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Der Abschied

In der Familie Giese kehrte plötzlich die Trauer ein. Die Schwester der Frau Professor verlor den Mann nach kurzer Krankheit und stand nun mit vier unversorgten Kindern allein im Leben.

Der Professor machte sich sofort für eine Woche frei und fuhr nach Wernigerode, seiner Schwägerin beizustehen. Seine Frau hätte ihn am liebsten begleitet, da sie sich große Sorge um die Schwester machte. Wäre nur Lena nicht so jung und unzuverlässig gewesen! Aber ihr den Haushalt selbst nur für die zwei Tage anzuvertrauen, die sie unbedingt wegen der Beerdigung fort sein mußte, schon das fiel ihr schwer.

Lena empfand es und betrübte sich sehr über das geringe Zutrauen. Sie meinte, sich in der letzten Zeit doch sehr zusammengenommen und der Mutter ihren guten Willen gezeigt zu haben. Frau Professor hatte das auch mit Freude bemerkt; sie war aber dennoch in großer Unruhe, als sie am Sonntagmorgen abreiste, zumal ihr Mann geschrieben hatte, sie solle Werner mitbringen, gerade den einzigen, der zuverlässig war.

Die Trennung von ihrem Jüngsten fiel ihr so schwer, daß Helmut tröstend sagte: »Ich bin ja auch noch da, Mutter; du kannst uns beiden verständigen Menschen den Knirps schon anvertrauen.« Lena gelobte hoch und teuer, an nichts zu denken als an ihre Pflicht.

Das erste, was geschah, als der Wagen mit Mutter und Werner davonrollte, war, daß Rolf heftig zu weinen begann. Es machte auch gar keinen Eindruck auf ihn, daß Helmut ihn weibisch schalt und ihm erklärte, daß er wie ein richtiger Junge sich zu benehmen habe. Im Gegenteil, er wurde unartig und schlug nach dem Bruder; so war der schönste Streit ausgebrochen, ehe noch die Mutter den Bahnhof erreicht hatte. Lena schalt, bat und wurde schließlich böse, ohne die beiden Jungen zur Vernunft zu bringen. Da ertönte die Klingel.

In heller Eintracht eilten nun alle drei zu öffnen und schrieen auf vor Freude, als sie Erwin erblickten, der sich Sonntags einzustellen pflegte, wenn seine Zeit es ihm erlaubte. Er war sehr bestürzt, als er von dem Todesfall hörte, und wollte sofort wieder gehen.

»Nur das nicht!« rief Lena erschrocken. »Ich weiß ja nicht, was ich mit den beiden Jungen allein anfangen soll.«

»Na, du tust gerade, als ob wir Wilde wären,« schalt Helmut. »Aber weshalb willst du denn gleich wieder fort, Erwin?«

»Ist es Ihnen recht, Fräulein Lena, wenn ich einen Spaziergang mit den beiden mache und sie Ihnen zu Mittag wiederbringe?«

»Freilich wäre mir das recht! Dann bin ich die Quälgeister los und kann alles schnell mit Elise fertig machen. Zu Tisch kommen Sie aber unbedingt mit, Erwin. Es gibt Kalbsbraten, Ihr Leibgericht.«

»Da kann ich freilich nicht widerstehen, Fräulein Lena.«

Sie zogen alle drei sehr vergnügt ab, Lena dagegen ging an die häuslichen Arbeiten.

Von dem Mädchen erfuhr sie keine große Hilfe. Elise hatte so heftige Zahnschmerzen, daß Lena sie kurz entschlossen zum Zahnarzt schickte. Die Zeit verging aber, ohne daß sie wiederkam; schließlich war Lena genötigt, die Zubereitung des Mittagessens zu übernehmen.

Noch niemals war sie so ganz allein auf sich angewiesen gewesen. Sie ängstigte sich, ob auch alles gelingen werde; aber mit der Sorge erwachte der Ehrgeiz und die Freude am Schaffen.

