seit langem das erstemal, daß ich mich vergaß.«

»Na, das wird sich nun wohl wieder öfter machen,« frohlockte er. »Zeit ist es, daß du endlich wieder auf die Erde kommst! Stehst du schon fest auf beiden Füßen?«

»Nicht ganz.«

»Wird schon kommen,« tröstete er.

Da klingelte es zweimal kurz hintereinander. Die Knaben stießen sich fast um, so eilig sprangen alle drei auf und eilten mit lautem Triumphgeschrei auf den Flur. Auch Lena erhob sich, holte eine Tasse und machte schnell Platz für einen Gast.

Von den Knaben umdrängt, trat Erwin mit fröhlichem: »Guten Morgen!« ein, das sonst etwas blasse Gesicht vor Freude leicht gerötet und belebt.

»Bin ich zu früh gekommen?« fragte er und nahm seinen gewohnten Platz ein. »Ich hatte aber solche Sehnsucht nach dieser gemütlichen Kaffeestunde, daß ich nicht widerstehen konnte. Ich bin meinem Onkel sehr dankbar, daß er mir ein Heim bot; aber auf heute habe ich mich doch schon die ganze Woche gefreut.«

Frau Professor reichte ihm die Hand über den Tisch. »Wir auch, lieber Erwin,« versicherte sie herzlich. »Ich hoffe, daß Sie sich bei uns wie zu Hause fühlen.«

»Tausend Dank, gnädige Frau! Ja, ich fühle mich heimisch bei Ihnen; nur Hans fehlt mir heute.«

»Haben Sie Lust, junger Freund, die Knaben und mich in den Grunewald zu begleiten?« fragte der Hausherr.

»Mit Vergnügen, Herr Professor; es muß herrlich dort draußen sein.« Er sah fragend zu Lena hinüber.

»Unser Töchterchen begleitet uns erst heute nachmittag,« erklärte der Professor, der seinen Blick aufgefangen hatte.

»Elise ist nämlich schon vor Tau und Nebel zu einer Landpartie fort,« setzte Frau Professor hinzu.

»Ja, dann ist Fräulein Lena Ihnen freilich unentbehrlich,« gab er zu.

»Du schneidest uns wohl schnell das Frühstück, Töchterchen,« sagte Vater freundlich.

Schweigend, dunkle Glut auf den Wangen, Tränen in den Augen, erhob sich Lena und eilte in die Speisekammer. Wie hatte sie sich auf einen Morgenspaziergang gefreut, wie der Vater ihn bisweilen mit ihnen unternahm! Mit welcher Wonne hatte sie die köstlichen Morgenstunden im Walde genießen wollen! Und was alles hatte sie mit Erwin zu besprechen! Statt dessen hieß es daheim bleiben und Dienstmädchen spielen. Sie war so außer sich, daß ihr die Hände zitterten und helle Tränen über die Wangen rannen.

Da kam Helmut. »Du, leg mir ordentlich dick Schinken auf,« bettelte er, »den mag ich zu gern.«

»Du nimmst, was du bekommst; wenn es gar nichts darauf gibt, ist das noch gut genug für euch Jungen.«

»Oho, das wollen wir doch mal sehen!«

»Still und marsch hinaus! Du hast hier nichts zu suchen.«

Ein lustiges Lachen flog über des Knaben hübsches Gesicht, als er in die blitzenden Augen der Schwester sah. »Sieh mal an, wie ärgerlich du noch sein kannst. Ein wahres Glück! Ich dachte schon, du ständest mit Dame Tugend derart auf du und du, daß dir so etwas überhaupt nicht mehr geschehen könnte.«

Dunkle Glut zog Lena über das Gesicht. Der Ärger über den naseweisen Jungen benahm ihr alle Besonnenheit.

»Hinaus!« rief sie nur und zeigte mit der Hand nach der Tür.

»Na nu, man kann doch mal einen Spaß machen,« brummte Helmut, ging aber. »Gibt es nun keinen Schinken?« rief er schelmisch zurück und lief lachend davon.

Da erschien Werner. »Noch nicht fertig, Lena? Wir wollen fort. So mach doch! O je – das Gesicht! Und die dünnen Schnitten! Wie sollen wir daran satt werden? Eigentlich ist es schäbig, seine schlechte Laune an dem Frühstück seiner Mitmenschen auszulassen. Es ist ja schade, daß du nicht mitkannst, aber daß wir deshalb fasten sollen, ist wirklich nicht zu verlangen.«

Lena schwieg, schnitt aber noch Brot dazu, wickelte alles ein und schickte Werner damit ins Zimmer.

