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Klärchens Talent

»Bernd, weißt du nicht, wo Lena ist?« fragte Anna eines Nachmittags, zu ihm auf den Balkon tretend. »Mutter will mit der Handarbeitstunde beginnen, aber Lena ist nirgends zu finden.«

Bernd sah von seinem Buche auf. »Hier war sie nicht, doch – ich habe gesehen, wie sie vorhin – es schlug gerade halb zwei – die Zeitung aus der Stube holte.«

»Wo kann sie aber mit der Zeitung geblieben sein?«

Kopfschüttelnd verließ Anna das Zimmer und suchte noch einmal Haus, Hof und Garten ab, jedoch nirgends entdeckte sie Lena. Schon wollte sie die Mutter benachrichtigen, da fiel ihr noch der Boden ein. Es war ja kaum anzunehmen, daß Lena dort sein könne, aber immerhin ...

Dort oben gab es noch zwei Giebelstuben. Die rechts war verschlossen, von der zweiten links aber stand die Tür nur angelehnt.

Anna überschritt schnell den Boden und zog die Tür behutsam auf. Richtig, da am Fenster saß Lena, vor sich auf einem Tischchen die Zeitung, den Kopf in beide Hände gestützt, völlig vertieft.

»O, Lena,« sagte Anna vorwurfsvoll, »so hintergehst du unsere gute Mutter? Wir sollen doch keine Romane lesen, die sie uns nicht selbst gibt.«

Lena wandte den Kopf und sah die Cousine an, als komme sie geradeswegs vom Monde.

»Romane?« fragte sie dann und strich sich über die Stirn. »Du glaubst doch nicht, daß ich so etwas tue?«

»Ja – was studierst du denn da mit solcher Hingebung, daß du ganz weg bist?«

»Die Nachrichten vom Kriegschauplatz. Ich muß doch wissen, wie es in Südwest aussieht. Nimm es nicht übel, Maus, aber jetzt machst du ein so wundervoll dummes Gesicht, daß ich lachen muß.«

»Ja – weshalb mußt du dazu hier oben sitzen? Interessiert es dich so brennend, was in Afrika geschieht?«

»Natürlich.« Lena stand auf und faltete die Zeitung zusammen. »Doch das verstehst du nicht, Maus,« schloß sie und eilte an ihr vorüber.

»Du sollst zur Handarbeitstunde kommen, Lena,« rief Anna ihr nach und ging langsam hinterher.

Einige Minuten nach ihr erschien Lena im Eßzimmer, wo die Unterrichtstunden stattfanden. Die Tür zum Balkon stand weit geöffnet, so daß Bernd an der Unterhaltung teilnehmen konnte. Alle Köpfe hoben sich bei Lenas Eintritt. Sie errötete.

»Verzeihe, Tante Marie, ich hatte mich völlig vergessen,« sagte sie und nahm ihren Platz ein.

»Wo warst du denn, Herz, und wo hast du deine Arbeit?« fragte die Tante.

Verwirrt sah Lena sich um, fuhr dann lebhaft auf, daß der Stuhl zurückflog, schoß zur Tür hinaus und warf diese mit einem Krach hinter sich zu.

»Das ist deine rassige Lena,« flüsterte Anna Ilse zu.

»Das ist sie auch! Ich habe sie sehr gern, nur solchen Lärm sollte sie nicht machen.«

Geraume Weile verstrich, ehe Lena zurückkam. »Ich konnte meine Arbeit nicht finden,« murmelte sie verlegen.

»In Zukunft legst du sie dir vor der Stunde zurecht, es geht sonst zu viel Zeit verloren,« entgegnete Tante Marie freundlich. »Und dann, mein Herz, laß die Tür nicht los, ehe du sie geschlossen hast. Bernd erschrickt leicht bei heftigen, unerwarteten Geräuschen.«

Lena wurde blutrot und preßte die Lippen fest aufeinander.

»Nun, Dodo, hast du schon etwas fertig?« wendete sich die Hausfrau an diese, die neugierig nach Lena hinsah.

