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Die Einweihung

In dem hochgelegenen Braunlage war es endlich auch völlig Frühling geworden. Die weiten Wiesenplane um den langgestreckten Ort prangten im frischesten Grün, in den Gärten erschlossen die ersten Rosenknospen unter den warmen Sonnenstrahlen ihre duftenden Kelche. Selbst in dem neu angelegten Garten des Arbeiterheims war das erste Monatsröslein aufgeblüht und wiegte sich leise im Winde, der frisch über die Berge strich.

Ein kleiner Mann, im Anfang der Sechziger, mit spärlichem, grauem Haar, bartlosem Gesicht und gebeugter Haltung, war beschäftigt die Steige zu harken, als in der offenen Haustür ein junges Mädchen erschien. Es ließ die Blicke entzückt über das liebliche Bild vor sich schweifen und eilte dann die Stufen hinunter zu dem Alten.

»Metelmann, die Fahne muß heraus; sie können bald hier sein!«

Er hielt im Harken inne und betrachtete das hübsche, frische Mädchengesicht wohlgefällig. »Alles Eile mit Weile, Fräulein Gertrud,« sagte er bedächtig. »Die Herrschaften können noch lange nicht hier sein, weil der Zug noch gar nicht eingelaufen ist.«

Sie lachte. »Aber sobald Sie fertig sind, tun Sie es, nicht wahr, Metelmann?«

»Ja, dann stecke ich sie sofort heraus, Fräulein Gertrud, das versteht sich!« Er harkte emsig weiter, und Gertrud blieb neben ihm stehen.

»Wie wunderschön ist es hier doch,« rief sie, »und diese gute Luft!«

»Ja, man kann gar nicht genug davon einsaugen. Das ist etwas anderes als bei uns in Magdeburg.«

»Sie haben also kein Heimweh, Metelmann?«

»Nee!« Er schüttelte den grauen Kopf. »Meine Frau ist tot, und Kinder hab' ich nicht; es könnte also bloß die Fabrik sein, nach der ich Heimweh bekäme. Aber dazu tauge ich nicht mehr, Fräulein Gertrud, meine alten Knochen wollen es nicht mehr leisten. Darum hab' ich mich sehr gefreut, als unser Herr mich hier als Aufseher herschickte, damit Ihre Mutter nicht so allein ist. Wenn sie mal mit einem von den Leuten nicht fertig werden kann, dann soll er den alten Metelmann kennen lernen, der fackelt nicht lange.« Er richtete sich auf und seine hellen Augen blitzten unter den buschigen Brauen kampflustig hervor.

Gertrud lachte. »Ich bin sehr froh, daß Sie hier sind, Metelmann, nun kann ich völlig ruhig um meine Mutter abreisen.«

»Das können Sie, Fräulein Gertrud! Ich leide es nicht, daß ihr auch nur ein ungehöriges Wort gesagt wird.«

»Sind die Arbeiter denn so unfügsam?« fragte Gertrud ein wenig unruhig.

Metelmann lachte leise. »Fein sind sie gerade nicht, Fräulein Gertrud, aber Angst brauchen Sie deshalb nicht zu haben. Die Leute werden schon nicht vergessen, was sie unserem Herrn zu danken haben, und wenn sich mal einer nicht drein schickt, dann will ich ihm schon Moritzen lehren! Aber nun bin ich hier fertig und kann die Fahne aufziehen.«

Eine Weile später wehte die Flagge vom Dach, und um die Haustür hing eine Girlande aus Tannengrün zum Willkomm der Gäste. Weithin den bergigen Weg hinunter winkte das weiße Haus, und die goldenen Buchstaben der Inschrift »Erholungsheim Ruth-Dorothee« leuchteten im Sonnenschein. Mit dem nächsten Zuge wurde der Fabrikherr mit seiner Familie und den Wernigeroder Gästen erwartet, am Nachmittag sollten die ersten zwölf erholungsbedürftigen Arbeiter einrücken.

Frau Welzin, die seit einigen Tagen ins Heim übergesiedelt war, hatte kräftige Hilfe in einer älteren Witwe und deren Tochter gefunden, beide aus Herrn Frankentals Fabrik. Das Mädchen war verlobt, es sollte hier etwas kochen und wirtschaften lernen, um nicht ohne alle Vorkenntnisse in die Ehe zu treten.

Herr Frankental hatte beabsichtigt, mit seinen Gästen ins Hotel zum Essen zu gehen. Davon hatte Frau Welzin nichts wissen wollen, sich aber doch für den Tag eine Kochfrau aus Braunlage genommen. Im großen Eßzimmer stand die Tafel bereits gedeckt, von Gertrud mit Tannenzweigen und Feldblumensträußen sehr hübsch geschmückt.

Nun gab es für den Augenblick nichts mehr zu tun. Mutter und Tochter standen in der Haustür und schauten nach den beiden Wagen aus, welche die Erwarteten bringen mußten.

»Wie günstig hat sich doch alles für uns gefügt,« sagte Gertrud nachdenklich. »Glaubst du, Mutter, daß du dich hier einleben und glücklich fühlen wirst? Ich weiß ja, daß du mir zuliebe das Opfer gebracht hast,« fügte sie hinzu und drückte dankbar der Mutter Hand.

»Es ist mir nicht gerade leicht geworden, mich so schnell von allem loszureißen, was mir daheim lieb und vertraut war, liebe Tochter, das gestehe ich offen ein. Aber das alles liegt längst hinter mir. Jetzt kümmert mich nur unser beider Zukunft, und daß wir der ohne Sorgen entgegensehen können, gibt mir frischen Mut und freudige Zuversicht. Nun kannst du ungehindert deiner Neigung folgen und Lehrerin werden, mein Trudelchen.«

»Ja, Mutter, ich bin unbeschreiblich glücklich. Später aber, wenn ich mal eine Anstellung habe, dann kommst du zu mir und wir trennen uns nicht wieder.«

»Wenn meine Kräfte zur Heimmutter nicht mehr ausreichen, ja, Kind, dann komme ich zu dir. Vorläufig freue ich mich, dich alle Ferien hier bei mir zu sehen. Doch schau, Trude, da kommen die Wagen!«

»Hurra!« rief Gertrud und lief die Stufen hinunter.

Am Gartentor stand mit Festtagsmiene der alte Metelmann, die Mütze in der Hand, seine Herrschaft zu empfangen.

»Na, Alter, da sind wir! Alles in Ordnung?« rief ihm der Fabrikherr zu.

»Zu Befehl, Herr, alles in Ordnung!«

»Lieber, alter Metelmann,« rief Dodo, »wie lange haben wir uns nicht gesehen!«

Der Alte strahlte. »Ja, Fräulein Dorothee, das ist schon recht lange her!«

Lachend eilte Dodo zu Gertrud hin, sie zu begrüßen, aber diese hatte heute mehr Augen für Dodos Mutter und Schwester, die sie ja noch nicht kannte.

Frau Frankental, mittelgroß, schlank und brünett wie ihre Töchter, hatte in ihrem ganzen Auftreten etwas ungemein Liebenswürdiges, das ihr rasch alle Herzen gewann. Von Frau Welzin geleitet, ging sie ins Haus. Gertrud machte inzwischen Bekanntschaft mit Ruth.