Alles ging auch vortrefflich. Als sie den Braten schon im Ofen hatte, kam Elise, dunkelrot vor Schmerz und Aufregung. Der Arzt hatte erklärt, es sei eine Wurzelhautentzündung, und hatte das Zahnfleisch gepinselt. Die Schmerzen waren fast unerträglich. Voll Mitleid schickte Lena das Mädchen zu Bett und kochte allein weiter. Punkt zwei Uhr kehrte Erwin mit den Knaben heim; bald darauf trug Lena stolz ihr Mittagessen auf.

»Tadellos,« lautete das einstimmige Urteil, und der Appetit der drei entschädigte sie für alle Mühe und Arbeit. Dann sorgte sie für Elise, die wimmernd auf ihrem Lager ruhte und nur nach vielem Zureden etwas Suppe zu sich nahm.

Später stand Lena mit Erwin am Fenster und sah dem frohen Spiel der Brüder mit anderen Knaben zu. Die Familie wohnte in einer ruhigen Straße mit sehr breitem Bürgersteig; der Verkehr war nicht so groß, daß die Kinder nicht Raum genug zu einem gelegentlichen Spiel gefunden hätten. Heute bei dem schönen Wetter und in Helmuts Gesellschaft hatte Lena auch Rolf hinuntergelassen.

Sie unterhielt sich noch mit Erwin, der sich eben verabschieden wollte, als plötzlich lautes Geschrei von der Straße herauftönte. Beide eilten ans offene Fenster zurück. Was sie aber erblickten, lähmte Lena vollständig, während Erwin hastig aus dem Zimmer eilte.

Unten angekommen, sah er noch in der Ferne einen Radler davonsausen; dann wandte er sich Helmut zu, der regungslos mitten auf der Straße lag, aus einer Wunde am Hinterkopf blutend.

Behutsam hob er den Verletzten auf, gebot Rolf, die Türe zu öffnen, und trug seine Last ins Haus.

Lena konnte vor Entsetzen kein Wort hervorbringen.

»Er ist nur ohnmächtig,« beruhigte Erwin. »Schnell sein Bett aufgedeckt und Wasser und Verbandzeug her!«

Zitternd gehorchte sie und leistete ihm Beistand, so gut sie es vermochte. Bald lag der Knabe verbunden auf den Kissen und unter den Bemühungen des jungen Arztes kam er endlich zum Bewußtsein. »Was ist mit mir los?« fragte er matt.

»Ein Radler hat dich umgestoßen.«

»Richtig – der –«

»Ruhig, mein Junge; du mußt ganz still liegen und dich gar nicht rühren. Ich werde jetzt gehen und Eis besorgen. Fräulein Lena, Sie sind wohl so freundlich und halten ein Stück Flanell und eine Schale bereit, um das Eis aufzubewahren. Haben Sie eine Eisblase?«

»Ja.«

»Gut. Ich bin so schnell wie möglich wieder hier.«

Lena holte das Gewünschte herbei, dann saß sie still neben dem Bruder, der die Augen bereits wieder geschlossen hatte.

»Muß er nun tot bleiben?« fragte Rolf in lautem Flüsterton. »Und wird er dann in solchem großen Blumenkasten weggefahren?«

Lena schauderte. »O Rolf, rede nicht so Entsetzliches! Erwin sagt ja, daß es nicht schlimm ist!« Sie suchte sich selbst mit diesen Worten zu trösten; ihr schlug aber doch das Herz bange um den blassen Jungen, der völlig teilnahmlos, mit tiefen Schatten unter den Augen, dalag. Was wohl die Eltern sagen würden, wenn sie zurückkamen!

Wie eine schwere Last legte sich dieser Gedanke auf ihre Seele, und doch fühlte sie sich schuldlos an dem Unglück. Welcher Segen, daß Erwin gerade da war! Was hätte sie allein wohl anfangen sollen? Seine Gegenwart gab ihr Trost und Zuversicht.

