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Das zweite Kapitel
Der Universalstock

LASST einmal eure Augen im Zimmer umherschweifen, in dem ihr euch gerade befindet, und wählt drei oder vier Gegenstände, die den Menschen beinahe seit seinen ersten Tagen stets begleiten, von denen wir wenigstens seit den ersten Jahrhunderten bei den verschiedensten Stämmen hören. Nehmen wir an, daß ihr ein Messer auf dem Tische seht, einen Stock in der Ecke, oder ein Feuer im Kamin. An all diesen Dingen werdet ihr eine Spezialität bemerken: daß sie nämlich alle nicht speziell sind. Jeder dieser urväterlichen Gegenstände ist ein universelles Ding; geschaffen, um vielen verschiedenen Bedürfnissen zu dienen; und, während die Leute wie graue Schulfüchse herumschnüffeln, um den Ursprung und Sinn irgend eines alten Brauches herauszufinden, ist die Wahrheit einfach die, daß es fünfzig oder hundert Ursachen oder Gründe gibt, aus denen er entstanden ist. Mit dem Messer soll man Holz spalten, Käse schneiden, Bleistifte spitzen und Hälse abschneiden können; für Myriaden ingeniöser und unschuldiger menschlicher Zwecke. Der Stock soll den einen aufrecht halten und den anderen niederstrecken; man kann mit ihm wie mit einem Wegweiser zeigen, oder wie mit einer Balancierstange balancieren, oder wie mit einer Zigarette spielen, oder wie mit der Keule eines Riesen töten; er ist eine Krücke und ein Knüttel; er ist ein verlängerter Finger und ein Extrabein. Dasselbe gilt natürlich vom Feuer, über das die seltsamsten modernen Ansichten entstanden sind. So scheint die merkwürdige Einbildung verbreitet zu sein, daß das Feuer da sei, um die Menschen zu wärmen. Es ist da, um die Menschen zu wärmen, um ihre Finsternis zu erhellen, um ihren Geist zu wecken, um ihr Brot zu rösten, um ihre Zimmer zu heizen, um ihre Kastanien zu braten, um ihren Kindern Geschichten zu erzählen, um bewegliche Schatten auf ihre Wände zu werfen, um ihre Wasserkessel zum Kochen zu bringen und um das rote Herz eines Menschenhauses zu sein und jener Herd, für den zu sterben die Pflicht des Mannes sei, wie die großen Heiden sagten. Es ist nun das wahre Kennzeichen unserer modernen Zeit, daß die Leute immer einen Ersatz vorschlagen für diese alten Dinge; und daß dieser Ersatz immer nur einem Zwecke dient, während die alten Dinge zehn verschiedene Zwecke er füllten. Der moderne Mensch dreht eine Zigarette statt eines Stockes; er spitzt seinen Bleistift mit einem schraubigen Bleistiftspitzer statt mit einem Messer; und er ist mutig bereit, sich an Heißwasserröhren wärmen zu lassen statt am Feuer. Ich hege gewisse Zweifel gegen Bleistiftspitzer, selbst wenn es gilt, Bleistifte zu spitzen; und gegen Heißwasserrohre, auch in bezug auf Heizzwecke.

Aber wenn wir erst an all die anderen Erfordernisse denken, denen jene Institutionen entsprachen, da erkennen wir die ganze fürchterliche Harlekinade unserer modernen Zivilisation. Wir erblicken, wie in einer Vision, eine Welt, in der ein Mann versucht, sich den Hals mit einem Bleistiftspitzer abzuschneiden; eine Welt, in der ein Mann mit einer Zigarette fechten lernen muß; in der er versuchen muß, sein Brot an einer elektrischen Lampe zu rösten und rote und goldene Schlösser an der Oberfläche eines Wasserrohrs zu erschauen.

Das Prinzip, von dem ich spreche, kann über all dort erkannt werden, wo wir einen Vergleich anstellen zwischen den alten und universellen Dingen und den modernen und spezialistischen. Es ist Sache eines Theodoliten, in der horizontalen Lage zu bleiben; aber Sache eines Stockes ist es, herumzuschwingen unter jedem beliebigen Winkel; herumzuwirbeln wie das wahre Rad der Freiheit. Eine Lanzette dient zum Aufschneiden von Geschwüren; um aber Köpfe und Gliedmaßen zu zerschmettern, zu zerschlagen, abzuhauen und abzuschneiden, ist sie wohl ein armseliges Instrument. Ein elektrisches Licht dient bloß zum Leuchten (eine jämmerliche Bescheidenheit!), und ein Asbest-Gasofen dient ... ich wäre selbst neu gierig, wozu ein Asbest-Gasofen dient. Wenn ein Mann in der Wüste eine Tauwerksrolle finden würde, könnte er wenigstens an all das denken, was mit ihr anzufangen wäre; und manches davon wäre vielleicht ganz praktisch. Er könnte ein Boot trändeln oder ein Pferd einfangen. Er könnte Abheben spielen oder Werg zupfen wie ein Gefangener. Er könnte eine Strickleiter knüpfen für die Flucht einer reichen Erbin oder die Koffer einer jungfräulichen alten Tante zusammen schnüren. Er könnte einen Bogen spannen lernen oder sich aufhängen. Ganz anders jedoch steht es um den unglücklichen Reisenden, der ein Telephon in der Wüste fände. Man kann mit einem Telephon telephonieren; man kann aber gar nichts anderes damit anfangen. Und obwohl dies eine der tollsten Freuden des Lebens ist, verliert sie ein klein wenig von ihrem höchsten Taumel, wenn niemand da ist, der euch antwortet. Kurz, der Fall liegt so, daß ihr hundert Wurzeln ausreißen müßtet, nicht eine, ehe ihr irgendeines dieser uralten und einfachen Hilfsmittel entwurzeln könntet. Ein moderner, wissenschaftlicher Soziologe kann nur sehr schwer zur Erkenntnis gebracht werden, daß jede alte Methode einen festen Fuß hat, auf dem sie ruht. Aber beinahe jede alte Methode hat vier oder fünf Füße, auf denen sie steht. Beinahe all die alten Institutionen sind Vierfüßler und manche von ihnen sind Hundertfüßler.