»Tante, einen Fingerlang hab' ich gesäumt, mehr nicht. Wer in aller Welt soll denn dieses winzig kleine Hemd bekommen?«

»Irgend ein armes Kind. Ich habe viele alte Wäsche liegen, die verarbeiten wir nach und nach in dieser Weise. Dabei lernt ihr zuschneiden, einrichten und alte Sachen verwenden. Zu Weihnachten finden sich übergenug kleine Abnehmer. Das nächste Hemd schneidest du selbst zu.«

Dodo ließ vor Überraschung ihre Arbeit sinken. »Du glaubst doch nicht im Ernst, Tante, daß ich noch mehr als dieses Hemd bis Weihnachten fertig bekomme?«

»Das traue ich deinem Ehrgeiz allerdings zu und noch mehr sogar. Könnt ihr alle erst tadellos mit der Hand nähen, lernt ihr die Maschine gebrauchen. Das geht dann schneller.«

Dodo rutschte unruhig auf ihrem Stuhle umher. »Nimm es mir nicht übel, Tante,« begann sie kläglich, »ich bin aber recht enttäuscht. Ich dachte, wir würden entzückende Stickereien anfertigen und nun –« sie seufzte tief.

»Bei mir heißt es, von der Pike auf dienen, meine liebe Dodo,« erklärte ihr Frau Winterfeld heiter. »Könnt ihr erst richtig nähen, kommen feinere Handarbeiten an die Reihe. Je schneller ihr also das eine versteht, desto früher folgt das andere.«

»Lena, wo warst du eigentlich?« fragte Ilse.

Eine tiefe Falte erschien auf Lenas Stirn. »Ich habe gelesen,« entgegnete sie kurz.

»Lena hat die Nachrichten über Südwestafrika studiert. Sie interessiert sich sehr dafür,« erläuterte Anna, die der Cousine zu Hilfe kommen wollte.

»Hast du jemand bei den kämpfenden Truppen?« forschte Dodo neugierig.

»Ja,« entgegnete Lena nach einer kleinen Pause, »meinen Freund.«

»Deinen Freund? Wer ist denn das?« fragte Ilse verwundert.

»Oh, du hast einen Freund? Erzähle, Lena, erzähle,« rief Dodo aufgeregt.

Einen Augenblick kämpfte Lena mit sich. »Ja,« erklärte sie dann, »ich will es euch erzählen; aber wenn es einer von euch einfallen sollte zu lachen oder Bemerkungen zu machen, dann – dann –«

Da bog Tante Marie sich vor und griff nach ihrer Hand. »Du kannst ganz ruhig sein, liebes Kind,« sagte sie herzlich. »Einer Taktlosigkeit wird sich keines meiner Mädchen schuldig machen. Du darfst uns ohne Sorge von deinem Freunde erzählen.«

»Erwin Holm ist eigentlich meines Bruders Freund,« begann Lena. »Erst war ich unvernünftig eifersüchtig auf ihn, weil Hans so viel von ihm hält; aber später schlossen wir auch Freundschaft miteinander, eine richtige echte Freundschaft für das ganze Leben, er, Hans und ich. Erwin sprach dabei wunderschön und dann haben wir uns versprochen, unsere ganze Kraft einzusetzen, um tüchtige Menschen zu werden.« Sie hatte ihre Arbeit sinken lassen, ihre Augen glänzten.

»Ach, ich hätte dabei sein mögen,« rief Bernd vom Balkon aus.

»Ja, Berni, da hast du recht,« fiel Ilse begeistert ein. »Das wäre auch etwas für mich! Erzähle weiter von Erwin Holm, Lena!«

Sehr gern kam sie der Aufforderung nach. Alle Mädchen gerieten in helle Begeisterung, als sie hörten, daß der junge Mann sofort nach der Ablegung seines Examens in die Schutztruppe eingetreten und mit einem Truppentransport nach Afrika gegangen war.

»Nun werde ich die Nachrichten über Südwest auch täglich aufmerksam studieren,« erklärte Anna.

»Wie sieht er aus, dein Freund?« fragte Dodo.

Sie war etwas enttäuscht, daß er kein blonder, hünenhafter Cherusker sei, gab sich aber zufrieden, als Ilse entschieden erklärte, das sei wahrhaftig Nebensache, eine edle, tapfere Seele sei viel mehr wert.

»Ich weiß eigentlich gar nichts über den Krieg in Südwestafrika,« gestand Dodo.

»Aber ich,« ließ sich Bernd vernehmen. »Ilse, schiebe mich hinein, bitte, dann kann ich Dodo ausführlich darüber berichten.«

»Wie fein, Berni!« Eilig stand Ilse auf und holte den Bruder.

»Ich habe die Nachrichten aus Südwest von Anfang an mit Interesse verfolgt,« begann Bernd. »Herr Doktor Werner, mein früherer Lehrer, hat bei seinen gelegentlichen Besuchen eingehend mit mir über den Aufstand gesprochen, so daß ich euch einen regelrechten kleinen Vortrag halten kann.«

Aufmerksam lauschten die Mädchen, Dodo in höchster Verwunderung. Wie war es nur möglich, daß Bernd, bei seiner Jugend und ohne eine Schule besucht zu haben, so unheimlich gelehrt sprechen konnte, nicht allein über die Ursachen des Hereroaufstandes, sondern auch ziemlich genau über Land und Leute? Auch Lena hatte ihre Arbeit vergessen, völlig hingenommen hörte sie zu. Ja, als Bernd schwieg, wußte sie noch manches Interessante hinzuzufügen, so daß Ilse verwundert fragte, woher sie das alles wisse.