»Na, Trude, was sagst du?« fragte Dodo lebhaft. »Ich sehe es dir an, daß du sie dir anders gedacht hast; ich hätte ja bald selbst meine eigene Schwester nicht erkannt, so groß und dünn ist sie geworden. Ich glaube, man kann sie umpusten! Und all ihre prachtvollen Rabenlocken sind weg! Auf die war ich nämlich immer riesig stolz. Denke dir, abgeschnitten haben sie ihr die Haare bis auf die Wurzeln! Erst hat sie ein dichtes Netz tragen müssen, weil sie ein richtiger Kahlkopf war; nun kommt das Haar ja wieder, aber ich glaube, Locken werden es nicht.«

Ruth lachte. »Das macht doch nichts, Neck! Ich habe dich und bin hier, das ist die Hauptsache.«

Die Schwestern sahen sich sehr ähnlich, aber Dodos weiches Gesicht verlor doch gegen die charaktervollen Züge Ruths, die durch wunderschöne, tiefschwarze Augen noch mehr Ausdruck und Leben erhielten.

Da trat Herr Frankental aus dem Hause.

»Nun, Kinder, gefällt es euch hier?« fragte er und nahm eine Tochter rechts, die andere links in den Arm. »Bitte, Fräulein Gertrud, bleiben Sie,« rief er dieser nach, die bereits die Stufen hinaufstieg; sie erklärte jedoch, gewiß irgendwo helfen zu können, und verschwand im Hause.

»Es ist wundervoll, Papa,« versicherte Dodo lebhaft. »Das herrlichste aber ist, daß du das Heim nach uns genannt hast. Nein, ich wußte wirklich nicht, was ich sagen sollte, als wir herankamen und ich unsere Namen las! Du lieber, lieber Papa, wie gut von dir!«

»Und was sagt mein Nück?« wandte sich der gute Vater an seine Älteste.

Ruth schmiegte sich an ihn. »Ich bin sehr glücklich, Papa, ich danke dir von ganzem Herzen.«

»Ich danke dir auch vielmals, goldiger Papa du,« echote Dodo. »Es macht mir riesig viel Spaß.«

»Spaß?« wiederholte der Fabrikherr gedehnt. »Höre mal, du loses Vögelchen, das hatte ich eigentlich nicht bezweckt.« Er legte die Arme fester um seine Töchter und schritt langsam mit ihnen vor dem Hause auf und nieder. »Als ich den Gedanken faßte, das Heim nach euch beiden zu benennen, war es zunächst ein Ausdruck meiner Dankbarkeit, daß der Himmel uns dich, meine Ruth, gelassen hatte; dann aber hoffte ich auch, ihr würdet im steten Andenken an die Stiftung, die eure Namen trägt, nie vergessen, für eure leidenden, ärmeren Mitmenschen zu sorgen. Wollt ihr das immer tun, meine Mädelchen, auch wenn ihr dereinst in das bunte Leben hinaustretet?«

»Ach, guter Papa« – Dodo liefen helle Tränen über die rosigen Wangen – »meinen letzten Groschen will ich weggeben für Arme!«

Ruth sah bewegt zum Vater auf. »Ich werde diesen Augenblick nie vergessen,« erklärte sie ernst.

»So, das wollte ich euch heute sagen, Kinder. Aber nun seid vergnügt; ich bin es auch recht von Herzen. Ins Haus zu unseren Gästen!«

Bei Tisch herrschte eine frohe Stimmung, die ihren Höhepunkt erreichte, als Herr Frankental ein Hoch auf die glückliche und segenbringende Zukunft des Heims ausbrachte. Nach dem Essen zogen sich die älteren Damen zurück, die jungen Mädchen gingen in den Wald. Nur Ruth mußte sich für eine Stunde auf Gertruds Bett legen. Sie fühlte sich noch schwach, die Reise war für sie schon eine Anstrengung gewesen.

»Mein Nück ist gar nicht so vergnügt wie sonst,« klagte Dodo.

»Das wird schon wieder kommen,« tröstete Anna. »Sie muß sich erst noch mehr erholen. Auch glaube ich, daß eine schwere Krankheit den Menschen ernster macht.«

»Was?« Dodo war sehr erstaunt. »Ich würde erst recht vergnügt sein, wenn ich wieder gesund wäre!«

»Du bist ein rechter Leichtsinn, Mädchen,« schalt Ilse. »Kann denn rein gar nichts im Leben einen tiefen und bleibenden Eindruck auf dich machen?«

»Doch« – das lachende Gesicht wurde plötzlich ernst – »daß Papa das schöne Heim nach uns genannt hat! Ich muß jetzt gut werden, sonst müßte ich mich ja schämen, daß mein Name an einem Hause steht, das der Nächstenliebe geweiht ist.«

Die Mädchen umdrängten sie und drückten ihr die Hände.

»Ich habe dich gern,« erklärte Lisi energisch. »Du bist nie verdrießlich, und dann ist es sehr nett von dir, daß du Sonntags immer so feinen Kuchen kaufst.«

Bild: Richard Gutschmidt

»Und was sagt mein Nück?« wandte sich der gute Vater an seine Älteste.

»Komm in meine Arme,« rief Dodo. »Du bist doch die mir verwandteste Seele,« und sie umschlingend, tanzte sie mit ihr auf dem weichen Waldboden dahin.

Die vier älteren Mädchen lagerten sich, Dodo tollte mit den beiden Jüngsten umher. Da kam Herr Frankental und gesellte sich zu ihnen.

»Ach, diese köstliche Waldluft, die bis ins Zimmer strömt! Sie hat mich auch ins Freie gelockt und dann das fröhliche Lachen. Ich liebe die frische, heitere Jugend. Aha, dieser Freudenschrei gilt mir; meine Kleine hat den alten Papa erspäht.«

Im Galopp kam Dodo angerannt, Lisi und Klärchen hinter ihr her. »Papa, einziger, goldiger Papa, wie entzückend, daß du zu uns gekommen bist!« Sie warf sich neben ihn ins Moos und nestelte sich dicht an ihn heran.

»Kleiner Neck, du,« sagte der Vater voll Zärtlichkeit und strich ihr über das wirre Haar.

»Halt still, Dodo,« bat Kläre und kniete hinter ihr nieder. »Dein Zopf ist halb auf und dein Band hab' ich gerade noch erwischt.«

»Das ist recht, Fräulein Klärchen; nehmen Sie sich meiner wilden Hummel nur etwas an,« lobte der Fabrikherr.

»Bitte, Herr Frankental« – Kläre wurde rot – »ich bin kein Fräulein; wir sind noch richtige Schulkinder, nicht, Lisi?«

»Ja, wir sind noch Kinder,« pflichtete Lisi bei und tanzte vergnügt umher. »Es ist hier zu schön!«

»Kinder, ihr müßt alle wieder heraufkommen – Verzeihung wegen der formlosen Anrede!« – Herr Frankental verbeugte sich gegen die jungen Mädchen. – »Ich habe nämlich die Absicht, mich gegen Ende Juli für einige Wochen freizumachen und meiner Familie hierher zu folgen. Dann bitte ich die jungen Damen, uns die Freude ihres Besuches zu schenken.«

»Sie sind sehr gütig, Herr Frankental,« begann Anna etwas verlegen, doch Dodo fiel ihr ins Wort: »Himmlisch, Papa! Aber wo willst du uns alle unterbringen?«

Tausend Schelme lachten ihr aus den Augen und den Grübchen in den Wangen. Sie kannte den guten Papa zu genau, um nicht zu wissen, daß er sich und die Mama schon oft durch vorschnelle Einladungen in Verlegenheit gesetzt hatte. Auch den Freundinnen hatte sie von dieser liebenswürdigen Schwäche gesprochen und ihnen von drolligen Begebenheiten erzählt, die daraus erwachsen waren. Darum lag jetzt auf all den hübschen Mädchengesichtern ein mehr oder weniger schelmischer Ausdruck.

