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Der Zug näherte sich Wernigerode, das stolze, hochgelegene Schloß des Fürsten Stolberg wurde sichtbar. Lena erhob sich rasch und trat ans Fenster.
»Wer wohl auf dem Bahnhof ist? Ich freue mich sehr auf die Mädchen. Bloß« – ein Blick streifte die eigene Trauerkleidung – »meinst du, Vater, daß man gar kein bißchen vergnügt sein darf?«
»Gib dich nur ganz, wie du bist, Töchterchen, und folge im übrigen deinem Taktgefühl, das wird dir schon sagen, wann du vergnügt sein darfst und wann nicht.«
Lena seufzte tief. Sehr viele Zuversicht zu diesem Taktgefühl besaß sie nicht. Bisher hatte sie sich mehr auf der Mutter heimliche Winke und Blicke verlassen. Aber sie kam ja nicht zu Fremden, sondern zu lieben Verwandten, die sie von klein auf kannte.
Da fuhren sie in den Bahnhof ein und dort –
»Da sind Ilse und Klärchen,« jubelte sie. »O Vater – sie lachen! Bin ich froh!«
Sie hatte das Fenster heruntergelassen, winkte mit ihrem Tuch und zappelte vor Ungeduld, bis der Zug hielt, und sie aussteigen und der schlanken Ilse in die Arme fliegen konnte. Die beiden hatten einander besonders gern und sahen sich strahlend in die Augen.
»Wie hab' ich mich auf dich gefreut, Lena!«
»Und ich mich auf dich, Ilse! Was für ein herrliches Jahr soll dies werden!«
»Lena, sag mir doch auch guten Tag,« bat das dreizehnjährige Klärchen. Lena schloß sie in die Arme, und der Professor begrüßte Ilse.
Nachdem das Gepäck besorgt war, schlugen alle vier den Weg zur Stadt ein.
»Die Mutter läßt sich entschuldigen, Onkel,« bestellte Ilse, »daß sie nicht mitgekommen ist, sie wurde plötzlich abgehalten und Anna ist bei Bernd geblieben.«
»Geht es ihm wieder schlechter?«
»Das will ich nicht sagen, Onkel, er ist nur wie immer im Frühling sehr schlaff.«
»Haben sich noch mehr junge Mädchen gemeldet?« forschte Lena neugierig. »Ihr habt nie darüber geschrieben.«
»Ja, aber denkt euch nur dieses Pech: die eine – es sind nämlich zwei Schwestern aus Magdeburg – liegt sterbenskrank an Scharlach und die andere darf erst zu uns, wenn keine Ansteckungsgefahr mehr zu fürchten ist! Sie wären sonst auch heute gekommen.«
»Weitere Anmeldungen sind nicht eingegangen, Kind?«
»Nein, Onkel. Aber Mama ist für den Anfang ganz zufrieden.«
»Am allerschönsten ist es, daß Lena gekommen ist,« rief Klärchen und preßte zärtlich der Cousine Arm.
Unter lebhaftem Plaudern wurde der lange Weg durch fast ganz Wernigerode zurückgelegt. Jetzt bog er ab und stieg steil nach Röschenrode hinauf, wo Ilses und Klärchens Vater sich vor vier Jahren am Kreuzberg eine hübsche Villa gekauft hatte.
Dieses fast schuldenfreie Besitztum und einige tausend Mark waren alles, was der Verstorbene seiner Familie hinterlassen hatte. Nur im äußersten Notfalle, das war sein Wunsch gewesen, sollte das Haus verkauft werden. Es war zweistöckig, jedes Stockwerk mit einem Balkon versehen, und lag inmitten eines wohlgepflegten, terrassenförmig ansteigenden Gartens, in dem sich ein Lusthäuschen und verschiedene Ruheplätze befanden.
An der Gitterpforte standen zwei schlanke, schwarze Gestalten, die man sofort als Mutter und Tochter erkannte.
»Willkommen, herzlich willkommen!« riefen beide und winkten ihren Gästen freudig entgegen.