»Sobald ich erfuhr, daß Erwin sich melden wollte, habe ich mir alles, was ich an Büchern über Südwest auftreiben konnte, zusammengeschleppt und eingehend studiert,« entgegnete sie. »Ich mußte doch wissen, wie es in dem Lande ausschaut, in dem er sein Leben fürs Vaterland wagt.«

»Das war eine wirklich interessante Handarbeitstunde,« erklärte Ilse befriedigt, als sie ihre Arbeiten zusammenlegte. »Weißt du, Berni, du könntest uns öfter mal über irgend ein Land und seine Bewohner einen kleinen Vortrag halten, oder etwas vorlesen. Du hast ja gute kulturhistorische Werke. Nähen können wir dabei doch, und die Sache würde ein bißchen interessanter.«

Bernd sah fragend zur Mutter hin. Ermunternd nickte sie ihm zu. »Wenn du dich wohl genug fühlst, mein lieber Junge, würdest du uns allen sicher eine große Freude dadurch bereiten,« sagte sie.

»Ach ja, Bernd, tu es,« riefen die Mädchen bittend.

»Gern,« entgegnete er und eine frohe Genugtuung malte sich auf seinem Antlitz.

»Wie nett von dir,« rief Lena. »Ilse hat vollkommen recht; nun kann man sich immer auf die Handarbeitsstunden freuen.«

Bild: Richard Gutschmidt

»Ich habe die Nachrichten aus Südwestafrika von Anfang an mit Interesse verfolgt,« begann Bernd.

»Liebe Lena, es wird Zeit, an den Kaffee zu denken,« mahnte die Tante.

Eilig entfernte sich die Säumige. Anna ging ihr nach. »Soll ich dir ein wenig helfen?« fragte sie.

»Wenn du das wolltest, Maus! Ich bin mit all meinen Gedanken noch so völlig in Südwest, daß ich mich gar nicht recht sammeln kann.«

»Halt, Lena, du hast ja zu viel Bohnen aufgeschüttet, Verschwenderin! Wenn du in deiner Woche immer so wirtschaften willst, muß Mutter bald Konkurs anmelden.«

Sie lachten beide.

»Ein Glück, daß du gekommen bist, Maus, ich hätte einen Trank zurechtgebraut, den niemand ohne Schaden genießen könnte. O jeh, da kommen Kläre und Lisi schon!«

»Nur nicht aufregen, Lena, dann geht es gleich besser! Bleib du bei deinem Kaffee, das Brot besorge ich.«

In ruhiger Emsigkeit schnitt und bestrich Anna die Scheiben mit Mus. Die Uhr schlug gerade halb fünf, die gewöhnliche Kaffeestunde, als Lena auftragen konnte.

»Das danke ich dir, du gute Maus,« sagte sie herzlich.

Als letzte kam Ilse, frisch und noch sehr angeregt.

»Ilse,« rief Klärchen, die bei Bernd auf der Stuhllehne saß, »stell dir nur vor, ich werde deine und Bernds Kollegin!«

»Wieso, Kind?«

»Ich werde Malerin,« erklärte die Kleine feierlich.

Ilse zuckte nur die Achseln und setzte sich.

»Das glaubst du nicht? Oh, da höre nur erst mal zu! Herr Peters hat mir früher in der Zeichenstunde immer nur garstige Dinge zu zeichnen gegeben, Vasen, Köpfe und solches Zeug. Ich ging deshalb gar nicht gern in seinen Unterricht, und ihr alle sagtet ja immer, es sei sonderbar, daß ich gar nichts von Vaters Talent abbekommen hätte. Na und heute habe ich denn endlich einmal einen Baumschlag zeichnen dürfen. Ging das fein! Gar nicht aufgeschaut habe ich, und die Stunde war mir viel zu schnell aus. Herr Peters war dann sehr erstaunt, als er meine Zeichnung sah. Er hat gar nicht viel verbessert und sagte: ›Sieh mal an, Klärchen, du bist doch am Ende deines Vaters echte Tochter. Du sollst in Zukunft bei der Landschaft bleiben.‹ Und hier ist mein erster Baum! Bernd sagt, er sei gut.«

Sie legte ihr Heft mit der Zeichnung, einer schlanken, fein ausgeführten Birke, neben Ilse hin. Diese rührte eifrig in ihrem Kaffee und betrachtete das erste Kunstwerk ihrer Schwester mit kritischen Blicken.

