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Das neunte Kapitel
Die Geschichte von Hudge und Gudge

Nehmen wir an, es gebe eine schmierige Gaunerherberge in Hoxton, triefend von Schmutz und Krankheit, vollgestopft mit Verbrechen und in tierischer Gemeinschaft lebenden Menschen. Nehmen wir an, es gebe zwei edle und mutige junge Männer von reinster Gesinnung und (wenn ihr das vorzieht) edler Geburt; wir wollen sie Hudge und Gudge nennen. Hudge, nehmen wir an, ist ein tatkräftiger Mann; er weist nach, daß die Leute um jeden Preis aus dieser Höhle herausgebracht werden müssen; er zeichnet und sammelt Gelder; aber er erkennt bald (ungeachtet der großen finanziellen Beteiligung der Hudges), daß die Sache wohlfeil gemacht werden müsse, wenn sie sofort gemacht werden soll. Er läßt daher schnell eine Reihe großer kahler Zinskasernen zusammenzimmern, gleich Bienenstöcken, und hat bald alle die armen Leute in ihre kleinen Ziegel-Zellen verstaut, die sicherlich besser sind als ihre alten Quartiere, insofern sie wettersicher, gut gelüftet und mit reinem Wasser versorgt sind. Aber Gudge ist von empfindsamerer Natur. Er fühlt, daß ein namenloses Etwas in den kleinen Ziegel-Zellen fehlt; er erhebt zahllose Einwände; er greift sogar den berühmten »Hudge-Bericht« mit seinem »Gudge-Minoritäts-Bericht« an; und nach einem Jahre ungefähr ist es so weit gekommen, daß er dem Hudge leidenschaftlich erklärt, die Leute wären dort, wo sie früher waren, viel glücklicher gewesen. Da die Leute aber an beiden Orten genau dieselbe Miene verschüchterter Freundlichkeit zeigen, ist es sehr schwer herauszufinden, wer recht hat. Doch läßt sich wenigstens mit Sicherheit behaupten, daß es niemals Menschen gegeben hat, die Gestank oder Hunger an sich gern gehabt hätten, sondern nur irgendein besonderes Vergnügen, das damit verbunden ist. Allein der feinfühlige Gudge empfindet anders. Lange vor dem abschließenden Verfahren (Hudge contra Gudge und einen Dritten) ist es Herrn Gudge gelungen, sich davon zu überzeugen, daß Spelunken und Gestank wirklich sehr hübsche Dinge seien; daß die Gewohnheit, zu vierzehn in einem Zimmer zu schlafen, unser heutiges England groß gemacht hat; und daß Kanalgestank unbedingt notwendig sei zur Züchtung eines Wikinger-Geschlechtes.

Aber hat nicht auch Hudge an seiner reinen Gesinnung gelitten? Ich fürchte: leider ja. Diese wahnsinnig häßlichen Gebäude, die er anfänglich als anspruchsloses Obdach errichtet hatte, einzig und allein, um den Menschen das nackte Leben zu retten, erscheinen seinen verblendeten Augen von Tag zu Tag schöner. Dinge, die er nie, auch nicht im Traume, hätte verteidigen wollen, außer als grausame Notwendigkeiten, Dinge, wie gemeinsame Küchen oder schändliche Asbest-Gasöfen, erstrahlen ihm nun in heiligem Glanze, nur weil sie den Zorn des Gudge widerspiegeln. Er behauptet, mit Hilfe von ein paar kleinen hitzigen Sozialistenbroschüren, daß die Menschen in einem Bienenstock wirklich glücklicher wären als in einem Hause. Die praktische Schwierigkeit, völlig fremde Menschen aus dem eigenen Schlafzimmer fernzuhalten, schildert er als »Brüderlichkeit«; und ich glaube gar, die Notwendigkeit, dreiundzwanzig Stockwerke einer kalten Steinstiege hinaufzuklettern, nennt er »Schwung«. Das reine Endergebnis ihres philanthropischen Abenteuers ist: daß der eine so weit gekommen ist, nicht zu entschuldigende Spelunken und noch weit weniger zu entschuldigende Spelunkenbesitzer zu entschuldigen; während der andere so weit gekommen ist, die Baracken und Rohrleitungen als göttlich anzusehen, die nur als verzweifelte Hilfsmittel gedacht waren. Gudge ist jetzt ein korrupter und apoplektischer alter Tory im Carlton Klub; wenn ihr in seiner Gegenwart von Armut sprecht, brüllt er euch mit einer dicken, heiseren Stimme etwas zu, was vermutlich: »tut ihnen ganz gut« heißen soll. Aber auch Hudge ist nicht glücklicher; denn er ist ein dürrer Vegetarianer, mit einem grauen Spitzbart und einem unnatürlich freundlichen Lächeln, der herumgeht und allen Leuten erzählt, daß wir zu guter Letzt alle in einem gemeinsamen Schlafsaal schlafen werden; und er lebt in einer Gartenstadt wie ein von Gott Vergessener.