Lena machte sich von den Cousinen los und lief voraus. »Tante Marie, wie siehst du der Mutter ähnlich,« rief sie und umarmte die Tante.
»Das freut mich, Lena! Es wird dir das Einleben bei uns erleichtern.«
Frau Winterfeld begrüßte nun ihren Schwager, und Lena wanderte in Annas Arme. Alle freuten sich so sichtlich ihres Kommens, daß es sie warm durchflutete. Selbst Uboff, der schöne Leonberger, sprang ungestüm an ihr empor. Er wollte auch beachtet sein.
Nun ging es durch den Garten und seitwärts in das Haus hinein.
»Kommt gleich zu Bernd,« bat Anna, »alles Warten regt ihn sehr auf.«
Sie öffnete die Tür zum Wohnzimmer und ließ die Gäste eintreten.
Am Fenster saß in seinem Fahrstuhl Bernhard Winterfeld. Er war seit früher Kindheit rückenleidend und machte mit seinen gereiften Zügen und den ernsten, dunklen Augen nicht mehr den Eindruck eines erst achtzehnjährigen Jünglings. Mit der Zeit hatte sich sein Leiden langsam verschlimmert; jetzt verließ er seinen Stuhl nur noch, um sich auf seine Ottomane oder ins Bett zu legen. Er mußte viel entbehren, der arme Junge. Zum Glück besaß er aber etwas, das ihm über vieles hinweghalf: er hatte das Talent seines Vaters geerbt! Herr Winterfeld war Landschaftsmaler gewesen und hatte, sobald er die Begabung seines Sohnes erkannte, ihm Unterricht erteilt. So jung Bernhard auch noch war, er hatte es doch schon so weit gebracht, daß er Fächer für ein Berliner Geschäft bemalte. Wundersam feine Blumen entstanden unter seinen blassen, schlanken Händen, und er war glücklich über jedes Geldstück, das er der Mutter ausliefern konnte. Bloß daß der sieche Körper eine Anspannung aller Kräfte stets nur auf kurze Dauer ertrug, das blieb sein fortwährender Kummer.
Matt und blaß lehnte er auch heute in seinem Stuhl, vergeblich bemüht, den Verwandten seine Schwäche zu verbergen. Voll Schreck sah Lena, die seit einem Jahre nicht in Wernigerode gewesen war, die sichtliche Abnahme seiner Kräfte. Es herrschte zwischen ihm und Ilse, beide die getreuen Ebenbilder des verstorbenen Vaters, fast gar keine Ähnlichkeit mehr, obwohl beide die gleichen feingeschnittenen Züge, dunkle Augen und üppiges hellbraunes Haar besaßen. Des Jünglings Antlitz mit dem vergeistigten Hauch wirkte bedeutend älter als das Ilses, aus dem frisches, blühendes Leben sprach.
Das junge Mädchen war wunderhübsch mit den anmutigen, leichten Bewegungen, den leuchtenden Augen und der edel geformten Stirn, über der das Haar sich in kleinen Löckchen bauschte. Wenn sie auch immer wieder mit dem Kamm hindurchfuhr, es ringelte sich stets von neuem und umgab den feinen Kopf mit unzähligen Löckchen. Sie war Bernhards Lieblingsschwester, an der er mit schwärmerischer Liebe hing.
Anna und Klärchen waren blond und blauäugig und viel weniger hübsch als Ilse. Aber sie waren nicht neidisch, im Gegenteil, sie liebten die Schwester zärtlich und fanden es selbstverständlich, wenn man Ilse mehr Beachtung schenkte als ihnen, namentlich die sehr bescheidene Anna.
Lena wurde es nicht schwer, sich in dem ihr lieben Kreise einzuleben, nachdem der Vater abgereist war. Zwar ging es nicht so heiter wie sonst in der Familie her; der Tod des inniggeliebten Vaters lastete noch zu schwer auf jedem einzelnen. Der Mutter Beispiel folgend, bemühten sich indessen sämtliche Kinder, einander das Leben nicht durch ihren Kummer zu erschweren.