»Recht niedlich, Kind,« sagte sie dann und schob das Heft beiseite. »Nach dem einen Baum kann man doch aber unmöglich ein Urteil fällen.«

»Das nicht,« ließ sich Bernd vernehmen. »Die Zeichnung verrät jedoch einen leichten, sicheren Strich und die Ausführung ist sehr sauber. Das mußt du zugeben, Ilse.«

»Nun ja,« entgegnete diese ungeduldig. »Es wird aber doch kein Mensch so töricht sein, das Kind auf Grund dieser belanglosen Zeichnung zur künftigen Künstlerin zu stempeln.«

»Nein, das stimmt, so töricht ist niemand,« mischte sich die Mutter ins Gespräch. »Es ist aber auch nicht nötig, Klärchen die unschuldige Freude an ihrer Zeichnung zu verderben.«

»Laß, Mutti,« sagte Klärchen, die betrübt an ihren Platz gegangen war, aber schon wieder fröhlich dreinschaute. »Wenn Ilse meine arme Birke auch nicht leiden mag, für mich ist sie ein Ereignis. Nicht, Dicke, wir haben uns sehr gefreut?«

Lisi ließ sich nicht weiter darüber aus. Sie hatte einen gesegneten Appetit und stopfte eine Schnitte nach der anderen in den Mund.

»Dickchen denkt: ›Eß ich, so eß ich; alles andere hat Zeit‹. Was, Lisi?« fragte Bernd neckend.

Strahlend über so viel inniges Verständnis, nickte die Gefragte ihm zu.

»Töchterlein, es ist dir alles gern gegönnt, aber stopfen darfst du nicht,« bemerkte die Mutter lächelnd.

»Ich bin es so gewohnt, Tante,« entschuldigte sich Lisi. »Bei uns zu Hause haben wir immer nicht viel Zeit zum Essen.«

»Aber hier hast du sie, Kind. Bei uns soll jede Mahlzeit auch eine Erholung sein.«

Eine rechte Stimmung wollte jedoch diesmal nicht aufkommen; alle sahen scheu nach der völlig verstummten Ilse, die, eine tiefe Falte zwischen den Brauen, nichts genoß und in ihre Tasse starrte. Sobald wie möglich verließ sie das Zimmer, ohne wie sonst den Bruder auf den Balkon zu schieben. Anna erwies ihm diesen Liebesdienst und legte ihm alles fürsorglich zurecht.

»Ich möchte Mutter sprechen,« bat er leise.

»Mutter,« flüsterte er, als sie sich über ihn neigte, »geh zu Ilse und sprich mit ihr. Sollte sie auf Klärchen neidisch sein?«

»Rege dich nicht auf, lieber Junge. Wer weiß, was sie hat! Ihre Stimmung wechselt ja leider sehr schnell.«

»Habe Geduld mit ihr! Sie leidet von uns allen am meisten unter dem herben Verlust. Sie war des Vaters Liebling.«

»Ich werde das nie vergessen, Bernd,« entgegnete Mutter ernst und stieg dann seufzend die Treppe hinauf.

Wie schwer war doch die Verantwortung für sie ohne ihn, der im kühlen Grabe ruhte, der die Erziehung der Kinder mit festen und doch gütigen Händen geleitet hatte!

Ilse stand am Fenster ihres Zimmers, als die Mutter eintrat, und starrte zu den Bergen hinüber, ohne freilich etwas von deren Schönheit zu sehen.

»Ist dir nicht wohl, Kind,« fragte Mutter liebreich, »oder willst du mir sagen, was dich bedrückt?«

»Muß ich denn Rechenschaft von jedem Gedanken ablegen?« entfuhr es Ilse unwillig.

»Das mußt du nicht. Ich dachte nur, es würde dir eine Erleichterung sein, wirst du indessen allein fertig, dann frage ich nicht weiter. Ich weiß ja auch, daß meine Tochter sich bemüht, ein edler, großdenkender Mensch zu werden.«

Sie wollte sich zum Gehen wenden, da schlang Ilse plötzlich beide Arme um sie.

»Mutter, das erreiche ich nie! Du ahnst ja nicht, wie weit ich davon entfernt bin!«

»Doch, mein Kind, ich weiß es ganz genau.« Liebevoll streichelte die Mutter den braunen Kopf, der sich fest an ihre Schulter preßte.