»Aha« – der lustige Papa, allzeit zu Scherz aufgelegt, lachte behaglich – »ich sehe schon, ich bin, dank meinem kleinen Schlingel hier, richtig erkannt. Aber diesmal heißt es: fehlgeschossen, du Schelm, dieweil der alte Papa doch klüger ist als das Küken. Ich lade die Damen in unser Haus ein.«

»Ins Erholungsheim? Da wohnen doch aber die Arbeiter!«

»Ja, und wir in unserer eigenen Villa, die ich mir erlaubt habe, zu unserem Gebrauch zu kaufen.«

»Papa – wirklich?«

»Gewiß, Töchterlein! Sie liegt nur etwas tiefer als die ›Ruth-Dorothee‹. Vorläufig heißt sie noch Villa Luise; eurer Mutter zu Ehren wird aber aus der Luise eine Maria werden. In acht Tagen, sobald die nötigen Möbel von Magdeburg heraufgeschafft sind, steht sie zu unserer Benutzung bereit. Bis dahin wohnt Mama mit Ruth im Berghotel. Na, war das nicht ein schlauer Einfall des alten Papa?«

»Ein wundervoller!« Dodo erhob sich hastig. »Ich muß gleich hin. Ihr kommt doch alle mit?«

»Das hätte ich mir denken können, daß mein Wildfang nun keine Ruhe mehr gibt! Na, dann los, Kinder! Faßt mal an, ich komm sonst nicht auf! Uff – da steht der Alte. So – jetzt vorwärts!«

Fröhlich plaudernd ging es aus dem Walde hinaus und den Weg hinab. Nur Ilse, die neben dem Fabrikherrn ging, war verstummt.

»Ach, diese gute Luft,« sagte ihr Begleiter und nahm den Hut ab, sich von dem Winde umfächeln zu lassen. »Ich gebe ja zu, daß Wernigerode landschaftlich viel schöner liegt, aber die Luft hier oben ist ozonreicher und kräftigender. Wäre es nicht möglich zu machen, Fräulein Ilse, daß Ihr Bruder einige Wochen heraufkommt?«

»Ich dachte gerade an ihn, Herr Frankental. Er liebt die Natur sehr und hat doch fast noch nichts weiter kennen gelernt als das, was er vom Balkon aus sieht. In früheren Jahren haben wir wohl versucht, ihn manchmal ein Stückchen zu fahren; sein kranker Rücken litt aber so sehr unter der Erschütterung, daß wir es völlig aufgeben mußten. Seinetwegen sind dann meine Eltern von Berlin fortgezogen. Anfangs schien es auch, als ob die Luftveränderung und die Freude an der schönen Natur ihm gut tue, aber seit dem letzten Jahre, besonders seit Vaters Tode, ist es viel schlechter mit ihm geworden.« Tränen hingen Ilse an den Wimpern, ihre Lippen zuckten.

»Da wird es ja die höchste Zeit, daß er mal aus dem ewigen Einerlei herauskommt,« erwiderte Herr Frankental in seiner lebhaften Weise. »Lassen Sie mich nur machen, Kindchen! Nicht wahr, Sie nehmen es einem alten Papa nicht übel, wenn er Sie so nennt?«

»Nein – o nein!« Ilse ergriff die ausgestreckte Hand. »Ich – wir alle entbehren unseren guten Vater ja so sehr.«

Er drückte ihre Hand kräftig. »Wenn Sie mal irgendeinen Rat brauchen, Fräulein: ich bin ein praktischer Mann und stelle mich Ihnen jederzeit zur Verfügung. Auch das mit Ihrem Bruder werde ich mir durch den Kopf gehen lassen; den schaffen wir herauf, oder ich müßte nicht ein alter Praktikus sein.«

Ilse lächelte glücklich. »Wie gut Sie sind,« sagte sie dankbar.

Er wehrte lebhaft ab. »Ich habe nur offene Augen, Fräulein Ilse, und will gern heitere Gesichter um mich sehen. Aber da ist die Villa Luise!«

Er zeigte auf ein kleineres, zweistöckiges Haus, mit grün umranktem Balkon, seitwärts eine große Veranda, in einem hübschen Garten gelegen.

»Ich hatte sie mir größer vorgestellt, mit Loggien und einem Turm,« rief Dodo ein wenig enttäuscht.

»Seht mal an, so anspruchsvoll ist mein Töchterlein,« ließ sich der Fabrikherr vernehmen. »Das hätte ich gar nicht gedacht! Da bin ich ja doppelt froh, ein so einfaches, gemütliches Häuschen gekauft zu haben. Meinen Zwecken entspricht es völlig, Fräulein Tochter.«

»Ein Glück, Papa, daß deine Augen lachen, sonst würde ich glauben, ich hätte dich gekränkt. Da kommt übrigens mein Nück. Weiß die es schon?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, lief sie bergauf und der Schwester in die Arme. Die drei Damen folgten ihnen, und nun wurde das Haus noch einmal bewundert.

»Können wir nicht mal hineingehen, Mama?« bat Dodo.

»Nein, Herzchen; es würde die Besitzerin stören. Die Dame hat erst kürzlich die Schwester verloren, mit der sie hier zusammenwohnte, und will jetzt nach Hannover zu ihrem Bruder ziehen. Deshalb hat sie sich zu dem Verkauf entschlossen.«

Langsam gingen alle nach dem Heim zurück, Herr Frankental mit Frau Winterfeld voran, auf die er lebhaft einsprach, als wolle er sie für etwas gewinnen.

Im Garten war bereits der Kaffeetisch gedeckt, zu dem die Hausmutter einlud.

Dann erschienen, von Metelmann abgeholt, die Heimgäste, jeder mit einem kleinen Koffer oder auch nur einem größeren Bündel in der Hand.

»Bitte, Frau Welzin, wollen Sie mit mir kommen,« sagte Herr Frankental und erhob sich, den Leuten entgegenzugehen.

Mit ruhiger Würde schritt sie neben dem Fabrikherrn her. Inzwischen waren die Männer in den Garten getreten; einige schauten verlegen, andere mit neugierigen Blicken umher.

»Guten Tag, Leute,« begrüßte Herr Frankental sie mit kräftiger Stimme, »ich heiße euch herzlich willkommen im Erholungsheim, als die ersten, die hier einziehen. Möge die Zeit euch hier angenehm vergehen, euch Frische, neue Kraft und Gesundheit bringen! Hier stelle ich zugleich eure Hausmutter vor, Frau Welzin, die in jeder Hinsicht für euer Wohl sorgen wird. Ihr dürft Vertrauen zu ihr haben und ohne Scheu mit allen euren Anliegen zu ihr kommen. Im übrigen habe ich zu jedem einzelnen unter euch das gute Zutrauen, daß er sich anständig betragen wird. Nun tretet einzeln heran, damit ich Frau Welzin die Namen sagen kann.«

Das geschah und zwar nicht ohne mancherlei Erklärungen, doch mit so viel Güte und Humor, daß immer von neuem ein Lachen über die arbeitsharten, durchfurchten Gesichter flog.

»Metelmann, jetzt bringe die Leute unter,« befahl der Fabrikherr, nachdem der letzte Mann vorgestellt war. »Du weißt ja Bescheid, Alter!«

»Zu Befehl, ja, Herr,« lautete die Antwort. Noch ein lautes Trapptrapp, dann waren die Leute im Hause verschwunden.

»Nun, liebe Frau Welzin, wird Ihnen nicht bange vor den Männern?« fragte Herr Frankental; es zuckte ihm dabei lustig um Mund und Augen.

»Nein, Herr Frankental, nicht im geringsten! Ich sehe in ihnen nur leidende Menschen; mit denen will ich schon fertig werden.«

»Das glaube ich auch!« Er rieb sich vergnügt die Hände, und Frau Welzin ging ins Haus, für die Leute zu sorgen.