Lenas Tätigkeit begann sofort. Die jungen Mädchen hatten abwechselnd Küchen- und Stubenwoche; den wissenschaftlichen Unterricht erteilte Frau Winterfeld nachmittags selbst, oder ließ ihn von Fachlehrerinnen geben. So war der Tag reichlich ausgefüllt, und Lena bemühte sich redlich, Tante Marie zu befriedigen. Daß sie in häuslichen Angelegenheiten nicht ganz unbewandert war, kam ihr sehr zu statten und gab ihr ein Übergewicht über die Cousinen, die beide erst zu Ostern die Schule verlassen hatten. Die Schwestern hatten durch alle Klassen getreulich miteinander Schritt gehalten, obgleich Anna ein Jahr älter war als Ilse. Das Lernen war ihr aber schwer gefallen und sie nahm auch jetzt nur auf der Mutter Wunsch an den Unterrichtstunden teil.
»Eine Gelehrte werde ich doch nie,« sagte sie eines Tages seufzend, als sie sich mit einem deutschen Aufsatz abquälte, den Ilse spielend erledigt hatte. »Du könntest das Lehrerinnenexamen mit Glanz bestehen, wenn du nur wolltest.«
»Richtig, Schwesterlein: wenn ich wollte! Aber ich will nicht!«
Sie saßen alle drei im Garten unter einer Birke. Ilse, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, lehnte gegen den weißen Baumstamm und sah hinüber nach dem Fürstenschloß, das sich jenseits auf dem Agnesberg erhob. Ein wunderbar schönes Landschaftsbild, aber Ilses Blicke glitten darüber hinweg.
»Das ist auch nicht nötig,« griff Lena Annas Bemerkung auf.
»Doch,« entgegnete diese mit Nachdruck. »Du weißt, daß wir unser Brot einmal selbst verdienen müssen.«
»So dumm,« sagte Ilse, ohne sich zu rühren. »Wenn ich nicht das erreichen kann, wozu ich Lust und Neigung habe, will ich wenigstens mein Leben genießen.«
Lena lachte, Anna aber schüttelte den Kopf.
»Du redest wie ein kleines Kind,« sagte sie unwillig, fuhr aber nach einem Blick auf die Schwester in ihrem gewohnten sanften Ton fort: »Arme Ilse, dein Leben genießen! Ja, wenn unser guter Vater noch lebte! Jetzt heißt es für uns, lernen und arbeiten, um sobald wie möglich auf eigenen Füßen zu stehen.«
»Du sprichst so vernünftig, als wärst du mindestens zwanzig Jahre alt,« erwiderte Ilse.
»Dafür bin ich auch die älteste von uns Schwestern und neulich bereits siebzehn Jahre alt geworden,« entgegnete die zierliche Anna mit allerliebster Würde.
»Weshalb soll Ilse aber durchaus Lehrerin werden?« fragte Lena. »Sie hat ein schönes Talent, da liegt es doch viel näher, daß sie Malerin wird.«
Anna schwieg, und über Ilses Antlitz flog eine leichte Röte, Lenas Hinweis war ihr unwillkommen.
»Du« – Lena rückte näher zu der Cousine und versetzte ihr einen kleinen Nasenstüber – »sage, wäre das nicht viel verlockender?«
Eine Falte erschien zwischen Ilses dunklen Augenbrauen.
»Ach, laß doch den Unsinn,« wehrte sie unmutig ab.
»Was hast du denn?« forschte Lena neugierig.
Da sprang Ilse auf und eilte durch den Garten ins Haus.
»Aber so etwas,« rief Lena verblüfft. »Was hat sie nur, Anna?«
»Ach, es ist eine traurige Sache mit Ilse, die auch der Mutter viele Sorge macht,« entgegnete Anna bekümmert. »Sprich lieber nicht wieder davon. Sie hat ja unbedingt Talent, aber nicht für Landschaften, wie sie es sich immer brennend wünschte, und darüber, siehst du, kommt sie nicht hinweg. Glaubst du wohl, daß sie seit des Vaters Tode schon wieder einen Pinsel oder Stift angerührt hat? Und doch lobte der Vater ihren feinen Geschmack und ihre gute Auffassung. Er sagte oft scherzend, wenn sie ein Junge wäre, müßte sie das Baufach studieren, denn ihr Talent wiese sie besonders dem Ornamentalen zu.«
»Heutigentags werden die Mädchen doch alles mögliche,« sagte Lena nachdenklich.