Dies ist die klägliche Geschichte von Hudge und Gudge, die ich bloß als Typus eines endlosen und aufreizenden Mißverständnisses anführe, das in unserem modernen England immer wieder auftritt. Um Menschen aus einer Spelunke zu befreien, steckt man sie in eine Mietskaserne, und im Anfang verabscheut jede gesunde Menschenseele beide. Der erste Wunsch jedes Menschen ist, so weit als möglich von der Spelunke fort zu kommen, und sollte ihn sein wahnsinniger Lauf auch zu einer »Einheitswohnung« führen. Sein zweiter Wunsch ist natürlich, von der Einheitswohnung fort zu kommen, und müßte er selbst zurückkehren in die Spelunke. Aber ich bin weder Hudgianer noch Gudgianer, und ich glaube, der Irrtum dieser beiden ausgezeichneten und anziehenden Persönlichkeiten entstand aus einer einzigen, höchst einfachen Ursache. Daraus nämlich, daß weder Hudge noch Gudge jemals auch nur einen Augenblick daran gedacht haben, was für ein Haus ein Mensch vermutlich gern bewohnen möchte. Kurz, sie haben nicht mit dem Ideal angefangen und waren daher keine praktischen Politiker.

Wir können nun auf den Zweck unserer ungefügen Einschaltung über das Lob der Zukunft und die Fehler der Vergangenheit zurückkommen. Da ein eigenes Haus das unverkennbare Ideal jedes Menschen ist, dürfen wir jetzt (dieses Bedürfnis als ein typisches für alle Bedürfnisse dieser Art nehmend) fragen, warum er es nicht bekommen hat, und ob dies, von irgendeinem philosophischen Gesichtspunkte aus betrachtet, seine eigene Schuld sei. Nun ich glaube, allgemein philosophisch betrachtet, ist es seine Schuld. Ich glaube aber, rein philosophisch betrachtet, ist es die Schuld seiner Philosophie. Und das ist es, was ich jetzt zu erklären versuchen muß.

Burke, ein feiner Rhetoriker, der selten Tatsachen gegenüberstand, sagte (glaube ich), daß eines Engländers Haus seine Burg sei. Das ist nun wirklich lustig. Denn, wie die Dinge nun einmal stehen, ist der Engländer beinahe der einzige Mensch in Europa, dessen Haus nicht seine Burg ist. Beinahe überall sonst gibt es den Begriff von Bauern-Grundbesitz: daß ein armer Mann Grundherr sein kann, obwohl er nur Herr seines Grundes ist. Es hat gewisse allgemeine Vorteile, Grundherrn und Pächter in einer Person zu vereinigen; zum Beispiel, daß der Pächter keinen Zins zahlt, während der Grundherr ein wenig arbeitet. Aber ich befasse mich nicht mit der Verteidigung des Kleingrundbesitzes, sondern nur mit der Tatsache, daß er beinahe überall besteht außer in England. Es ist andererseits wahr, daß diese Einrichtung des kleinen Grundbesitzes heute überall angegriffen wird; sie hat bei uns niemals bestanden und wird vielleicht bei unseren Nachbarn zerstört wer den. Wir müssen uns daher fragen, was ist es eigentlich, das in allen menschlichen Dingen im allgemeinen, und in diesem häuslichen Ideal-Begriff im besonderen, die natürlich menschliche Schöpfung vom Grunde völlig verdorben hat, vornehmlich in diesem Lande.

