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Das elfte Kapitel
Die Schule für Heuchler

DIES sind die fälschlichen Beschuldigungen; die Beschuldigung des Klassizismus, die Beschuldigung der Grausamkeit und die Beschuldigung einer Exklusivität, die auf Vorzüglichkeit der Abstammung gegründet ist. Englische Public Schoolbuben sind keine Pedanten, sie sind keine Peiniger und sie sind, in der großen Mehrzahl der Fälle, weder Leute, die auf ihre Ahnen wütend stolz wären, noch auch nur Leute, die überhaupt Ahnen haben, auf die sie stolz sein könnten. Man lehrt sie, höflich sein, gut gelaunt sein, tapfer sein im körperlichen Sinn, sauber sein im körperlichen Sinn, sie sind gegen Tiere gewöhnlich gut, gegen Dienstboten gewöhnlich freundlich, und gegen jedermann, der in irgend einem Sinne ihresgleichen ist, die fröhlichsten Gesellschafter von der ganzen Welt. Ist dann überhaupt etwas nicht recht an dem Public-Schoolideal? Ich glaube, wir alle fühlen, daß etwas daran ganz und gar nicht recht ist, aber ein blendendes Netzwerk von Zeitungsphraseologie verdunkelt und verwirrt uns, sodaß es schwer ist, den Anfang zu finden, jenseits aller Worte und Phrasen – die Fehler in diesem großen englischen Werke.

Wenn alles gesagt worden ist, bleibt sicherlich die letzte Einwendung gegen die englische Public School, ihre über alle Maßen schreiende und unanständige Mißachtung der Pflicht, die Wahrheit zu sagen. Ich weiß, daß auf abgeschiedenen Landsitzen unter jungfräulichen Damen noch immer die Vorstellung lebt, man lehre englische Schulbuben die Wahrheit zu sagen, aber das kann nicht einen Augenblick lang ernstlich behauptet werden. Nur ganz gelegentlich und nur ganz vage sagt man englischen Schulbuben, daß sie nicht lügen sollen, was aber etwas Grundverschiedenes ist. Ich kann stillschweigend alle schmutzigen Fiktionen und Lügen des Weltalls unterstützen, ohne auch nur ein einziges Mal eine Lüge zu sagen. Ich kann eines anderen Mannes Mantel tragen, den Witz eines anderen Mannes stehlen, zum Glauben eines anderen Mannes übertreten, oder eines anderen Mannes Kaffee vergiften – alles, ohne jemals eine Lüge auszusprechen. Aber niemals lehrt man einen englischen Schulbuben die Wahrheit zu sagen; aus dem sehr einfachen Grunde, weil man ihn niemals gelehrt hat, nach Wahrheit zu streben. Von allem Anfang an lehrt man ihn, gar nicht darauf zu achten, ob eine Tatsache auch wirklich eine Tatsache sei; man lehrt ihn nur, darauf zu achten, ob die Tatsache für seine »Seite« ausgenützt werden kann, wenn er gerade »das Spiel spielt«. Er nimmt in seinem Uniondiskutierklub mit derselben feierlichen und pompösen Frivolität Partei, um festzustellen, ob Karl 1. hätte getötet werden sollen, mit der er auf dem Cricketplatz Partei nimmt, um zu entscheiden, ob Rugby oder Westminster gewinnen soll. Er darf niemals einen abstrakten Schimmer der Wahrheit zugeben, daß bei der Spielpartie die Frage sei, was geschehen mag, während bei Karl 1. die Frage ist, was geschehen oder nicht geschehen ist. Er ist bei den allgemeinen Wahlen Liberaler oder Tory genau so, wie er Oxford oder Cambridge ist beim Wettrudern. Er weiß, daß man beim Sport mit dem Ungewissen rechnen muß; er hat nicht einmal eine Ahnung davon, daß man in der Politik mit dem Wissen rechnen sollte. Wenn irgend jemand an dieser selbstverständlichen Behauptung wirklich zweifeln sollte, daß nämlich die Public-Schools die Wahrheitsliebe bestimmt entmutigen, so gibt es eine Tatsache, die ihn, glaube ich, überzeugen wird. England ist das Land des Parteisystems und ist immer hauptsächlich von Public-Schoolleuten regiert worden. Gibt es nun irgend jemanden, außerhalb Hanwell, der behaupten wollte, daß das Parteisystem, was immer auch seine Vorteile oder Nachteile sein mögen, von Leuten hätte geschaffen werden können, die besonders wahrheitsliebend wären?