»Aber du hast doch gewiß noch nicht gehört, daß sie auch Häuser bauen. Wie würde Mutter sich freuen, wenn Ilse sich dem Kunstgewerbe zuwenden wollte! Aber sie haßt dieses Wort förmlich und faßt es als eine persönliche Beleidigung auf, zum ›Handwerk herunterzusteigen‹, wie sie sich ausdrückt. Das ist natürlich eine vollständig falsche Auffassung, sie läßt sie sich aber nicht nehmen. Die Mutter tröstet sich damit, daß wir vorläufig noch ein ganzes Jahr Zeit zur Entscheidung haben und Gott uns dann sicher den rechten Weg weisen wird.«
»Weißt du denn schon, was du werden willst?«
»Ich habe ja gar kein Talent und die Gelehrsamkeit ist auch nichts für mich. Wenn es nicht zu teuer wird, will ich die Mutter bitten, mich in eine Haushaltungsschule zu geben. Ich glaube, auf diesem Gebiete könnte ich etwas leisten. Wenn ich es da einmal bis zur Lehrerin brächte, hätte ich eine gesicherte Zukunft vor mir, und Mutter brauchte sich dann um mich keine Sorgen zu machen.«
Ihre sanften blauen Augen glänzten und aus ihren Worten sprach ein so fester Wille, daß Lena ausrief: »Das wirst du sicher erreichen, bei deinem Fleiß. Aber daß du schon so ernst über deine Zukunft nachgedacht hast, Anna! Ich habe bis jetzt nur in den Tag hineingelebt.«
»Du hast auch noch deinen Vater, der für dich sorgt, Lena, bei uns liegt die Sache jetzt anders. Ich als die Älteste habe die Pflicht, der Mutter nicht nur so schnell wie möglich die Sorge für mich abzunehmen, sondern ihr auch die für die Geschwister zu erleichtern. Und nun nimm es nicht übel, Lena, ich möchte erst meinen Aufsatz fertig schreiben.«
Lena stand auf, aber ehe sie ging, sagte sie gedankenvoll: »Ich glaube, Anna, du bist, was Hans und Erwin unter einem ganzen Menschen verstehen.«
Anna lachte. »Sehr schmeichelhaft! Jedenfalls möchte ich einer werden; vorläufig bin ich es aber noch lange nicht. Doch im Ernst, Lena –«
»Ja, ja, ich verdufte schleunigst!« Mit großen Schritten stieg sie den Weg hinan.
Wie ernst das Leben doch war! Freilich, sie hatte es ja auch schon erfahren, bei Erwins Abschied. Wie lange schien ihr das schon her zu sein, und doch waren seitdem kaum drei Wochen verflossen! Wo er jetzt sein mochte und wann sie wohl die erste Nachricht von ihm bekam? Sie freute sich unendlich darauf und zählte die Tage, die er zur Überfahrt brauchte. Es schien ihr selbstverständlich, daß er sofort nach seiner Landung in Swakopmund an sie schrieb.