»Was tun wir jetzt, Papa?« fragte Dodo. »Es ist sehr schade, daß ich nicht gleich hier bleiben kann. Aber in vierzehn Tagen beginnen endlich die Ferien, und dann komme ich auf fünf lange Wochen!«

»Ja, Töchterchen, und jetzt, meine Damen –«

»Müssen wir an den Aufbruch denken,« fiel ihm Frau Winterfeld lächelnd ins Wort.

Ausrufe des Bedauerns wurden laut; nur Gertrud freute sich, heute, am Samstag, noch bei der Mutter bleiben zu können.

Es wurde Abschied genommen. Frau Frankental ging mit Ruth, die recht blaß und müde war, ins Berghotel, der Fabrikherr begleitete Frau Winterfeld und die jungen Mädchen in den Ort hinunter, wo der Wagen auf sie wartete. Er selbst wollte bis Sonntag abend bleiben. An der Gartenpforte standen Mutter und Tochter und winkten den Scheidenden Grüße nach.

»Wie gut, daß ich noch nicht fort muß, Mutter,« sagte Gertrud vergnügt.

»Ja, mein Herz, das freut mich auch.«

»Wird es dir nicht zu einsam sein, ohne mich?«

»Ich muß mich eben erst daran gewöhnen, ohne mein Töchterlein zu sein; aber die Arbeit wird mir schon darüber hinweghelfen, und dann die Freude auf das Wiedersehen!«

»Du wirst es nicht immer leicht haben, Mutter,« bemerkte Gertrud nachdenklich.

»Ich weiß es. Laß uns aber immer wiederholen: ›Mit Gott voran!‹ Damit wird alles Schwere leicht und alles Trübe licht!«

*

Eines Sonntagmorgens saß Lena in ihrem Zimmer und trotzte. Sie hatte Tags zuvor Besorgungen machen und unter anderem auch einen Braten bestellen sollen. Natürlich aber hatte der Flattergeist nicht alles behalten und die Hauptsache vergessen. Frau Winterfeld war nachmittags mit ihrer jungen Schar spazieren gewesen und erst zum Abendbrot heimgekehrt. In dem guten Glauben, daß Sophie den Braten schon gespickt habe, wie es ihr aufgetragen war, hatte sie nicht weiter danach gefragt.

Da erschien denn das sonst sehr tüchtige Mädchen, dem aber leider auch der Fehler der Vergeßlichkeit anhaftete, am Morgen, während alle fröhlich beim Kaffee saßen, mit der Nachricht, daß kein Braten da sei. Lena saß wie zur Salzsäule erstarrt und mußte einen scharfen Verweis hinnehmen. Der ganze Haushalt geriet in Unordnung. Es mußte ein anderer Küchenzettel entworfen und dabei darauf Rücksicht genommen werden, daß Sophie, die ihren Kirchtag hatte, doch fortgehen konnte.

Von den jungen Mädchen blieben nur Anna und Lena daheim. Ilse, die mit der Schwester zusammen die Küchenwoche hatte, wollte ihr Gesellschaft leisten; aber Anna, die auf Lenas Hilfe rechnete, hieß sie gehen. Lena jedoch war trotzig und zog sich, nachdem sie Staub gewischt hatte, in ihr Zimmer zurück.

Da saß sie nun und ärgerte sich außerordentlich. Sophie hatte doch genau so viel Schuld wie sie; weshalb wurde gerade ihr ein solcher Marsch geblasen? Wohl sprach das eigene Gewissen sie schuldig und redete ihr zu, hinunterzugehen und durch Freundlichkeit ihr Unrecht wieder gutzumachen. Ihr Trotz ließ es aber nicht zu. Lieber wollte sie gar nicht zu Tisch gehen und hungern, als jetzt klein beigeben. Sich so heruntermachen zu lassen, als wäre sie ein kleines Kind, sie, die in acht Tagen siebzehn Jahre alt wurde und in Afrika einen Freund hatte, der seine Kraft dem Vaterland weihte? Das brauchte sie sich nicht gefallen zu lassen, nein, und sie tat es auch nicht! Um das zu zeigen, blieb sie einfach oben.

Kein Mensch störte sie übrigens. Das Räderwerk des Haushalts schien auch ohne sie seinen Weg zu gehen, denn niemand kam und rief sie zu Hilfe.

So saß sie noch, als die anderen Fünf von der Kirche nach Hause kamen. Deren frohes Lachen und Plaudern drang zu ihr hinein; sie rührte sich aber nicht. Da wurde die Tür aufgestoßen, mit blitzenden Augen erschien Ilse auf der Schwelle.

»Du bist mir wirklich eine Nette,« rief sie sehr erregt, »läßt mich ruhig fortgehen und rührst keinen Finger, Mutter und Anna zu helfen! Du hast recht gut gehört, daß Anna auf dich rechnete, weshalb hast du denn den Schnabel nicht aufgetan und gesagt, daß du nicht helfen wolltest?«

Lena erwiderte kein Wort, aber – es ist kaum glaubhaft für eine beinahe siebzehnjährige junge Dame, doch es muß gesagt werden – sie streckte die Zunge heraus, so weit sie konnte.

Einen Augenblick stand Ilse starr; dann machte sie kurz kehrt und schmetterte die Tür hinter sich ins Schloß.

Anna lächelte ein klein bißchen schadenfroh, als Ilse zurückkam und ihrer Empörung Luft machte. »Das ist deine rassige Lena,« erwiderte sie.

»Ach, ich wollte, ich könnte sämtliche Mädel, Gertrud ausgenommen, aus unserem Hause jagen! Unser liebes Heim ist gar kein Trautheim mehr!« Tränen schimmerten ihr in den dunklen Augen.

»Arme Schwester!« Die Maus war sofort ganz Mitgefühl. »Wir beide wollen unser Bestes tun, uns die liebe Heimat traut zu erhalten, nicht wahr, Große?«

Aber Ilse antwortete nicht; sie sah mit gefurchter Stirn zum Fenster hinaus.

»Nimm nicht jede Kleinigkeit so schwer,« bat Anna.

»Ach, ich hätte gerade Lena nie ein solches Betragen zugetraut. Ich bin grenzenlos enttäuscht.«

Da kam Dodo. »Oh, habe ich eben einen Schreck bekommen! Ich sah zu Lena hinein; sie funkelte mich aber so drohend an, daß ich schleunig verduftete. Was machen wir mit ihr?«

»Gar nichts,« erwiderte Ilse kurz.

»Wir haben sie weiter lieb,« entgegnete die Maus so frisch und fröhlich, daß Dodos Kummer in nichts zerfloß.

»Ja, du hast recht,« rief sie vergnügt und verließ das Eßzimmer, in dem die beiden den Tisch deckten.

»Ich glaube, es ist noch so viel Zeit, Große, daß du ein paar Rosen für die Tafel schneiden kannst,« schlug Anna der Schwester vor.

Es lag so viel zärtliche Liebe in ihren blauen Augen, daß Ilse schnell auf sie zutrat. »Das ist wohl das beste! Wir wollen unser Trautheim traut erhalten, daß nicht Friede und Eintracht hinausfliegen!«

Die Wolke war von ihrer Stirn verschwunden, als sie in den Garten trat. Hier saß Bernd mit einem Buche. Er hörte auf zu lesen und beobachtete die Schwester, wie sie Rosen schnitt. Für ihn war sie der Inbegriff der Schönheit und des Edelsinns. Einen lieblicheren Anblick hätte es an diesem lichten Sommertag auch wohl kaum geben können als das schlanke, rosenschneidende Mädchen.