»Ich schäme mich unbeschreiblich,« stieß Ilse erregt hervor. »Ich wußte ja selbst nicht, daß ich so niedrig empfinden kann. Es kam aber so plötzlich – wer hätte je der Kleinen ein Talent zugetraut! Und gerade für Landschaften, was ich mir immer so brennend wünschte! Bernd gönne ich ja seine Begabung von Herzen, aber – wenn nun auch die Kleine einmal mehr leisten sollte als ich –« sie schluchzte laut auf und umfaßte die Mutter fester.

»Mein liebes Kind, es mag schwer für deinen Ehrgeiz sein, allmählich wirst du dich jedoch an den Gedanken gewöhnen müssen, falls in unserer Kleinen vielleicht des Vaters schönes Talent neu erstehen sollte. Vorläufig läßt sich das nach der einen Zeichnung noch gar nicht beurteilen.«

»Der Baum ist gut! Bernd hat recht und Kläre die richtige Empfindung, daß er ihr ›Ereignis‹ ist. Er führte sie auf die richtige Bahn. Du sollst sehen, wie schnell und sicher sie vorwärts geht! Ich allein bleibe zurück.«

»Das wäre nicht nötig, liebes Kind, wenn –«

»Mutter!« Ilse riß sich los und trat einen Schritt zurück. »Bitte, sprich das Wort nicht aus! Du kannst doch nicht im Ernst von mir verlangen, daß ich, während die beiden der Kunst leben –« Mit zuckenden Lippen wandte sie sich ab.

»Ich verlange das auch durchaus nicht von dir, mein Herz. Du sollst dir später selbst einen Beruf wählen nach deiner eigenen Neigung. Wenn ich die Ausbildung irgendwie erschwingen kann, wird es mir eine besondere Freude sein, selbst wenn ich Opfer bringen müßte. Und nun helfe dir der Herr in dem Kampfe, den du mit dir selbst auszufechten hast.« Sie drückte der Tochter die Hand. »Noch eins, mein liebes Kind. Der Vater hat mir einige Zeilen gegeben, die er während seiner Krankheit für dich schrieb.«

»Der Vater – an mich?« stammelte Ilse fassungslos.

»Ja, Liebling. Er hat mich gebeten, sie dir zu geben, wenn du so weit wärst, dich durch sie leiten zu lassen. Noch hast du die von ihm vorausgesetzte Reife nicht, daher möchte ich dir den Brief noch nicht einhändigen. Solltest du dir aber einmal keinen Rat wissen und auch Bernd und ich dir nicht helfen können, dann komme zu mir und ich will dir des Vaters Zeilen geben.«

Wie betäubt sank Ilse auf einen Stuhl, sobald sie allein war. Der Vater hatte noch an sie geschrieben, kurz vor seinem Tode? Deutlich sah sie ihn vor sich auf seinem Schmerzenslager, daß ihr das Herz fast brechen wollte. Der Liebe, Gute, noch nach seinem Tode wollte er ihr mit seinem Rate zur Seite stehen! Sie hätte der Mutter nacheilen und sich das teure Vermächtnis holen mögen, aber eine geheime Angst hielt sie zurück. Die Mutter hatte ja auch gesagt, sie habe die erforderliche Reife noch nicht erlangt, den Brief zu lesen. Vorläufig galt es nur, über die überraschende Erkenntnis von Klärchens Begabung hinwegzukommen. War sie wirklich so schlecht, daß sie die jüngere Schwester um ihr Talent beneidete? Was nur der Vater zu seiner Großen sagen würde, die einer so tadelnswerten Gesinnung fähig war!

Der Abend war bereits angebrochen, als sie herunterkam und den Bruder allein auf dem Balkon fand.

»Verachtest du mich, Bernd?« fragte sie mit zusammengezogenen Brauen.

»Nein, Schwesterherz, ich traure nur um dich.«

Das Wort traf ihren Stolz.

»Das sollst du nicht,« rief sie in ihrer alten Energie. »Ich will wacker kämpfen, Bernd, und – und mich allmählich an Kläres Talent zu freuen suchen.«

Kräftig drückte er ihr die Hand. »Jetzt bist du wieder meine Ilse, so wie ich dich kenne und liebe,« sagte er erleichtert. »Ach, ich bin so glücklich, auch über Kläre! Wenn sich unsere Hoffnung doch bewährte! Nach dieser einen Zeichnung kann man ja nicht urteilen, aber ich bin riesig gespannt, wie sie sich weiter entwickelt.«

Ilse nickte nur. Sie horchte nach dem Garten hinunter, von wo Klärchens fröhliches Lachen heraufklang. Glückliches Kind, dem voraussichtlich alle Kämpfe erspart blieben, dem der Lebensweg sonnenklar vorgezeichnet lag!