Der Mensch hat stets seinen Weg verloren. Er war seit Edens Zeiten ewig ein Landstreicher gewesen; aber er hat immer gewußt oder zu wissen geglaubt, wonach er suchte. Jeder Mensch hat ein Haus irgendwo im weiten All; sein Haus harret sein, tief unten in den trägen Norfolk-Flüssen oder hoch oben auf den sonnigen Sussex-Hügeln. Der Mensch suchte stets das eigene Heim, das der Hauptgegenstand dieses Buches ist. Aber in dem bleichen und blendenden Hagel des Skeptizismus, dem er jetzt so lange ausgesetzt war, begann er zum erstenmal niedergeschlagen zu werden, nicht nur in seinen Hoffnungen, auch in seinen Wünschen. Zum erstenmal in der Geschichte beginnt er wirklich am Zweck seines Wanderns auf Erden zu zweifeln. Er hat immer seinen Weg verloren, aber jetzt hat er seine Adresse verloren.

Unter dem Drucke einer gewissen Philosophie der »oberen Klassen« (oder mit anderen Worten, unter dem Drucke von Hudge und Gudge) ist der Durchschnittsmensch über das Ziel seines Strebens wirklich verwirrt worden, und seine Bestrebungen werden daher immer schwächer und schwächer. Sein einfacher Wunsch, ein eigenes Heim zu haben, wird als bourgeois, als sentimental oder als verächtlich-christlich verlacht, in den verschiedensten Redewendungen empfiehlt man ihm, auf die Straße zu gehen – was man Individualismus nennt; oder in die Fabrik zu gehen – was man Kollektivismus nennt. Wir werden diese Methode gleich näher untersuchen. Aber es kann schon hier gesagt werden, daß es den Herren Hudge und Gudge, oder der herrschenden Klasse im allgemeinen, niemals an irgendeiner modernen Phrase mangeln wird, um ihre alte Vorherrschaft zu decken. Die großen Lords werden dem englischen Bauern seine »drei Acker Feld und eine Kuh« aus fortschrittlichen Gründen verweigern, wenn sie es aus reaktionären nicht länger werden tun können. Sie werden ihm die drei Acker Land aus Staats-Eigentums-Gründen versagen. Sie werden ihm die Kuh aus Humanitäts-Gründen verbieten.

Und das führt uns zur abschließenden Untersuchung dieses eigentümlichen Einflusses, der die Aufstellung doktrinärer Forderungen beim englischen Volke verhindert hat. Es gibt, glaube ich, noch immer Leute, die leugnen, daß England von einer Oligarchie regiert wird. Mir aber genügt es vollauf zu wissen, daß ein Mann, wäre er vor dreißig Jahren über einer Tageszeitung eingeschlafen und vorige Woche bei einer Tageszeitung erwacht, sich einbilden könnte, von denselben Leuten zu lesen. In der einen Zeitung hätte er einen Lord Robert Cecil gefunden, einen Herrn Gladstone, einen Herrn Wyndham, einen Churchill, einen Chamberlain, einen Trevelyan, einen Buxton; in der anderen fände er einen Lord Robert Cecil, einen Herrn Gladstone, einen Herrn Wyndham, einen Churchill, einen Chamberlain, einen Trevelyan, einen Buxton. Wenn das nicht »von Familien regiert werden« ist, weiß ich nicht, was es ist. Wahrscheinlich ist es: von außergewöhnlichen demokratischen Zufälligkeiten regiert werden.


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