Seine ganze Liebe und Bewunderung sprach aus dem einen Worte, mit dem er sie begrüßte: »Königskind.«

»Ich bringe dir Königskinder, Berni; sieh nur diese Rosen! Sie sind alle von edelster Art, jede ein kleines Wunderwerk, wert, daß du es malst.«

»Willst du es nicht selbst einmal versuchen?«

Bild: Richard Gutschmidt

Bernd beobachtete die Schwester beim Rosenschneiden.

»Nein,« unterbrach sie ihn hastig, »mein Pinsel taugt nicht dazu. Da klingt übrigens die Tischglocke. Nimm dein Buch, Berni, ich fahre dich hinein.«

Alle waren schon versammelt, nur Lena fehlte. Sophie, die hinaufgeschickt wurde, sie zu rufen, kehrte mit dem Bescheid zurück, daß sie danke; sie habe Kopfschmerzen und sich zu Bett gelegt. Bestürzt sahen die Mädchen einander an. Keine hatte geglaubt, daß Lena ihrem Trotz so die Zügel schießen lassen werde.

Dem Beispiel der Hausfrau folgend, äußerte niemand ein Wort über Lenas wunderliches Verhalten. Es wollte aber keine fröhliche Stimmung bei Tisch aufkommen, obgleich Frau Winterfeld die Unterhaltung aufrecht erhielt.

»Und dabei hat sie noch die großartige Rede gehalten, damals, als wir den Bund stifteten,« flüsterte Lisi ihrer Freundin zu. »Wie kann sie nun bloß so sein?« Kläre schüttelte den Kopf; sie begriff Lena auch nicht, denn Trotz und Auflehnung kannte ihre liebevolle junge Seele nicht.

Nach Tisch sprach Anna leise mit der Mutter, die lächelnd nickte, ging gleich darauf, beladen mit einem Teebrett voll guter Dinge, die Treppe hinan und trat, ohne anzuklopfen, in der Cousine Zimmer. Lena hatte sich nach der Wand gedreht und rührte sich nicht.

Anna holte ein Tischchen, stellte ihr Teebrett nieder und beugte sich über die Regungslose.

»Wie gut, daß du nicht schläfst, Lena,« begann sie völlig unbefangen. »Ich bringe dir nämlich zu essen.«

»Ich mag nichts, das habe ich ja sagen lassen,« antwortete der Trotzkopf.

»Oh, ein bißchen Suppe läßt sich auch ohne Appetit verzehren,« beharrte Anna. »Wenn du nichts genießt, werden deine Kopfschmerzen nur immer schlimmer. Komm, versuche mal!«

Keine Antwort.

»Die Leber ist sehr zart und milde,« fuhr die Maus nach einer Pause fort. »Ich habe dir ein recht weiches Stück ausgesucht, so wie du es gern ißt. Willst du es nicht mir zuliebe mal versuchen, Lena?«

»Ach – ich mag doch nicht!«

Ein übellauniges Gesicht kam zum Vorschein. Eine Hand auf die Stirn gepreßt, drehte sich Lena herum und warf einen halben Blick auf die Speisen. Eigentlich war es sehr nett von der Maus, zu kommen – und wenn ihr so viel daran lag, na, dann konnte man wohl ein paar Bissen verzehren, nur um sie nicht zu kränken.

»Versuche nur,« redete Anna ihr zu und reichte ihr die Suppe.

Lena richtete sich auf, löffelte den Teller aus und verspeiste, natürlich nur der Maus zu Gefallen, auch alles übrige, was diese ihr gebracht hatte.

Annas Augen leuchteten vor heimlicher Belustigung, aber sie tat, als sei Lenas Appetit die selbstverständlichste Sache von der Welt, und plauderte unbefangen von harmlosen Dingen. Die Cousine antwortete nur sehr kurz; sie schämte sich, da sie nicht wußte, wie sie sich eigentlich benehmen sollte.

Da kam ihr plötzlich eine Hilfe. Draußen vor der Tür ertönte zweistimmiger, fröhlicher Gesang.

Freut euch des Lebens,
Weil noch das Lämpchen glüht,
Pflücket die Rose,
Eh' sie verblüht!
Man schafft so gern sich Sorg' und Müh',
Sucht Dornen auf und findet sie
Und läßt das Veilchen unbemerkt,
Das dort im Grase blühet.

Darein mischte sich eine so wunderliche Begleitung, daß Lena schon nach den ersten Tönen aus dem Bette sprang, sich rasch anzog und Anna zur geöffneten Tür folgte. Da standen die Sängerinnen, Klärchen und Lisi, neben ihnen Dodo, die aus Leibeskräften auf einem in Seidenpapier gewickelten Kamm blies. Lena erblicken, ihr Instrument in die Tasche stecken und jubelnd beide Arme um die Freundin schlingen, war für Dodo eins.

»Es hat geholfen; sie freut sich wieder ihres Lebens,« rief sie lebhaft und die Melodie mitsummend, drehte sie sich mit Lena im Kreise. »Bist du wieder vergnügt – wirklich vergnügt?«

»Ja – ja – laß mich doch los, du Unband!«

Dodo gehorchte und sah neugierig zu ihr auf. Lena lachte verlegen und fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar. Plötzlich eilte sie mit schnellem Entschluß die Treppe hinab in das kleine Zimmer der Tante.

Bestürzt blieb sie auf der Schwelle stehen. Da saß die Tante auf ihrem Sofa, den Kopf gegen ein Kissen gelehnt, vor sich auf dem Tische einen offenen Brief.

»Verzeih, Tante – ich – ich wollte dich nicht stören,« stammelte Lena verwirrt.

»Komm nur her, liebes Kind; ich habe nicht geschlafen, nur über etwas nachgedacht.«

Wie gütig das klang! Langsam, sich recht von Herzen schämend, kam Lena näher. »Ich – ich wollte dich bloß um Entschuldigung bitten, Tante Marie.«

Dunkelrot vor Verlegenheit blieb sie vor der Tante stehen.

»Fühlst du dich nun wieder ganz wohl, Lena?«

»Ich war gar nicht krank, Tante, nur der Kopf tat mir wirklich etwas weh. Das kam aber bloß davon, daß ich mich so unvernünftig geärgert hatte.«

»War dir denn unrecht geschehen?«

»Nein, Tante Marie. Ich wollte es aber nicht einsehen, obgleich ich es recht gut wußte. Es war ein böser Morgen, du glaubst gar nicht, wie mir zumute war.«

»Doch, mein Mädchen; ich wußte es genau,« sagte die Tante freundlich. »Du mußtest aber selbst zur Besinnung kommen. Es hat sehr lange gedauert, Lena.«

»Ich war nicht mehr trotzig, Tante; ich wußte bloß nicht, wie ich's anfangen sollte, mit meinem Trotz aufzuhören. Ich schämte mich gar zu sehr. Wäre die gute Maus nicht gekommen, ich läge noch und quälte mich.«

»Laß dir das eine Lehre sein, Lena, dem Zorn und Trotz keine Gewalt über dich einzuräumen! Du machst dich und andere dadurch unglücklich, mindestens verschaffst du uns allen ungemütliche Stunden. Immer tapfer kämpfen, mein liebes Mädchen, und sich von seinen Fehlern nicht besiegen lassen!«

»Bist du mir nicht mehr böse, Tante Marie?«

»Nein, nicht im geringsten! Nun gehe zu den anderen und genießt zusammen den schönen Sonntag!«

Nachdenklich verließ Lena das Zimmer. Was die Tante nur hatte? Lena hätte darauf wetten wollen, daß ihr bei ihrem Eintritt Tränen in den Augen standen. Und der offene Brief auf dem Tische, von wem mochte der gewesen sein? Ob die Tante irgendeinen Kummer hatte? Die arme, liebe Tante, sie hatte es doch eigentlich recht schwer, und da mußte sie, Lena, sich noch häßlich betragen? Aber nie – nie sollte so etwas wieder vorkommen! Sie wollte sich fortan mit aller Kraft bemühen, gut und sanftmütig wie ein Lamm zu werden. Ja, das wollte sie!