Das Herz wurde ihr schon ein bißchen leichter, als er wiederkam. Er berichtete, daß er schnell zu Doktor Fischer gefahren sei, aber weder ihn noch einen zweiten Arzt getroffen habe und nun entschlossen sei, vorläufig dem Verletzten jede nur mögliche Erleichterung zu verschaffen.

Er zeigte ihr, wie sie das Eis mit dem Flanell umwickeln müsse, damit es nicht zu schnell schmelze, schlug ein Stück entzwei und schob es in die Blase.

»Nicht mehr, Fräulein Lena, sonst drückt es zu schwer auf den Kopf. Und jede halbe Stunde wechseln!«

»Sie wollen doch nicht schon fort?«

»Nein, ich bleibe bis zum Abend.«

»Steht es gefährlich um Helmut?«

»Vorläufig nicht; wir müssen jedoch durch das Eis einer Entzündung vorbeugen.«

»Er sieht schrecklich aus,« flüsterte sie bange.

»Das macht der Blutverlust,« tröstete er. »Seien Sie ohne Sorge, Fräulein Lena; wenn der Fall ernst wäre, würde ich selbstverständlich nochmals versuchen, Ihren Arzt aufzutreiben. Aber wir werden gut allein fertig. Sie haben doch Vertrauen zu mir?«

»Ja, gewiß, völliges Vertrauen,« sagte sie fest.

Sich leise unterhaltend, bewachten sie den unruhigen Schlummer des Kranken und beschäftigten daneben den lebhaften Rolf, der inzwischen mit seiner schaurig vorgetragenen Neuigkeit auch Elise aufgeschreckt hatte. Voller Entsetzen war sie ins Krankenzimmer geeilt, hatte aber mit ihrer geschwollenen Backe so elend ausgesehen, daß Lena ihr zuredete, bis sie wieder zu Bett ging.

Gegen Abend wurde Helmut etwas munterer; er schlief nicht mehr so viel und verlangte zu essen. Erwin erlaubte ihm Milch und ein Brötchen.

»So, mein Junge,« sagte er dann befriedigt, »eine bessere Beruhigung hättest du uns nicht geben können, als diesen Beweis deines gesunden Appetits. Ich muß jetzt gehen, erwarte aber von dir, daß du sehr folgsam bist und genau tust, was Schwester Lena von dir fordert. Versprichst du das?«

»Na, weißt du, das ist ein eigen Ding,« erwiderte der Knabe. »Bist du ganz sicher, daß Lena genau Bescheid weiß?«

»Ganz sicher! Sie wird nur von dir verlangen, was ich angeordnet habe.«

»Na – dann meinetwegen!«

»Gute Nacht, mein Junge; ich hoffe, du wirst gut schlafen. Und hübsch still liegen, das ist die Hauptsache!«

Lena begleitete Erwin auf den Flur. »Ich kann mich auf Sie verlassen, Fräulein Lena?« fragte er nochmals eindringlich und ergriff ihre Hand.

»Ja, ja, ich will alles genau so machen, wie Sie es mir gezeigt haben.«

»Sie dürfen aber nicht einschlafen, sondern müssen immer wieder Eis auflegen, sobald das in der Blase fast geschmolzen ist. Die Gefahr einer Entzündung ist noch immer nicht ausgeschlossen. Vergessen Sie nicht, daß ich mit Ihnen die volle Verantwortung trage!«

Lena traten Tränen in die Augen. »Haben Sie doch Vertrauen zu mir,« bat sie mit zuckenden Lippen.

Er drückte ihr die Hand. »Wenn ich das nicht hätte, würde ich eine Pflegerin besorgen. Ich wollte Ihnen aber Gelegenheit geben, sich zu bewähren, liebe Freundin.«

Eine dunkle Freudenröte überflog ihr Gesicht. »O, ich danke Ihnen! Ich will alles tun, Ihr Vertrauen zu rechtfertigen. Sie kommen doch morgen wieder?«

»Morgen um acht Uhr bin ich wieder da,« sagte Erwin, ehe er ging. »Und nun keine Angst; es nimmt bisher alles einen guten Verlauf.« Er verabschiedete sich, und wie gehoben durch des Freundes Vertrauen, kehrte Lena zu ihrem Kranken zurück.