»Grüble nicht so viel, Ilse,« fuhr Bernd fort. »Du hast noch viel Zeit, ehe du dich entscheiden mußt. Wir vier haben uns ja doch auch untereinander das Wort gegeben, der Mutter das Leben zu erleichtern, so viel wir nur können. Es darf nicht dazu kommen, daß sie sich um eines von uns ernstliche Sorgen machen muß. Die Gute hat es ohne unseren Vater an sich schon schwer genug.«

»O Bernd, sprich nicht weiter!«

»Doch, Ilse, ich muß noch eins sagen. Sieh, da sind die jungen Mädchen; die sollen sich bei uns wohl fühlen. Ich bemerkte vorhin, daß das Eidechslein dich mit bangen Augen ansah. Nicht wahr, Schwesterherz, das darf nicht mehr vorkommen? Es erschwert unserer Mutter ihre Aufgabe. Ilse – was tust du?«

Sie war an seinem Stuhl niedergesunken und preßte ihr tränenüberströmtes Antlitz gegen seine Hand.

»O Berni, wie schlecht war ich doch! Wie bin ich klein gegen dich, du Guter!«

Mit zitternder Hand strich der Leidende ihr über das glänzende Haar. »Sprich nicht so, ich bitte dich, und sieh nichts Ungewöhnliches in meinen Worten! Wer, wie ich, immer in seinem Stuhle sitzt und dem bunten Treiben der anderen müßig zusehen muß, der wird leicht etwas nachdenklich. Auch darfst du nicht vergessen, wie lieb ich euch alle habe und wie ich keinen von euch traurig und bekümmert sehen möchte.«

Ilse erhob sich und trocknete ihre Tränen.

»Das sollst du auch nicht, Bernd, wenigstens nicht durch mich.«

Sie nickte ihm noch einmal innig zu und verließ leise den Balkon.

Am nächsten Mittag nach Tisch stieg sie die Treppe empor und ging in des Vaters Atelier, das er sich aus zwei hellen, luftigen, nach Norden gelegenen Zimmern hatte zurechtbauen lassen. Noch war dort alles unverändert. Auf seiner Staffelei, von einem Tuche verhüllt, stand sein letztes, nicht ganz vollendetes Gemälde.

Ilse hatte nach des Vaters Tode den Raum nur einmal betreten, damals, als sie in stiller Verzweiflung die eigene Staffelei samt ihren Studienblättern beiseite geräumt hatte. Seit gestern zog es sie aber unwiderstehlich hierher.

Auf den Zehen, als könnten ihre Schritte jemand stören, schlich sie zu des Vaters Staffelei und hob vorsichtig das Tuch. Ein Zucken flog ihr über das Antlitz und Tränen stürzten ihr aus den Augen. Die Hände gefaltet, ganz versunken in Schauen, stand sie regungslos da.

Das Gemälde stellte eine Winterlandschaft dar. Die Tannen beugten sich unter einer Last von Schnee, unter dem stellenweise ein grünes Spitzlein siegreich hervorschaute. Zur Linken sah man einen kleinen zugefrorenen Weiher, daneben ein Häuschen mit hell erleuchteten Fenstern. Das Licht warf seinen rötlichen Schein über den Schnee und über ein Stückchen des Weihers. Aus dem Walde traten zwei Rehe und äugten nach dem Hause hinüber. Die andere Hälfte des Bildes war nicht ganz fertig geworden und doch zeigte sich hier die größte Eigenart des Malers. Ein goldiger Glanz, der von dem schon abendlichen Himmel durch die Bäume schimmerte, verklärte die Landschaft und zauberte warmes Leben darüber hin, nur leicht angedeutet, nicht völlig ausgeführt. Der tote Künstler hatte es niemals lassen können, selbst der starresten, ödesten Einsamkeit einen versöhnenden Stempel aufzudrücken, sei es durch einen vereinzelten Sonnenstrahl, sei es durch eine unaufdringlich wirkende Blume. Eine freudige Bejahung des Lebens, ein Hinweis auf die nie ersterbende Hoffnung selbst im tiefsten Schweigen sprach sich sieghaft in allen seinen Werken aus.

Wie oft hatte Ilse, förmlich berauscht vor Stolz und Freude, das in glänzenden Besprechungen über des Vaters Gemälde gelesen. Das Herz wollte ihr fast brechen vor Weh um ihn. Wie war es nur möglich, daß sie schon wieder hatte scherzen und lachen können? Der Schmerz faßte sie wieder wie in der ersten schweren Zeit nach seinem Tode. Weshalb nur war sie hier heraufgekommen? Ja so, sie wollte das eigene Talent an dem des Vaters prüfen!