Da kamen ihr Kläre und Lisi entgegen; jede hing sich ihr zärtlich an einen Arm.

»Wir sind unten auf der letzten Terrasse, damit wir Berni nicht stören,« sagte Kläre.

Sie gingen also den Garten hinunter zu dem Platz unter der schlanken Birke. Lena wurde rot, als alle ihr erwartungsvoll entgegensahen.

»Seid mir nicht böse, besonders du nicht, Ilse,« sagte sie freimütig. »Ich habe mich betragen wie ein ungezogenes Gör. Es ist aber wahrhaftig sehr schwer, immer gut und liebenswürdig zu sein. Von jetzt an will ich es werden und sanftmütig wie ein Lamm dazu.«

»Lena – ein Lamm!« Diese Vorstellung wirkte so komisch, daß ein fröhliches Lachen erfolgte.

»Still – nicht so laut,« mahnte Ilse. »Berni darf nicht gestört werden.«

Dodo versetzte sich einen hörbaren Klapps auf den Mund. »Ach, bin ich wieder vergnügt!« rief sie aus. »Haben wir dir nicht wacker geholfen, deine verloren gegangene Lebensfreude wiederzufinden, süßes Lena-Lamm?«

»Ja, aber das Beste hat die Maus getan.«

»Aha, die gebratene Leber,« sagte Trude neckend.

»Nein, es war ihre Güte.«

»Ja, die Maus ist die Beste von uns,« gab Ilse zu. »Als Dodo fragte, was man tun könne, dich deiner verzweifelten Stimmung zu entreißen, sagte ich ärgerlich: ›Nichts!‹ Die Maus aber gab die Parole aus: ›Wir wollen sie liebhaben‹, und so hat sie auch gehandelt.«

»Ihr müßt nicht so viel Rühmens von mir machen,« wehrte Anna errötend ab; sie freute sich aber sehr und ein klein wenig sonnte sie sich doch in ihrer soeben gepriesenen Güte.

»Nachher gehen wir aus, recht weit, nicht?« fragte Dodo.

»Wollen wir nicht erst eine Stunde bei Berni bleiben?« bat Ilse. »Ich weiß, daß er sehr gern an unseren Gesellschaftsspielen teilnimmt.«

»Aber versteht sich,« erklärte Dodo bereitwillig, »Berni geht immer vor,« und die übrigen Mädchen stimmten ihr lebhaft zu.

Als die jungen Mädchen gegen Abend von ihrem Spaziergang zurückkehrten, saß Bernd noch im Garten. Er winkte ihnen lebhaft zu.

»Kommt schnell her,« rief er in sichtlicher Erregung. »Ich habe euch etwas zu erzählen. Denkt euch, ich soll mit hinauf nach Braunlage! Mutter hat es mir vorhin gesagt.«

Die Mädchen jubelten. »Hat mein Papa das glücklich fertig gebracht?« fragte Dodo lebhaft.

»Ja, wieviel Dank bin ich Ihrem guten Vater schuldig, Dodo,« sagte er innig.

»Das sind wir alle,« rief Ilse. »Komm in meine Arme, Dodo! Da ich deinen lieben Vater augenblicklich nicht hier habe, muß ich dir meinen Dank abstatten. Das mußt du dir schon gefallen lassen.«

»Ich werde es dem Papa melden, daß ich den ersten Kuß, den mir die stolze Ilse in Gnaden gibt, nur als Stellvertreterin in Empfang nehme. Es wird ein großer Augenblick in seinem Leben sein, wenn er das erfährt.«

»Schelm! Du weißt recht gut, wie ich es meine!«

Da kam auch die Mutter so freudigen Antlitzes, wie die Mädchen es seit des Vaters Tode noch nicht gesehen hatten. Sie erzählte, daß Doktor Jonas, der Leiter des Sanatoriums, sich auf Herrn Frankentals Wunsch mit ihrem Hausarzt, Doktor Schmidt, in Verbindung gesetzt hatte. Beide Ärzte waren dann zu der Überzeugung gelangt, daß ein Aufenthalt in dem hochgelegenen Braunlage nur heilsam auf Bernds Nervensystem wirken könne. Außerdem wollte Doktor Jonas noch versuchen, den schwachen Rücken des jungen Mannes durch leichte Massage und regelmäßiges Elektrisieren zu stärken.

»Mein Rücken kann wohl niemals kräftig werden,« sagte Bernd, »aber daß ich überhaupt mit hinauf und das Erholungsheim sehen soll und alle die Arbeiter, daß ich unter ihnen sein und einmal etwas ganz anderes kennen lernen soll, das freut mich riesig.«

»Im Heim, Bernd – wirklich, bei uns dürfen Sie wohnen?« rief Gertrud und klatschte vor Vergnügen in die Hände, als der Jüngling mit leuchtenden Augen nickte.

»Ja, liebe Gertrud,« setzte Frau Winterfeld hinzu, »ich nehme das gütige Anerbieten deiner lieben Mutter, von der ich heute morgen einen sehr freundlichen Brief empfing, mit Dank an. Beide Ärzte legen besonderen Wert darauf, daß Bernd den ganzen Tag in freier Luft und so hoch wie möglich weilt. Wo könnte er das besser haben, als im Heim und unter der Obhut deiner lieben Mutter? Außerdem führt von dort ein freilich etwas weiterer, aber sehr bequemer Weg zum Sanatorium. Einer der Arbeiter schiebt Bernd gewiß vorläufig ein- bis zweimal wöchentlich, später öfter hinunter.«

»Aber wie soll er nach Braunlage hinkommen, Mutter?« fragte Anna.

»Auch dafür hat der überaus gütige Herr Frankental bereits vorgesorgt. Bernd wird in einem Güterwagen befördert, und von hier zum Bahnhof, sowie von Braunlage ins Heim in einem Krankenkorb getragen. Seinen Stuhl bekommt er natürlich mit. Herr Frankental und ich dürfen ihn im Güterwagen begleiten. Darum warten wir bis Ende Juli, weil dein Papa nicht eher abkommen kann, meine liebe Dodo. Wie dankbar ich ihm bin, kann ich mit Worten gar nicht ausdrücken.«

Bernd hörte still zu; er glaubte an keine Besserung, freute sich aber, die Seinen begleiten und einen Teil des Sommers auf der Höhe verleben zu dürfen.

Kurz vor Schulschluß feierte Lena ihren Geburtstag. Sie erhielt liebevolle Briefe von den Eltern und Brüdern und reizende Geschenke; ersetzen konnte ihr indessen das alles die Abwesenheit ihrer Lieben nicht. Sie bemühte sich jedoch, mit den Verwandten und den Freundinnen vergnügt zu sein, die alles aufboten, sie durch doppelte Liebe für das zu entschädigen, was sie an diesem Tage besonders schmerzlich entbehrte.

Ihre Eltern befanden sich zurzeit auf der Reise nach Amrum und entfernten sich räumlich immer weiter von ihr. Ohne des Vaters Halsleiden wären sie heute mittag samt den Jungen hier eingetroffen. Daß es doch nichts Vollkommenes auf der Welt gibt! Von Hans erhielt sie nur eine Postkarte; er machte mit zwei Freunden eine Fußwanderung durch den Schwarzwald und schrieb äußerst befriedigt über all das Schöne, das er sah. Der schien sie also auch nicht allzusehr zu entbehren.