»Adieu – Töchterchen!« rief bald darauf des Vaters Stimme ihr zu. Da mußte sie wohl oder übel die Speisekammer verlassen.

»Lena, ich darf auch mit,« rief Rolf strahlend vor Freude.

Vater drückte ihr die Hand. »So, mein Töchterchen, nun hilf der Mutter recht brav und denke dir dabei aus, wohin du heute nachmittag gern möchtest.«

»Adieu, Fräulein Lena.« Erwin trat zu ihr. »Ich hätte mich sehr gefreut, wenn Sie mitgegangen wären. Schade, daß es nicht möglich ist! Ich habe Ihnen manches zu erzählen. Auf heute nachmittag also! Die nächste Pflicht bleibt die erste, nicht wahr?«

Er forschte in ihren erregten Zügen; sie hob indessen die Augen nicht, sondern entzog ihm ihre Hand und ging schnell in ihr Stübchen, es mit vielem Geräusch in Ordnung zu bringen. Erst aber mußte sie sich mal ausweinen. Dann ging sie zur Mutter.

»Was soll ich nun tun?« fragte sie kurz.

Frau Professor übersah völlig des Töchterchens schlechte Laune. »Das Knabenzimmer, Kind; ich bin mit unserem Schlafzimmer gleich fertig.«

»Warum hast du Frau Müller nicht heraufkommen lassen?«

»Sie kann am Morgen nicht – das weißt du ja – zumal jetzt, da sie das kranke Kind hat. Ich bin froh, daß sie heute mittag die Küche reinmachen will. Elise hat ja auch so viel wie möglich vorgearbeitet; da werden wir beide recht gut fertig.«

Lena ging schweigend in das Jungenzimmer und rumorte dort herum. Wie konnte die Mutter gerade heute, da Besuch hier war, die Elise fortlassen? Ob die an der dummen Landpartie teilnahm oder nicht, war doch ganz einerlei! In erster Linie kommt doch stets die Herrschaft. Aber natürlich ging das Mädchen vor, und die Tochter des Hauses mußte daheim bleiben.

So arbeitete sich Lena in immer größeren Zorn hinein und gab nicht acht auf das, was sie tat. Krach – fiel eine der Waschschüsseln zu Boden und zerbrach in tausend Scherben. Entsetzt starrte sie darauf nieder.

»Was ist geschehen?« fragte die Mutter zur Tür herein, schüttelte den Kopf und ging schweigend wieder.

Lena suchte die Scherben zusammen und brachte sie beiseite.

»Ich hole heute mittag eine andere,« sagte sie zu Mutter, die in der Küche war.

»Das habe ich auch so erwartet,« lautete die Antwort.

Lenas Verstimmung wurde durch ihr Mißgeschick durchaus nicht behoben; sie erreichte im Gegenteil den Höhepunkt. Warum mußte sie auch Dienstmädchenarbeit tun? Dabei kam dann natürlich so etwas heraus. Ein elender Tag war dies! Sie wollte froh sein, wenn er erst sein Ende erreicht hatte.

»Trage unser Frühstück auf den Balkon, Kind,« sagte Mutter später, »es ist ja prächtig warm.«

Schweigend brachte Lena alles herbei und stellte eine Tasse Kakao, Butterbrot und ein Ei vor Mutter hin.

»Nun und du?«

»Ich danke. Ich habe Kopfschmerzen und kann nicht essen.«

»Nein, mein Kind, dies führt zu weit; ich kann nicht erlauben, daß du dich elend machst.«

»Laß mich, Mutter, ich bitte dich.«

Kopfschüttelnd griff die Mutter nach dem Ei, sah aber dann schnell auf. »Ist es überhaupt gekocht?«

Bestürzt faßte Lena das Ei und verschwand damit. Nach einigen Minuten brachte sie es wieder und stellte es in der Mutter Eierbecher. Ohne ein Wort zog sie sich darauf in ihr Stübchen zurück und ließ die Mutter allein frühstücken.

Als später die Frau Professor die Tochter rufen wollte, blieb sie erstaunt in der Tür stehen. Lena kniete vor ihrer Kommode, um sie her auf dem Fußboden verstreut Bücher, Schürzen, Bänder, Wäsche, kurz, der ganze Inhalt der drei Schubladen.