Sie holte ihre Staffelei, stellte sie neben die des Verstorbenen und ihr letztes noch aufgespanntes Studienblatt darauf. Mit kritischen Blicken prüfte sie es. Eine Girlande von rosa Winden war es, leicht und geschmackvoll auf das Papier hingeworfen, fein und zart gemalt. Die Arbeit hatte dem Vater noch große Freude bereitet und sein Lob errungen. Sie erinnerte sich, wie unsagbar stolz sie darüber gewesen war, und daß sie gefragt hatte: »Weshalb läßt du mich nicht Landschaften malen, Vater?« Da hatte er gelächelt, sie mit den leuchtenden Augen liebevoll angesehen und gesagt: »Weil das deiner Art nicht entspricht, Große!« Ja, was entsprach dann ihrer Art?

Nachdenklich holte sie ihre Mappe und besah die einzelnen Blätter eingehend. Da waren Vasen in allen möglichen Größen und Formen, von der antiken bis zur modernen, selbsterfundene Arabesken und duftige Blumengewinde. Auf den Ranken saßen hier Putten und bliesen einem Käferchen auf der Flöte vor; dort lugte ein winziges Gesicht neckisch aus einem Blumenkelch, umgaukelt von schillernden Schmetterlingen. Alles anmutige Sachen und für ein so junges Mädchen bedeutende Leistungen, das erkannte Ilse recht gut, aber sie sah auch, daß ihr Können niemals an das des Vaters heranreichen würde. Sie vergaß, daß ihr Talent noch lange nicht zur Reife gebracht war, sie fühlte nur, daß dies alles nichts sei als eine anmutige Spielerei. Sie wußte nicht, wie sehr sie ihre Eigenart unterschätzte, sie empfand die herbste Enttäuschung. Mit einer heftigen Gebärde warf sie die Blätter in die Mappe zurück und trat nochmals vor des Vaters Staffelei.

Da wurde die Tür behutsam geöffnet, Klärchen trat ein.

»Was willst du hier?« herrschte Ilse sie unwillig an.

Langsam kam die Schwester näher, schob ihren Arm in den Ilses und schmiegte sich an sie.

»Ich hatte solche Sehnsucht nach Väterchens letztem liebem Bild,« entgegnete sie halblaut. »Ging es dir auch so, Ilse?«

Sie erhielt keine Antwort und betrachtete nun die Landschaft mit hellen, klaren Augen, die von keiner Träne verdunkelt wurden.

»Das muß mal eine von uns fertig malen, eine fremde Hand darf nicht daran rühren,« sagte sie ernst.

Bild: Richard Gutschmidt

»Das muß mal eine von uns fertig malen, eine fremde Hand darf nicht daran rühren.«

»Willst du es vielleicht?« fragte Ilse grollend.

»Ach, wenn ich mal so weit käme!«

Klärchen sah strahlend auf, und Ilse war aufrichtig verblüfft.

»Du bist unglaublich naiv,« murmelte sie und sah die jüngere Schwester an, als sei sie ihr vollständig fremd.

Klärchen beachtete das nicht weiter. Ihre Augen hingen in freudigem Glanz an dem Gemälde. »Muß das herrlich sein, so schöne Bilder malen zu können! Wäre ich doch erst so weit! Ich konnte gestern abend gar nicht einschlafen. Siehst du, Ilse, darum mußte ich auch heute zu Väterchens Bild kommen.«

»So glaubst du felsenfest an dein Talent?« fragte Ilse.

»Ja.«

Weiter sagte sie nichts, als dies eine kleine Wort, es klang aber so fest, als könne nicht daran gerüttelt und gerührt werden. Sprach das Genie aus ihr oder war es nur die lebhafte Phantasie, die sie begeisterte und ihr eine schöne Zukunft vortäuschte?

Nun fuhr sie hastig herum. »Ich muß ja zur Turnstunde! O jeh, ich komme gewiß zu spät.« Fort war sie.

Still räumte Ilse ihre Sachen beiseite, verhüllte das Gemälde wieder und verließ das Atelier. Da hörte sie die Mutter ihren Namen rufen und ging hinab.

»Es sind notwendige Besorgungen in der Stadt zu erledigen, Kind, willst du gehen, oder soll ich Sophie schicken?«

»Ich gehe gern, Mutter.«

»Das dachte ich mir und es ist mir auch lieb. Niemand versteht so gut und billig einzukaufen wie meine Zweite.«

Ilse bemühte sich, der Mutter freundliches Lächeln zu erwidern, es fiel aber recht kläglich aus.