Helmut sah sie belustigt an. »Na, Flattergeist, laß mich nur nicht sterben; paß gut auf!«

»Helmut!«

»Ach was, ich mache ja nur Spaß! Aber die Mutter würde sich schön ängstigen, wenn sie hiervon eine Ahnung hätte. Das dumme Eis paßt mir übrigens gar nicht; es drückt.«

»Helmut, bewege den Kopf nicht! Wenn du nicht vernünftig bist, wie soll ich für dich aufkommen?«

»Fang nur nicht an zu heulen; ich lieg ja schon still!«

»Das mußt du mir auch fest versprechen; ich will jetzt Butterbrot für Rolf schneiden und ihn zu Bett bringen.«

»Na ja, geh nur; ich will auch schlafen.«

Er schloß die Augen, aber nur halb beruhigt kam Lena ihren Pflichten nach.

Endlich war sie fertig. Rolf schlief und Elise behauptete, nichts genießen zu können; so gab es nichts mehr für Lena zu tun, als ihren Kranken zu bewachen.

Totenstille herrschte in der Wohnung. Lena beschlich ein leises Unbehagen. Sie ließ die Lampe im Eßzimmer brennen und auch in der Küche, wo der Eimer mit dem Eis stand, und überzeugte sich noch, daß alle Türen und Fensterläden richtig verschlossen waren. Dann holte sie sich aus der Mutter Arbeitskorb einen angefangenen Strumpf und setzte sich damit an Helmuts Bett.

Er schlief unruhig, stöhnte im Traume und fuhr häufig mit der Hand nach dem Kopfe, als ob er eine Last fortschieben wollte. Einmal erwachte er und sah mit erstaunten Augen um sich. »Mutter« – murmelte er, halb im Schlaf.

Lena beugte sich über ihn. »Was willst du?« fragte sie.

»Trinken,« flüsterte er.

Sie hatte Milch bereit, stützte ihn sorgsam und gab ihm zu trinken, dann ließ sie ihn leise zurückgleiten und schob den Eisbeutel wieder zurecht.

»Mutter« – er griff nach ihrer Hand – »du bleibst bei mir?«

»Ja, mein lieber Junge, ich bleibe bei dir; du kannst ruhig schlafen,« entgegnete Lena leise und streichelte ihm die Wangen. Ein Lächeln flog ihm über das fieberheiße Gesicht. Mit sichtlichem Behagen schmiegte er sich in die Kissen. Die Augen schlossen sich; er schlief wieder.

Eine große Zärtlichkeit für den wilden Jungen wallte in Lenas Herzen auf. Er hielt sie für die Mutter, fühlte sich wohl und geborgen unter ihrer Obhut; er entbehrte nichts! Die große Verantwortung wurde ihr nun erst recht klar in dem Bewußtsein, daß sie hier saß an der Mutter Statt. »Ich will aufpassen, als wärst du selbst hier, Mutter,« gelobte sie feierlich.

Die erste Hälfte der Nacht verging ihr schnell. Helmuts Unruhe und das häufige Erneuern des Eises erhielten sie munter. Gegen zwei Uhr aber wurde sein Schlaf ruhiger; die Röte schwand aus seinem Antlitz und das Eis hielt länger vor. Lena bemerkte dies günstige Zeichen voll heißer Dankbarkeit. Als aber nun ihre Spannung nachließ, kam die Müdigkeit.

Anfangs gelang es ihr, durch Auf- und Abgehen oder eifriges Stricken, sie zu verscheuchen. Gegen Morgen jedoch fühlte sie sich wie gelähmt; sie mußte sich mit aller Macht des Schlafes erwehren. Sie wagte sich kaum zu setzen und die müden Füße wollten sie doch nicht mehr tragen. Wie unendlich lang eine solche Nacht sein konnte!