*
»Schnell, Kinder, tummelt euch, damit alle Wäsche bis Mittag auf der Leine ist,« rief eines Morgens Frau Winterfeld über den Hof, wo die drei Mädchen Wäsche aufhingen. »Halt, Lena, nicht alles bunt durcheinander! Die Servietten gehören zusammen und die Handtücher gleichfalls, die langen nebeneinander, die kurzen auch und sämtliche Namen nach unten.«
»Ist das nicht ganz gleichgültig, Tante?«
»Nein,« erwiderte Ilse, »diese Anordnung begreife ich, denn dadurch wird der Schönheitsinn nicht beleidigt, wie dort durch deine Reihe: kurz – lang – lang – kurz – mittel – alles bunt durcheinander. Nein, Symmetrie liegt in deinem Wäscheaufhängen nicht; da muß ich der Mutter recht geben. Sonst – ach, Kinder, geradezu greulich sind solche Wäschetage! Daß ich in meinem Leben waschen, aufhängen und plätten lernen müßte, habe ich mir früher auch nicht träumen lassen.«
Seufzend betrachtete sie ihre hübschen, weißen Hände und machte ein so klägliches Gesicht dazu, daß die anderen beiden lachten.
»Ich schwärme auch nicht gerade dafür,« sagte Lena, »aber,« fügte sie neckend hinzu, »wenn du mal heiraten solltest, Ilse, mußt du das alles verstehen.«
Ilse ging fröhlich auf den Scherz ein. »Bah, mein Auserwählter ist sicher mal ein Mann, der mir genügend Dienerschaft halten kann.«
»Was muß er sein, Ilse?« forschte Lena übermütig.
»Laßt doch den Unsinn,« schalt Anna. »Sieh, Lena, da hast du zwischen den Handtüchern eine Frisierjacke auf der Leine; wenn Mutter –«
»Ja, ja, da ist sie schon herunter! Oh –« Erschrocken bückte sich Lena, das Wäschestück, das ihr entglitten war, aufzuheben, sah aber zu ihrem Schreck, daß es ziemlich beschmutzt war.
Ilse lachte, Anna aber nahm Lena die Frisierjacke schweigend ab und ging damit in die Waschküche, sie nochmals zu spülen.
»Diesen günstigen Augenblick werde ich benutzen, mich für ein Weilchen unsichtbar zu machen,« flüsterte Ilse. »Du darfst für zwei schaffen, Lena, und mich nicht verraten.« Damit eilte sie hinter den Bettüchern entlang ins Haus.
Vorsichtig huschte sie an der Küche vorüber, wo die Mutter heute allein beschäftigt war, denn Sophie, das Dienstmädchen, hatte noch in der Waschküche zu tun. Durch das Wohnzimmer gelangte sie auf den Balkon, wo Bernd vor einer eigens für ihn angefertigten, verstellbaren Staffelei saß.
Er hatte sich gemütlich in seinen Stuhl zurückgelehnt und betrachtete seine Arbeit mit prüfenden Blicken.
»Wie schön, daß du kommst, Ilse,« rief er der Schwester erfreut entgegen. »Schnell, sag mir, ob du zufrieden bist.«
Ilse trat an seine Seite und stieß einen Ruf der Freude aus, so plastisch hob sich die Vase mit den Schneeglöckchen von dem Papier ab. »Wie du das nur fertig bringst, Berni, daß deine Blumen ein solches Leben atmen,« rief sie. »Was für ein begnadeter Künstler bist du doch!«
Helle Röte überflutete sein blasses Antlitz. »Ilse – nicht doch – du darfst mich nicht so loben! Bitte, sieh meine Arbeit etwas genauer an; du allein kannst mir jetzt vorwärts helfen. Du glaubst nicht, wie schmerzlich ich Vaters Rat entbehre.«
»Ich weiß es, Bernd,« entgegnete sie mit großem Ernst. »Aber du kannst ihn nicht schmerzlicher entbehren als ich. Du bist noch glücklich im Vergleich zu mir, denn du darfst doch weiterschaffen; mein ganzes bißchen Können hingegen, das Vater allein in die richtigen Bahnen hätte lenken können, das liegt brach. Still – sage nichts, Bernd! Ihr habt mich alle schon genug gequält: ich will nichts mehr hören. Ein anderer Lehrer? Was weiß der von mir, von meiner besonderen Begabung und Sehnsucht? Nein, alle meine Hoffnung wurde mit Vater begraben. Aber du, Bruderherz, sollst weiter emporklimmen, und was ich dazu beitragen kann, wird geschehen.«
Bernd erwiderte nichts. Stumm nahm er ihre warme Hand und streichelte sie leise, während sie sich in das kleine Kunstblatt vertiefte.