In Gedanken versunken durchwanderte sie dann die Straßen und wäre an einer Ecke fast mit einer Altersgenossin zusammengeprallt. Mit einer Entschuldigung wollte jede ihren Weg fortsetzen, sie riefen aber fast gleichzeitig: »Ilse – du? – Trude Welzin?« Lachend schüttelten sie sich die Hände und fragten nach dem Woher und Wohin.

»Ich begleite dich ein Stückchen,« erklärte Gertrud dann und schritt neben der Schulfreundin her.

Sie waren nie in derselben Klasse gewesen, denn Gertrud zählte erst fünfzehn Jahre, aber sie hatte Anna und Ilse bei des Vaters Tode eine so warme Teilnahme bewiesen, daß sich die Mädchen in der schweren Zeit nähergetreten waren. Gertrud konnte am besten den Schmerz der Schwestern ermessen, denn sie hatte den eigenen Vater vor drei Jahren verloren und war mit der Mutter in mäßigen Verhältnissen zurückgeblieben.

Als Postsekretärswitwe bezog Frau Welzin keine so große Pension, um alles bestreiten zu können, zumal gar kein Vermögen da war. Im Sommer vermietete sie, um der Tochter eine gute Erziehung zu geben, ihre kleine Wohnung an Sommergäste und beschränkte sich mit Gertrud mehr im Raum, als für beider Gesundheit gut war. Erlaubte es ihre Zeit, nähte sie auch noch Schürzen und Kinderkleider für ein Geschäft.

»Wie geht es bei euch, Gertrud?« erkundigte sich Ilse.

»Mir recht gut, wie du siehst, aber die Mutter hat Sorgen, weil die Wohnungsnachfragen sehr spärlich einlaufen. Eine einzige Dame hat erst für den August gemietet.«

»Es ist ja auch noch früh im Jahre,« tröstete Ilse.

»Das Wetter ist aber schön und beständig, und es rücken schon die ersten Gäste ein. Die Sache ist die, daß die Fremden nicht mehr in der Stadt wohnen wollen, sondern draußen und womöglich hoch. Die Mutter meint, sie müsse sich doch wohl entschließen, zum nächsten Frühling umzuziehen.«

»Wenn ihr dann besser vermietet, wäre es ja auch sehr praktisch,« sagte Ilse beistimmend.

»Das sagst du wohl, und ich dachte es auch, es hat aber doch seine Schwierigkeiten. Das wirst du gleich begreifen, wenn ich dich frage: würde deine Mutter sich entschließen, ein Stockwerk an jemand abzugeben, der die Zimmer an Sommergäste weiter vermieten will?«

»Bewahre, das würde Mutter gewiß nicht tun! Wir brauchen unser Haus doch aber auch selbst.«

»Siehst du, so geht es jedem Hausbesitzer da draußen. Sollte Mutter aber wirklich eine Wohnung finden, dann müßte sie eine sehr hohe Miete zahlen, noch Möbel anschaffen und sich in Unkosten stürzen. Das soll sie meinetwegen nicht tun. Da ist es das einfachste, ich verlasse zu Ostern die Schule –«

»Trude, du wolltest doch das Examen machen und Lehrerin werden!«

»Ja, es ist mein ganzer Herzenswunsch. Ich liebe Kinder sehr und würde ihnen mein Bestes geben, aber Mutter darf nicht darunter leiden, daß ich den Plan verwirkliche. Ich habe mir alles reiflich überlegt; ich werde Buchhalterin.«

»Arme Trude! Dafür hast du, soviel ich weiß, noch nie geschwärmt.«

»Leicht wird es mir nicht, und die Mutter will vorläufig auch nichts davon wissen, sie meint, die Einnahme könne trotz der schlechten Aussichten noch recht gut werden. Aber besser ist es doch, sie kommt so bald als möglich aus den ewigen Sorgen heraus. Sie strengt sich über ihre Kräfte an. Und hier trennen sich unsere Wege, adieu, Ilse, grüße deine Anna.«

»Adieu, Trude! Besuche uns einmal, ich würde mich wirklich sehr freuen.«

Gertrud nickte und Ilse schritt allein weiter. Die hatte es auch nicht leicht, die Trude, und dabei war sie so tapfer! Wie eng waren die Schranken doch den meisten Menschen gezogen, wie unsagbar eng! Das hatte sie früher nicht so empfunden, da hatte sie die meisten Leute für glücklich gehalten. Glück und enge Schranken aber schienen nicht vereinbar, mit diesem Urteil war Ilse schnell fertig.


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