Am Abend erlebte sie noch eine große, unerwartete Freude; ein Brief von Erwin traf ein. Er fuhr da fort, wo er in seinem letzten Briefe abgebrochen hatte.

 

»Auf hoher See, den 3. Mai.

Liebe, junge Freundin!

Heute haben wir den Äquator gekreuzt und wie üblich, wurde die Schiffstaufe vorgenommen. Da ich denke, daß es Ihnen Spaß machen wird, will ich Ihnen die Feier möglichst ausführlich beschreiben.

Es war ein stiller, sternenklarer Abend; der Mond goß sein Licht über das Wasser, durch das unser Schiff eine silbersprühende Furche zog. Jeder Gegenstand auf der ›Gertrud‹ hob sich klar und deutlich ab. Wir standen alle versammelt und harrten erwartungsvoll der Dinge, die da kommen sollten. Das Schiff war bereits am Vorabend frisch geputzt, gescheuert und mit Flaggen geschmückt worden. Die wenigsten unter uns waren jemals über den Äquator gekommen, hatten mithin noch nie einer derartigen Feierlichkeit beigewohnt. Unmöglich aber konnte die Taufe an uns allen vollzogen werden; daher waren die beiden neuen Schiffsjungen auserkoren und noch vier von unseren Soldaten durch das Los gewählt worden. Sie standen in unserer Mitte und das Herz mag ihnen in dem lautlosen Schweigen wohl ein bißchen geklopft haben.

Da schlug es dreimal gegen die äußere Schiffswand. Der erste Steuermann trat vor und rief: ›Wer klopft und was ist sein Begehr?‹ – ›Laßt mich auf euer Schiff kommen, so will ich euch meine Botschaft kund tun,‹ erwiderte eine Stimme, scheinbar aus den Wellen. – ›Erscheine,‹ gebot der Steuermann.

Eine seltsame Gestalt schwang sich über Bord. Sie war in ein kurzes, meergrünes Gewand gehüllt, mit Muscheln übersät. Das Haupt umwallte langes, weißes Haar; ein gleicher Bart fiel bis auf die Brust. Der wunderbare Gast setzte ein gewaltiges Muschelhorn an die Lippen und entlockte ihm schauerlich schöne Töne. Dann näherte er sich uns langsam und blieb dicht vor uns stehen.

›Ich bin Triton,‹ begann er, ›ein Bote Neptuns, der euch seinen Gruß durch mich entbieten und fragen läßt, ob ihr jemand an Bord eures Schiffes führt, der die Linie noch nicht gekreuzt hat.‹

›Ja, du getreuer Bote des mächtigen Meeresgottes: sage deinem Herrn, daß wir ihrer sechs mit uns führen.‹

›So läßt euch Neptun vermelden, daß er selbst an Bord eures Schiffes erscheinen und die Taufe vollziehen will.‹

›Es wird uns eine hohe Ehre sein, den Meeresgott und seine Begleiter zu empfangen,‹ lautete die feierliche Antwort des Steuermanns.

›So haltet euch bereit! Wenn der erste Strahl der aufgehenden Sonne euer Schiff trifft, erwartet ihn.‹ Triton wandte sich, stieß nochmals in sein Horn, schwang sich wieder über Bord und verschwand lautlos, wie er heraufgekommen war, in der Tiefe.

Am nächsten Morgen waren wir sämtlich vor Sonnenaufgang aus den Kojen. Als das Tagesgestirn seinen Aufgang durch einen hellen, goldigen Schein verkündete, waren die letzten Vorbereitungen zu der feierlichen Handlung getroffen. Große, mit Seewasser gefüllte Fässer standen bereit und wir im Halbkreis um diese wunderlichen Taufbecken.

Inzwischen war es im Osten heller geworden. Nun zuckte der erste Strahl über die spiegelglatte Fläche; wie eine Feuergarbe schien es aus dem Wasser hervorzutauchen. Die Sonne stieg langsam empor und übergoß alles mit ihrem goldenen Schein. Im selben Augenblick ertönte lauter Hörnerklang; gleich darauf schwang sich eine Gestalt nach der anderen, alle ähnlich phantastisch gekleidet wie der Triton am Abend vorher, auf Deck. Sie scharten sich um den größten, in dem man sofort Neptun erkannte, denn er trug in der Hand den Dreizack, das Zeichen seiner Herrschaft über das Meer.

Als seine Begleiter das Blasen einstellten, schritt der Kapitän auf den Meeresgott zu und hieß ihn auf seinem Schiff willkommen. Dann hielt Neptun eine Ansprache an die Täuflinge, in der er besonders hervorhob, daß er nur selten sein Reich verlasse, um der Taufe der Menschenkinder beizuwohnen, und nur dann persönlich erscheine, wenn die Täuflinge als wackere Männer der Ehre ihres Vaterlandes dienten.

Nun stießen die Tritonen in die Hörner und schritten auf ihres Gebieters Wink zu dem ersten Akt. Die Täuflinge wurden einer nach dem anderen mit einer Mischung aus Schmierseife, Teer und Asche eingeseift, mit Holzmessern barbiert und gehörig mit Wasser bespritzt, wobei andere Tritonen sie unter Hörnerklang umtanzten. Dann folgte der Hauptakt. Zwei der Götter, Okeanos und Proteus, hoben die Täuflinge einen nach dem anderen an den Beinen in die Höhe und tauchten sie dreimal in die bereitstehenden Fässer, den Kopf zu unterst, wobei die Tritonen sie unterstützten, damit ihnen kein Leid geschehen konnte. Immerhin war die Kur nicht sehr angenehm. Die Leute prusteten und schnoben um die Wette, um das unfreiwillig eingeschluckte Seewasser wieder loszuwerden; sie standen aber alle stramm in ihren grauen, triefenden Leinenanzügen, bis sie verschwinden durften. Die Tritonen führten noch einen lustigen Tanz auf, dann schwangen sie sich unter Hörnerklang über Bord und die Feier war beendet.

Das Wetter ist jetzt immer gleich herrlich. Eine weiche und doch erfrischende, würzige Luft umfächelte uns. Delphine tummelten sich in munterem Spiel; ein Hai hob beutegierig seinen mächtigen Rachen aus dem Wasser und folgte unserem Schiff eine Zeitlang. Dann die wunderbaren Wolkenbildungen bei Sonnenauf- und Untergang! Oft glaubt man große Inseln von seltsamer Form auftauchen zu sehen, mit hohen Bergen und herrlichen Wäldern; es läuft jedoch nur auf eine Täuschung hinaus, wie sie innerhalb der Wendekreise öfter vorkommen.

Von unbeschreiblicher Schönheit sind die Nächte mit dem tiefblauen Himmel, der durch seine Milliarden großer und kleiner Sterne einen Glanz ausstrahlt, der alles erhellt. Als wollte dann das Meer dem strahlenden Himmel den Rang streitig machen, öffnet es uns die tiefsten Geheimnisse seiner Schönheit. Ein Leuchten, Flimmern und Gleißen in Gold und Purpur, wohin das Auge schaut! In den Furchen, die unser Schiff zieht, als gleite es auf goldenen Wellen dahin, an den Schiffswänden, aus jeder Woge glüht und leuchtet es. Das Auge ist wie geblendet und kann sich nicht losreißen von dem wunderbaren Anblick des leuchtenden Meeres.«

 

»Den 7. Mai.