»Die Blumen sind tadellos,« entschied sie dann mit großer Sicherheit, »aber, liebster Junge, die Vase ist wirklich nicht ganz einwandfrei. Sieh, hier und da müßte die Rundung mehr hervortreten, das Ornament sich plastischer abheben. Soll ich mal?« Sie nahm seinen Pinsel und begann emsig zu verbessern.
Voll Freude sah Bernd zu. Es war das erste Mal, daß Ilse wieder einen Pinsel zur Hand nahm, daß der Eifer sie fortriß, sah er mit einem Blick.
Da hörte er Schritte im Zimmer. Gleich darauf erschien die Mutter in der Tür. Bernd gab ihr schnell ein Zeichen und wies auf die völlig vertiefte Ilse. Auch der Mutter Augen leuchteten freudig auf, verständnisvoll nickte sie dem Sohne zu. Die Rüge, die sie auf den Lippen hatte, blieb ungesprochen; geräuschlos zog sie sich zurück.
»So,« sagte Ilse nach einer Weile und trat zurück, ihre Verbesserung zu prüfen. »Ob es so besser ist, Bernd? Was meinst du?«
»Weitaus besser als früher; ich danke dir, Ilse.«
»Ach, wofür denn? Aber jetzt« – sie seufzte tief – »muß ich zurück zu der greulichen Wäsche! Oh, du ahnst ja nicht, wie öde das Alltagsleben sein kann! Früher hatte ich es nicht kennen gelernt; da durfte ich mit Vater und dir im Schönen schwelgen. Manchmal komme ich mir vor wie ein verzaubertes Königskind, das aus seines Vaters Reich ausgestoßen wurde.«
»Arme Ilse!«
»Nein, du sollst mich nicht bedauern, und ich will nicht klagen. Ich bin ja glücklich, daß ich dich habe! Dieses halbe Stündchen mit dir war wieder ein Lichtblick für mich. Addio!« Ihm eine Kußhand zuwerfend, lief sie davon.
Auf dem Hofe angelangt, nahm sie mit Befriedigung wahr, daß bereits fast auf allen Leinen Wäschestücke im Winde flatterten. »Bravo, Lena,« rief sie heiter, »ich sehe, ich bin würdig vertreten worden. Hat Anna etwas gemerkt? Ei, da kommt sie ja mit noch einem Korb voll angeschleppt! Hört es denn nicht endlich auf, Maus?«
Anna, die wegen ihrer Zierlichkeit und ihres geräuschlosen Wesens vom Vater diesen Kosenamen erhalten hatte, sah ernst auf. »Du hast es nicht allzu schwer gehabt, Ilse,« sagte sie mit sanftem Vorwurf. »Lena,« rief sie dann erschrocken, »du hast ja alle Nachthemden an den Ärmelbündchen aufgehängt. Da kann der Wind gar nicht hineinpusten, und wie das aussieht! Die müssen alle wieder herunter.«
Ilse lachte belustigt. »Das hast du nun von deinem Eifer, Lena! Warum paßt du auch nicht besser auf, wie jede einzelne Gattung dieser Herrlichkeiten nach ihrer Eigenart zu behandeln ist? Aber –« sie schwieg, denn Lena, hochrot im Gesicht, warf das Wäschestück, das sie gerade in der Hand hielt, in den Korb zurück.
»Reiht meinetwegen alles wieder herunter, mir soll's gleich sein,« brach sie zornig los. »Glaubt ihr, ich will mich hier den ganzen Morgen im Sonnenbrand umsonst abgequält haben? Ich kenne solche Wascherei nicht. Bei uns wird alles aus dem Hause gegeben; da habe ich überhaupt nicht so zu rackern brauchen wie hier. Ich habe es satt und dick!« Sprach's, drehte sich kurz um und ging festen Schrittes ins Haus.