Seufzend ließ sie sich schließlich neben Helmuts Bett nieder und legte ihre kleine Taschenuhr vor sich hin.

»Schon halb fünf Uhr,« sagte sie mit einem Seufzer der Erleichterung. »Nun ist es bald Morgen; der Tag wird dann auch hingehen und abends kommen die Eltern zurück!«

Aber wie langsam rückte der Zeiger vorwärts! Lenas Kopf sank auf die Brust.

Entsetzt fuhr sie empor, als die Uhr zu schlagen anhub. Fünf Uhr – nein, sie hatte nicht geschlafen! Es wäre ja auch eine Schande gewesen.

Eilig ging sie in ihr Stübchen, wusch das Gesicht mit kaltem Wasser, trank einige Schlücke und kehrte erfrischt zu ihrem Kranken zurück.

Kurz vor halb sechs Uhr kam Elise, das Gesicht noch stark geschwollen, aber ohne Schmerzen. Sie war sehr erschrocken, als sie hörte, daß Lena die ganze Nacht gewacht hatte, und versuchte, sie zu überreden, sich hinzulegen. Lena lachte sie aber aus, lief in die Küche, kochte Kaffee und labte sich an dem heißen Getränk.

Gegen acht Uhr kam Erwin; er fand den eben erwachten Helmut viel besser.

»Wir sind über den Berg,« sagte er erfreut und drückte Lena die Hand. »Hätten Sie nicht so wacker aufgepaßt, wer weiß, wie alles stände! Aber noch vollkommene Ruhe, mein Junge, und ganz gehorsam sein! Kann ich mich auf dich verlassen? Ich habe leider keine Zeit, hier zu bleiben.«

Helmut gelobte alles mögliche Gute; es wurde aber dennoch ein schwerer Tag für das junge Hausmütterchen. Mit der wiederkehrenden Kraft erfaßte den Kranken eine große Ungeduld; er erklärte, mit dem besten Willen nicht stilliegen zu können. Nur auf kurze Zeit gelang es Lena immer wieder, ihn durch die Erinnerung an sein Erwin gegebenes Wort zur Ruhe zu zwingen. Hinzu kam noch, daß Rolf sich besonders wild gebärdete und ihr nicht recht folgen wollte. Sie war ein paarmal den Tränen nahe; außerdem fühlte sie sich so müde und abgespannt, daß sie kaum noch auf den Füßen stehen konnte.

Aber endlich nahte der Abend und brachte die heißersehnten Eltern. Sie erschraken heftig, als Rolf ihnen das große Erlebnis sofort zuschrie. Die Mutter wurde ganz blaß und ließ sich auch nicht von Lena beruhigen, sondern eilte an ihr vorüber an Helmuts Bett.

»Es ist nicht schlimm, weine doch nicht,« bat er und streichelte ihre Hände. »Mutti« – er nestelte sich fest in ihre Arme – »wie schön, daß du wieder da bist.«

»Mein lieber, armer Junge!« Die Mutter küßte ihn zärtlich und setzte sich zu ihm auf das Bett.

»Ach, der kleine Riß ist gar nicht der Rede wert,« erklärte Helmut. »Erwin war nur riesig ängstlich. Aber, Mutter, ich kann dir sagen, Lena hat sich großartig gemacht! Die ganze Nacht hat sie bei mir gewacht und ist nicht ein einziges Mal eingeschlafen.«

Lena errötete vor Freude über das Lob, das sie sehr überraschte, denn vor knapp einer Stunde hatte Helmut noch höchst verdrießlich behauptet, sie verstehe rein gar nichts.

Die Mutter drückte ihr die Hand. »Mein gutes Kind,« sagte sie liebevoll.

»Also, die Lena kann, wenn sie will! Das freut mich,« sagte Vater, der inzwischen auch eingetreten war, und nickte ihr zu.

Wie glücklich fühlte sich Lena, mit welcher Erleichterung legte sie aber doch die ungewohnten Pflichten in der Mutter Hände!