Sogar die englische Glückseligkeit ist in diesem Punkte eine Heuchelei. Wenn ein Mensch wirklich die Wahrheit sagt, ist die erste Wahrheit, die er sagt, die, daß er selbst ein Lügner sei. David sagte in der Eile, das heißt in seiner Ehrlichkeit, daß alle Menschen Lügner seien. Erst nachträglich geschah es, in irgend einer überlegten, offiziellen Erklärung, daß er sagte, die Könige Israels zumindest sprächen die Wahrheit. Als Lord Curzon Vizekönig war, hielt er den Indern einen moralischen Vortrag über ihre vermeintliche Gleichgültigkeit gegen Wahrhaftigkeit, Wirklichkeit und intellektuelle Ehre. Sehr viele Leute erörterten empört die Frage, ob Orientalen es verdienten, solchen Vorwurf zu erhalten; ob Inder wirklich in der Lage wären, eine so strenge Ermahnung zu erhalten. Niemand schien zu fragen, wie ich mich erdreisten möchte zu fragen, ob Lord Curzon in der Lage war, sie zu erteilen. Er ist ein gewöhnlicher Parteipolitiker; ein Parteipolitiker ist ein Politiker, der jeder Partei hätte angehören können. Als solcher muß er wieder und immer wieder bei der Drehung und Wendung der Parteistrategie entweder andere oder sich selbst gröblich getäuscht haben. Ich kenne den Osten nicht, und das, was ich kenne, liebe ich nicht. Ich will gerne glauben, daß Lord Curzon, als er hin kam, eine sehr falsche Atmosphäre fand. Ich sage nur, daß es etwas überraschend und würgend Falsches gewesen sein muß, wenn es falscher war als jene englische Atmosphäre, aus der er kam. Das englische Parlament kümmert sich tatsächlich um alles, nur nicht um Wahrhaftigkeit. Der Mann, der eine Public-School besucht hat, ist freundlich, mutig, höflich, sauber, gesellig – aber im wahrsten Sinne des Wortes – Wahrheit ist nicht in ihm.

Diese Schwäche der Unwahrhaftigkeit in den englischen Public-Schools, im politischen System Englands, und bis zu einem gewissen Grade, im englischen Charakter, ist eine Schwäche, die notwendigerweise eine merkwürdige Ernte sät, von Aberglauben, lügnerischen Legenden, augenscheinlichen Täuschungen, an die man sich durch niedriges, geistiges Sich gehenlassen klammert. Es gibt so viele solcher Public-Schoolaberglauben, daß ich hier nur Raum für einen habe, der der Seifenaberglaube genannt werden kann. Es scheint, daß er von den Waschungspharisäern geteilt worden ist, die den englischen Public-Schoolaristokraten in so manchen Hinsichten gleichen: in ihrer Vorliebe für Klubregeln und Traditionen, in ihrem beleidigenden Optimismus auf Kosten anderer Leute und vor allem in ihrem phantasielosen, mühsamen Patriotismus für die übelsten Interessen ihres Landes. Nun ist der Sinn des Waschens, nach altem gesunden Menschenverstand, daß es ein großes Vergnügen ist. Wasser (äußerlich angewendet) ist eine herrliche Sache wie Wein. Sybariten baden in Wein und Nonkonformisten trinken Wasser; aber wir wollen uns nicht mit diesen wahnsinnigen Ausnahmen beschäftigen. Da nun Waschen ein Vergnügen ist, erscheint es vernunftgemäß, daß reiche Leute sich's eher leisten können als arme, und solange dies anerkannt wurde, war alles in Ordnung; und es war sehr richtig, daß reiche Leute armen Leuten Bäder geben sollten, so wie sie ihnen irgend eine andere angenehme Sache geben mochten – ein Getränk oder einen Eselsritt. Aber eines schrecklichen Tages, so um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, entdeckte jemand (jemand in hübsch guten Verhältnissen) die beiden großen, modernen Wahrheiten, daß Waschen eine Tugend der Reichen und darum eine Pflicht der Armen sei. Denn eine Pflicht ist eine Tugend, die man nicht erfüllen kann. Und eine Tugend ist gewöhnlich eine Pflicht, die man ganz leicht erfüllen kann; wie die körperliche Sauberkeit der oberen Klassen. Aber in den öffentlichen Public-Schooltraditionen des öffentlichen Lebens ist Seife einfach bloß darum ehrenvoll geworden, weil sie angenehm ist. Man stellt die Bäder als Zeichen des Verfalls des römischen Kaiserreiches dar; aber dieselben Bäder werden als Zeichen der Energie und Verjüngung des britischen Kaiserreiches dargestellt. Es gibt hervor ragende Public-Schoolleute, Bischöfe, Würdenträger, Rektoren und hohe Politiker, die im Laufe der Lobreden, die sie von Zeit zu Zeit über sich selbst halten, physische Sauberkeit tatsächlich mit moralischer Reinheit identifiziert haben. Sie sagen (wenn ich mich recht erinnere), daß ein Public Schoolmensch innen und außen rein sei. Als ob nicht jedermann wüßte, daß Heilige es sich zwar erlauben können, schmutzig zu sein, Verführer jedoch sauber sein müssen. Als ob nicht jedermann wüßte, daß eine Hure sauber sein müsse, weil es ihr Geschäft ist zu bestricken, während ein braves Weib schmutzig sein darf, weil es ihr Geschäft ist zu säubern. Als ob wir nicht alle wüßten, daß, wann immer Gottes Donner über unseren Häuptern kracht, man den einfachsten Mann höchstwahrscheinlich auf einem Mistwagen und den kompliziertesten Spitzbuben im Bade finden wird.