Ilse wollte sich ausschütten vor Lachen. »Ein prächtiges Mädel, die Lena! Da steckt Rasse drin!«
»Ilse, wie kannst du nur lachen,« erwiderte Anna sehr bekümmert. »Ich fürchte, unsere Mutter wird noch ihre liebe Not haben, wenn erst mehr junge Mädchen hier sind. Hoffentlich erweisen sie sich nicht so ›rassig‹ wie Lena. Ich wüßte für deren Benehmen einen anderen Ausdruck.«
»Schon recht, liebes Mäuschen, aber nun sieh nicht so schrecklich traurig aus und sorge dich nicht um die Zukunftsmädel! Unsere energische Mutter wird schon mit ihnen fertig werden, wie sie auch sein mögen. Übrigens stelle ich mich dir jetzt völlig zur Verfügung, Schwesterherz. Befiehlst du, daß diese Majestät oben oder unten angeklammert wird?« Mit spitzen Fingern hielt sie einen weißen Rock in die Höhe und sah so übermütig zu Anna hin, daß diese nun auch in ein fröhliches Lachen ausbrach.
In der Familie hieß es nicht umsonst: »Ilse kann alles, was sie will.« Das traf auch hier zu. Anna hatte ihre helle Freude an der Schwester, so glatt flog ihr die Arbeit von der Hand, und kein einziger Mißgriff lief mit unter. Mit einem Blick wußte sie Bescheid.
Da öffnete die Mutter das Küchenfenster. »Anna,« rief sie heraus, »werdet ihr denn noch bis Mittag fertig?«
»Ja; Sophie ist bei der Stärkewäsche, und das andere hängt in zehn Minuten.«
»Schön! Wenn Kläre kommt, schickt sie mir sofort.«
»Ja, Mutter.«
Geschäftig hingen die Schwestern weiter auf, bis der letzte Korb leer war.
»Sag mal, Maus, betreibst du solche Arbeit wirklich mit Leidenschaft?« erkundigte sich Ilse.
»Mit Leidenschaft ist zu viel gesagt, aber mit Lust und Liebe. Genügt das nicht?«
»Wie fängst du es nur an, Lust und Liebe für so alltägliche, prosaische Dinge zu empfinden?«
»Vielleicht habe ich das von der Mutter geerbt. Ich kann mir auch kaum etwas Schöneres denken, als für das Wohl des Hauses zu arbeiten und es allen recht gemütlich zu machen.«
»Ja, aber wenn ich damit mein Leben ausfüllen sollte – oh –« Ilse atmete tief auf und sah so unglücklich aus, daß Anna herbeilief und ihr schnell über das blühende Antlitz strich.
»Dies ist nur das Lehrjahr, Herz; das ganze Leben liegt ja noch vor dir,« sagte sie tröstend. »Aber nun schnell! Da bringt Sophie schon die Stärkewäsche.«
»Ach, die ist so klebrig und greift sich so unangenehm an! Was fang' ich armes verzaubertes Königskind nur an?«
»Frisch zugefaßt! Eins – zwei – drei –« befahl Anna, und unter Lachen griff auch Ilse tapfer in den Korb hinein.
Da kam Klärchen gesprungen. »Guten Tag! Seid ihr noch nicht fertig? Dauert das aber lange!«
»Hast du eine Ahnung! Warte nur, bis dein Lehrjahr kommt; dann wirst du Augen machen,« prophezeite Ilse.
»Du sollst gleich zu Mutter kommen, Kläre,« bestellte Anna.