Am nächsten Tage fand sich ein stilles Stündchen für Mutter und Tochter.

»Ich bin sehr froh, daß ich dem Vater nachreiste,« begann die Frau Professor. »Nun konnten wir gleich mit Tante Marie beraten, wie sie sich ihr ferneres Leben einrichten will.«

»Müssen Ilse und Anna gleich von Hause fort?«

»Nein, beide sind noch zu jung dazu. Die Tante hat sich entschlossen, junge Mädchen aufzunehmen und mit den eigenen Töchtern zusammen wirtschaftlich auszubilden; nachmittags können sie außerdem noch in verschiedenen Fächern unterrichtet werden. Der Vater hat gleich Anzeigen an vielgelesene Zeitschriften geschickt und Tante Marie hat gute Empfehlungen; so hoffen wir, daß sich schon zu Ostern einige junge Mädchen finden. Als erste haben wir unsere liebe Lena angemeldet; was sagst du dazu?«

»Mutter?« Lena war aufgesprungen, dunkelrot. »Ich soll fort? Ich habe mir doch die ganze letzte Zeit riesig Mühe gegeben, dir alles möglichst zu Dank zu machen!«

Die Mutter zog sie dicht zu sich heran. »Es soll auch keine Strafe sein, Lena. Ich habe mich im Gegenteil wirklich herzlich über dich gefreut; der Entschluß, dich fortzugeben, ist dem Vater und mir auch sehr schwer geworden. Wir sind aber zu der Einsicht gekommen, daß es gut für dich ist, eine andere Häuslichkeit kennen zu lernen; zugleich möchten wir der Tante ein wenig beistehen. Sie ist uns auch sehr dankbar, und alle freuen sich sehr auf dich. Denke nur, wie nett das Lernen mit den Cousinen sein wird!«

Lena erwiderte nichts; die Überraschung war zu groß.

»Laß gut sein, Maus,« tröstete der Vater sie später. »In den Sommerferien kommen wir alle nach Wernigerode, und Weihnachten verlebst du zu Hause, das haben wir gleich mit der Tante verabredet.«

Lena lächelte und je mehr sie sich die Sache überlegte, desto mehr wich ihre Betrübnis. Ja, schließlich fing sie sogar an, sich auf das Jahr bei der Tante zu freuen.

Unmittelbar nach Helmuts Unfall erhielt Erwin die Mitteilung, daß er als Assistenzarzt für Südwestafrika angenommen sei. Da er sich dem nächsten Truppentransport anschließen mußte, blieb ihm kaum Zeit, seine Angelegenheiten zu ordnen.

Nur einmal noch weilte er gemütlich bei den Freunden; dann hieß es scheiden.

Lena wäre am liebsten davongelaufen, jedes Abschiednehmen war ihr entsetzlich. Sie nickte stumm, als Erwin fragte, ob er ihr schreiben dürfe.

»Der Herr behüte Sie, Fräulein Lena,« sagte er herzlich, »und schenke uns ein frohes Wiedersehen!«

»Gott sei mit Ihnen,« flüsterte sie, dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloß.

Nun kamen ihr befreiende Tränen.

»Ach, Mutter,« rief sie, »es ist schon schrecklich, wenn ein Unbekannter in den Krieg zieht, und er ist doch mein Freund!«

Die Mutter strich der Tochter liebevoll über das Haar und sprach ihr beruhigend zu.

Zwei Tage später reiste Lena in des Vaters Begleitung nach Wernigerode zu Tante Marie. Ihre Augen sahen sehr ernst drein. Sie fühlte, daß die sonnige, sorglose Kinderzeit hinter ihr lag und ein neuer Lebensabschnitt für sie begann. Was würde er ihr bringen? Das Herz wollte ihr bange werden bei diesen Gedanken. Die Sonne schien jedoch so hell und verlockend, mit so bezwingendem Glanz, daß alle düsteren Schatten, die ihr aus der Zukunft entgegentreten wollten, bald wie Nebelgebilde zerstoben.


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