Es gibt natürlich noch andere Beispiele dieses schmierigen Tricks, die Freuden eines Gentleman zu Tugenden eines Anglosachsen zu machen. Sport ist wie Seife etwas Wundervolles, aber wie Seife ist er etwas Angenehmes. Und es ist nicht die Summe aller sterblichen Verdienste, ein Sportsmann zu sein, der in einer Welt »sein Spiel spielt«, in der es so oft notwendig ist, ein Arbeitsmann zu sein, der die Arbeit tut. Jedenfalls darf sich ein Gentleman Glück wünschen, daß er nicht alle natürliche Liebe für das Vergnügen verloren hat, wie andererseits der »Blasierte oder der Unkindliche«. Aber wenn man die kindliche Freude hat, ist es das beste, auch die kindliche Unbewußtheit zu haben; und ich glaube nicht, daß wir besondere Vorliebe für den kleinen Knaben hätten, der unaufhörlich erklärte, daß es seine Pflicht wäre, Verstecken zu spielen, und eine seiner Familientugenden, sich im Katze- und Mausspielen hervorzutun.

Eine andere derartige aufreizende Heuchelei ist die oligarchische Haltung gegen die Bettelei, wie gegen organisierte Wohltätigkeit. Hier abermals, wie im Falle der Reinlichkeit und der Athletik, wäre die Haltung vollkommen menschlich und verständlich, würde sie nicht als Verdienst hingestellt. Das Einleuchtende an der Seife ist, daß sie eine Annehmlichkeit ist, genau so, wie das Einleuchtende an Bettlern ist, daß sie eine Unannehmlichkeit sind. Die Reichen verdienten gewiß nur geringen Tadel, wenn sie einfach sagten, daß sie niemals direkt mit Bettlern zu tun hätten, weil es in der modernen großstädtischen Zivilisation unmöglich sei, direkt mit Bettlern zu tun zu haben; oder wenn nicht unmöglich, doch zumindest sehr schwer. Aber diese Leute verweigern den Bettlern das Geld nicht aus dem Grunde, weil solche Wohltätigkeit schwer ist.

Sie verweigern es aus dem arg heuchlerischen Grunde, daß solche Wohltätigkeit leicht sei. Sie sagen mit groteskem Ernste: »Jedermann kann die Hand in die Tasche stecken und einem armen Mann einen Pfennig geben; aber wir, wir Philanthropen, gehen nach Hause und brüten und grübeln über des armen Mannes Sorgen, bis wir genau herausgefunden haben, in welches Gefängnis, in welche Besserungsanstalt, in welches Arbeits- oder Irrenhaus er wohl am besten ginge.«

Dies ist alles pure Lüge! Sie brüten nicht über den Mann, wenn sie nach Hause gehen, und wenn sie es täten, würde es an der Tatsache nichts ändern, daß der Grund, weshalb sie Bettler zu entmutigen trachten, ein durchaus vernünftiger sei, daß nämlich Bettler eine Belästigung sind. Man kann es einem Manne leicht verzeihen, diesen oder jenen zufälligen Akt der Wohltätigkeit versäumt zu haben, insbesondere, wenn die Frage so überaus schwierig und zweifelhaft ist, wie im Falle der Bettelei. Aber es liegt etwas ganz verdammt Pecksniffmäßiges darin, sich vor einer schweren Aufgabe unter dem Vorwande zurückzuziehen, daß sie nicht schwer genug sei. Wenn irgend jemand wirklich versuchen wollte, mit den zehn Bettlern zu sprechen, die an seine Türe kommen, würde er bald herausfinden, ob das wirklich so viel leichter sei als die Arbeit, einen Scheck für ein Hospital zu schreiben.


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