Geschwind lief das Mädchen in die Küche. »Da bin ich, Mutter; guten Tag! Was soll ich? Und, Mutter –«
»Guten Tag, Töchterlein! Geh, decke hurtig den Tisch, damit wir sofort essen können, wenn die Großen hereinkommen. Vergiß nichts und mach deine Sache brav!«
»Ja, Mutter. Sag, heute nachmittag darf doch meine Lisi kommen, ja? Ich habe es ihr schon gesagt und sie freute sich.«
»Ja, sie mag kommen.«
»Ach, Mutter, du bist so gut! Und nicht wahr, so arm sind wir nicht, daß meine Lisi nicht recht oft kommen kann?«
»Nein, mein Herzblatt, so schlecht geht es uns, gottlob, nicht, daß nicht immer ein paar Butterbrote für Lisi übrig wären. Darüber kannst du dich völlig beruhigen.«
»Oh, wie froh bin ich! Weißt du, ich hatte mir schon vorgenommen, immer ein paar Schnitten weniger zu essen, denn lieber will ich ein bißchen hungern, als daß Lisi nicht kommen könnte. Aber wenn es nicht nötig ist – sehr leicht wäre es nicht für mich gewesen, Mutter.«
»Gewiß nicht, Töchterchen. Iß dich nur ohne Bedenken satt; für Lisi ist noch genug da.«
»Du goldige Mutter!« Das Schmeichelkätzchen mußte die Mutter erst noch schnell umarmen und küssen, ehe es davoneilte.
Nachdenklich sah Frau Winterfeld ihrem Kinde nach und seufzte tief. Ein sorgenvoller Ausdruck legte sich über ihre noch hübschen, sympathischen Züge, Tränen stahlen sich ihr in die Augen. Würde es ihr immer gelingen, Not und Entbehrungen von ihren Kindern fernzuhalten? Aber fruchtloses Grübeln liebte die energische Frau nicht. In ihrem Herzen lebte ein so starkes Gottvertrauen, daß alle schweren Gedanken immer schnell wieder verflogen. Sie trocknete die Tränen und wendete sich ihren Kochtöpfen zu.
Zu Tisch erschien auch Lena, etwas verlegen und unsicher. Frau Winterfeld, die mehr bemerkt hatte, als die jungen Mädchen ahnten, tat indessen völlig unbefangen. Als die Töchter ihrem Beispiel folgten, fand auch Lena ihr Gleichgewicht wieder und konnte später sogar mit den Cousinen über ihren »Rappel«, wie Ilse sagte, herzlich lachen.
Am Nachmittag kam dann Lisi Lehmann, Klärchens Herzensfreundin, ein rundliches, kleines Persönchen mit strahlenden, blauen Augen und sehr rauhem, dunkelblondem Zopf. Frau Winterfeld nähte ihr erst einen Kleiderknopf fester und ließ sich von Klärchen Kamm und Bürste bringen, das üppige Haar mal tüchtig durchzukämmen.
»So, und morgen ziehst du andere Schuhe an, Lisi,« gebot sie, als der Zopf wieder eingeflochten war. »Sieh nur, wie schief die Absätze schon sind.«
»Aber an den anderen sind sie noch schiefer, Tante,« entgegnete der junge Gast sorglos.
»Dann schickst du sie noch heute abend zum Schuster, Kind, oder bringst sie selbst hin. Du bist schon alt genug, solche Kleinigkeiten allein zu besorgen; du weißt, deine liebe Mutter hat dazu keine Zeit. Wie geht es ihr heute?«
»Eben wollte sie ein wenig schlafen, da kam der Koch und wollte was mit ihr bereden. Heute abend ist wieder ein großes Essen bei uns. Ich glaube, irgend etwas war nicht angekommen, denn Mama schlug die Hände zusammen, und da bin ich schnell fortgelaufen. Ich darf doch bis zum Abend hier bleiben, Tante?«
»Gewiß, mein Herz.«
Lisi war hier weit mehr daheim als in ihrem Elternhause. Ihr Vater besaß ein großes Hotel und konnte sich um seine Tochter fast gar nicht kümmern. Seine Frau, sehr zart und schwächlich, außerdem für eine Wirtschaft wenig geeignet, besaß weder Zeit noch Kraft, sich der Erziehung des Töchterchens zu widmen. Sie vergoß deshalb oft heiße Tränen und war Frau Winterfeld von Herzen dankbar, daß die Kleine bei ihr alles das fand, was sie daheim unbewußt entbehrte. So war es allmählich gekommen, daß Lisi als fünftes Kind in der Villa Trautheim volle Heimatrechte genoß.