»Was in aller Welt treibst du da?«

»Ich räume auf.«

»Heute am Sonntag?«

Lena zuckte die Achseln. »Warum nicht? Es ist ja doch Arbeitstag heute.«

»Jetzt habe ich es satt mit deiner schlechten Laune, Mädchen. Ich möchte dich ersuchen, dich so zu betragen, wie ich es von meiner erwachsenen Tochter erwarten kann. Ich wußte nicht, daß du mir so ungern hilfst, sonst hätte ich dich mitgehen lassen. Der Vater wollte aber nicht, daß ich alles allein besorge, weil ich sehr schlecht geschlafen habe und mich angegriffen fühlte. Dein Benehmen ist mir eine bittere Enttäuschung, das muß ich sagen. Jetzt kannst du zum Kochen kommen, das heißt, wenn du nicht mehr in der Verfassung bist, mir das Geschirr entzwei zu schlagen; sonst bleibe lieber hier!«

Die Tür schloß sich wieder; Lena blieb allein.

Einen Augenblick hockte sie still zwischen ihren Sachen, dann warf sie mit leidenschaftlicher Gebärde beide Arme über die aufeinanderstehenden Schiebladen, legte den Kopf darauf und brach in heiße Tränen aus. Sie schluchzte, als wolle sie heute überhaupt nicht wieder aufhören.

Da hörte sie die Mutter in der Küche hantieren. Hastig sprang sie auf, lief zur Tür hinaus und fiel der ahnungslosen Frau Professor, die den Braten gerade in die Pfanne legen wollte, stürmisch um den Hals. Platsch – lag das Fleisch in der Butter, die hoch aufspritzte.

Frau Professor stieß einen kleinen Schrei aus; Lena fuhr zurück.

»Mutter, hast du dich verbrannt?« fragte sie zitternd.

»Nur ein klein wenig. Schnell, hole die Flasche mit Leinöl und Kalkwasser.«

Lena eilte in das Schlafzimmer, nahm aus dem kleinen Medizinschrank eine Flasche und lief zur Küche zurück.

»Kind, das ist ja Salmiakgeist.« Kopfschüttelnd ging die Mutter nun selbst. Mit schlaff niederhängenden Armen und tief gesenktem Haupt, ein Bild äußerster Zerknirschung, stand Lena, als sie zurückkam.

Mit leisem Lächeln strich Frau Professor über das glänzende dunkle Haar ihres Kindes.

»Nun, Töchterchen?« fragte sie gütig.

»Mutter« – Lena zuckten die Lippen – »ich bin zu nichts nütze; es ist schade, daß du noch ein Wort an mich verschwendest. Wozu kämpft man mit aller Kraft gegen seine Fehler, wenn solche Tage kommen können, wie der heutige?«

»Du hast überhaupt nicht gekämpft, liebe Tochter, sondern dich von einer flüchtigen Aufwallung deiner Gefühle tragen lassen. Daß ein Rückschlag kommen mußte, war natürlich, ebenso wie deine Niederlage. Du glaubtest deiner völlig sicher zu sein, ja, du streutest dir selbst ein wenig Weihrauch, mein Töchterchen. Leider hattest du einen sehr wichtigen Faktor vergessen: die Demut. Sie führt zur ersten Stufe der Tugendleiter, mein Herz.«

»Ich schäme mich grenzenlos, Mutter! Ich glaubte wirklich, auf festen Füßen zu stehen und muß nun so kläglich Schiffbruch leiden, nur weil ein bißchen Selbstverleugnung von mir verlangt wird! Vergibst du mir?«

»Gern, Liebling. Aber nun lauf, wasche dein Gesicht und räume deine Sachen ein; ich werde eine Weile allein fertig. Wenn dann unsere Lieben kommen, ist alles bereit, und du bist wieder unsere fröhliche Lena.«

»Wie gut du bist, Mutter! Schmerzt dein armer Finger sehr?«

»Nein, beruhige dich; es ist nicht schlimm geworden. Aber nun vorwärts, Kind, sonst werden wir nicht rechtzeitig fertig.«

Die Mutter mußte sich noch eine feurige Umarmung gefallen lassen, dann huschte Lena davon, um ihr Zimmer in Ordnung zu bringen.


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