Heute früh näherten wir uns der Küste. Wir standen alle an Deck, in gespannter Erwartung nach dem Lande ausschauend, das uns für die nächste Zeit zur Heimat werden, und dem wir alle unsere Kräfte weihen wollten. Manche von uns wußten bereits, welchen trostlosen Eindruck es auf den macht, der sich zum erstenmal der unwirtlichen Küste von Südwest nähert; die Mehrzahl aber hatte sich doch keinen rechten Begriff davon gebildet. Ihnen mochten herrliche Palmenwälder, eine üppige Vegetation und leuchtende Blumenpracht vorschweben. Aber nichts von alledem! Man sah die grenzenlose Enttäuschung auf allen Gesichtern.

Gegen vier Uhr rasselten die Anker nieder. Aus wogendem Nebel tauchte im Osten ein breiter, heller Streifen auf, den viele für eine Sandbank hielten. Allmählich wich der Nebel, der Leuchtturm verlöschte und die Morgenröte erschien als leuchtender Vorbote des königlichen Tagesgestirns, das aus dem Meere emporstieg und das öde Land mit rosigem, verklärendem Schimmer überhauchte. Sonst offenbarte es uns keinen einzigen Reiz, auf dem das Auge mit Lust geweilt hätte. Sand, nichts als greller Wüstensand, kein Baum, kein Strauch; nur öde Felsen, Steine und Sand, auf dem sich kleine, armselige Hütten erhoben. In der Ferne standen gleichsam als trotzige Wächter des Landes seltsam geformte wilde Felsgebirge am Horizont. Eine heiße, trockene Luft schlug uns entgegen; sengende Sonnenstrahlen trafen uns. Weit ins Meer heraus ragte die Mole, gegen die der weiße Gischt der Brandung in eintöniger, immer wiederkehrender Folge mit dumpfem Brausen schlug.

Jetzt kommen Boote, uns an Land zu holen; deshalb schließe ich für heute meinen Bericht, um ihn nach der Landung selbst der Post zu übergeben.

Aber erst möchte ich Ihnen noch zu Ihrem Geburtstage herzlich Glück wünschen, liebe Freundin. Möge es ein in jeder Hinsicht reich gesegnetes Lebensjahr für Sie werden! Wahrscheinlich gelangt mein Brief viel zu früh oder auch viel zu spät für diesen Tag in Ihre Hände; es kommt ja ganz darauf an, wann ein Schiff in die Heimat zurückfährt.

Sobald sich die Gelegenheit bietet, sende ich wieder ein Schreiben an Sie ab. Möglicherweise kann ich Ihnen dann eine genaue Adresse angeben; vorläufig bitte ich, Ihre Antwort nach Swakopmund postlagernd zu richten.

Mit recht herzlichem Gruß Ihr
Erwin Holm.«

 

An einem der nächsten Tage saß Lena in ihrem Stübchen, einen leeren Briefbogen vor sich, und starrte tiefsinnig darauf nieder.

Da trat nach kurzem Anklopfen Ilse ein. »Was treibst du nur so lange, Lena? Bernd sagte, du wolltest Briefe schreiben; aber das scheint ja gar kein Ende zu nehmen. Die Uhr zeigt bereits sechs, da wollte ich mich doch einmal nach dir umschauen. An wen schreibst du denn?«

Lena wies stumm auf einen fertigen Brief an die Mutter und auf eine Karte an Hans.

»Und wem soll dieses noch nicht angefangene Opus da gewidmet werden?« fragte Ilse. »Vorläufig steht noch nichts darauf als das Datum. Was hast du übrigens, Lena? Du arbeitest erschrecklich mit den Füßen herum; bist du ärgerlich?«

»Ach – ich muß doch endlich mal an Erwin schreiben,« versetzte Lena, ihren Unmut deutlich zu erkennen gebend.

Ilse hätte am liebsten gelacht; in Anbetracht der verzweifelten Stimmung ihrer Cousine bezwang sie sich aber.

»Das hast du noch nicht getan? Na, höre mal! Zwei so lange Briefe und noch kein Wort des Dankes! Den ersten hast du doch schon vor Wochen bekommen. Das ist wirklich stark.«

»Das verstehst du nicht,« murrte Lena und kritzelte mit der Feder auf der Schreibmappe herum.

»Woran fehlt es denn, Lena?«

»Ach, ich weiß nicht recht, wie ich ihn anreden soll; ich kann doch unmöglich ›Sehr geehrter Herr Doktor‹ schreiben.«

»Nein, das wäre zu förmlich. Wie hast du ihn denn zu Hause angeredet?«

»Verschieden; anfangs Herr Holm, später einfach Erwin oder lieber Freund, wie es gerade kam.«

»So schreibe einfach auch jetzt ›Lieber Freund!‹ Das ist er dir doch.«

»Ja – ja!« Sichtlich erleichtert tauchte Lena ihre Feder in die Tinte und schrieb die Anrede. Erwartungsvoll sah sie dann auf.

»Nun sage mir noch den Anfang, bitte; ich kann mir gar nicht denken, wie ich beginnen soll.«

»Aber, Mädel, wie schwerfällig! Schreib ihm, wie sehr du dich über seine ausführlichen, interessanten Briefe gefreut hast, besonders über den letzten, der gerade an deinem Geburtstag eintraf.«

»Sehr gut! Warte, ich schreib es schnell!« Ihre Feder flog über das Papier, dann schaute sie wieder auf.

»Was nun? Hilf mir doch weiter; ich bringe sonst in meinem Leben diese Epistel nicht zu Ende.«

Bild: Richard Gutschmidt

»Das verstehst du nicht,« murrte Lena und kritzelte mit der Feder auf der Schreibmappe herum.

Nun mußte Ilse lachen, sie konnte nicht anders. »Der arme Freund! Wie gut, daß er nicht ahnt, welche Qual dir dieser Brief bereitet; seine Freude beim Empfang würde sonst sehr mäßig sein. Schreibe doch einfach, wie dir ums Herz ist, Mädel.«

»Das mag ich nicht. Ich kann ihm unmöglich schreiben, daß ich immerfort an ihn denke und mich um ihn ängstige.«

»Nein, auf keinen Fall; das würde ihn nur eitel machen, und an Selbstbewußtsein fehlt es den Herren der Schöpfung ja niemals.«

»Du, Erwin ist weder eitel noch selbstbewußt, sondern sehr bescheiden und ...«

»Ja, ja, ich weiß; er ist ein auserlesener Mensch,« beschwichtigte Ilse die Cousine und zog sich einen Stuhl heran. »Ich sehe schon, daß dies eine lange Sitzung wird. Vorwärts, Lena!«

»Du willst diktieren?«

»Ein paar Sätze; nachher gibt dir dein Geist hoffentlich auch mal einen Gedanken ein, der sich zu Papier bringen läßt.«

Mit vereinten Kräften gelang es denn auch, den Brief zu beenden.

»Wie froh bin ich,« rief Lena, als sie die Feder aus der Hand legte. »War das ein Stück Arbeit! Gut, daß ich es nicht oft nötig habe!«

»Du bist ein drolliges Huhn, Lena! Sorgst dich beständig um diesen jungen Mann und weißt ihm schließlich kein Wort zu schreiben.«

Lena stand auf und dehnte die Glieder. »Steif bin ich vom Sitzen! Komm, wir wollen schnell die Briefe zur Post bringen.«

»Wo Erwin jetzt wohl sein mag,« sagte sie, als beide Arm in Arm den Weg hinuntergingen.

»Jedenfalls im Hauptquartier! Ich bin sehr gespannt auf seinen nächsten Brief.«

Lena entgegnete nichts, ihre Gedanken weilten bei dem Freunde im fernen fremden Lande und Ilse störte sie nicht in ihrem Sinnen.


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