Betrachtet nur einmal diese Fälle, alte und neue, und ihr werdet das Wirken einer allgemeinen Tendenz erkennen. Überall dort, wo es ein großes Ding gab, das sechs verschiedenen Zwecken diente, gibt es jetzt sechs kleine Dinge oder besser gesagt (und darin liegt das Übel) es gibt ihrer gerade fünfeinhalb. Nichtsdestoweniger wollen wir nicht sagen, daß die Trennung und Spezialisierung gänzlich nutzlos und unentschuldbar sei. Ich habe oft Gott gedankt für das Telephon; ich kann vielleicht jeden Tag Gott danken für die Lanzette; und es gibt keine von diesen glänzenden und engbegrenzten Erfindungen (natürlich mit Ausnahme des Asbest-Gasofens), die nicht in irgend einem Augenblick notwendig und angenehm sein könnte. Aber ich glaube, nicht der verbohrteste Verteidiger der Spezialisierung wollte leugnen, daß in jenen alten vielseitigen Institutionen ein Element der Einheit und Allgemeinheit liegt, die in ihrer richtigen Proportion und an ihrem rechten Platz beibehalten werden könnte. Es wird wohl zugegeben werden, daß, auf geistigem Gebiete zumindest, irgend ein allumfassendes Gleichgewicht notwendig sei, um die Überspanntheit der Sachverständigen auszugleichen. Es wäre nicht schwer, die Parabel vom Messer und vom Stock in höhere Regionen zu führen. Religion, die unsterbliche Jungfrau, ist ein Mädchen für alles so gut wie eine Dienerin der Menschheit gewesen. Sie hat die Menschen gleichzeitig mit den theoretischen Gesetzen eines unabänderlichen Kosmos und mit den praktischen Regeln des schnellen und ergreifenden Spieles der Sittlichkeit versehen. Sie lehrte die Studenten Logik und erzählte den Kindern Märchen; es war ihre Sache, die namenlosen Götter herauszufordern, deren Schrecken über allem Fleische liegt, aber auch zu sehen, wie die Straßen mit Silber und Purpur gefleckt waren – daß es eine Stunde gäbe, Bänder zu tragen und eine, die Glocken zu läuten. Der umfassende Sinn der Religion ging unter in kleinen Spezialitäten, gerade so, wie der Sinn des Herdes unterging in Heißwasserröhren und elektrischen Birnen. – Die Romantik eines rituellen und farbigen Sinnbildes ist von diesem beschränktesten aller Gewerbe übernommen worden, von der »modernen Kunst – (jener Art, die Kunst um der Kunst willen heißt), und man lehrt die Leute, daß sie in der modernen Praxis alle Symbole gebrauchen dürfen, so lange sie sich nichts darunter vorstellen. Die Romantik des Gewissens ist verdorrt zu einer Wissenschaft der Ethik, welche Schicklichkeit um der Schicklichkeit willen genannt werden mag; eine Schicklichkeit, nie gezeugt von kosmischen Energien, und unfähig, jemals künstlerische Blüte zu zeugen. Der Schrei zu dunklen Göttern – von Ethik und Kosmologie abgeschnitten – ist zur bloßen »Seelenerforschung« geworden. Alles ist von allem anderen getrennt worden und alles ist kalt geworden. Wir werden vielleicht bald von Spezialisten hören, die in einem Lied die Melodie von den Worten trennen, mit der Begründung, daß eines das andere verdirbt; und ich begegnete einmal einem Manne, der für die Trennung von Mandeln und Rosinen öffentlich eintrat. Diese ganze Welt ist ein wüster Scheidungsgerichtshof. Nichtsdestoweniger gibt es viele, die in ihrer Seele noch den Donner der Autorität menschlicher Gewohnheit hören; jene, die der Mensch zusammen gefügt hat, soll kein Mensch trennen!

In diesem Buche muß die Religion vermieden werden, aber es muß (glaube ich wohl) viele geben – religiöse und irreligiöse – die einräumen werden, daß diese Fähigkeit, vielen Zwecken zu entsprechen, eine gewisse Stärke war, die aus unserem Leben nicht ganz verschwinden sollte. Sogar die Modernen werden zugeben, daß Vielseitigkeit ein Vorzug ist, und ein Vorzug, der leicht übersehen werden kann. Dieses Gleichgewicht und diese Universalität waren der Traum verschiedener Gruppen von Männern zu verschiedenen Zeiten. Sie waren die »liberale Erziehung« des Aristoteles; das Allerwelts-Künstlertum des Leonardo da Vinci und seiner Freunde; das erhabene Dilettantentum der aristokratischen Kavaliere wie des Sir William Temple oder des großen Earl of Dorset. Sie sind in der Literatur unserer Zeit in den ziellosesten und gegensätzlichsten Formen wieder erschienen, die von Walter Pater in eine beinahe unhörbare Musik gesetzt, und von Walt Whitman durch ein Nebelhorn verkündet worden sind. Aber die Mehrzahl der Menschen ist immer unfähig gewesen, diese wirkliche Universalität zu erreichen, und zwar wegen der Natur ihrer Arbeit in der Welt. Wohlgemerkt, nicht wegen des Vorhandenseins ihrer Arbeit. Leonardo da Vinci muß ziemlich schwer gearbeitet haben; andererseits kann gar mancher Staatsbeamte, Dorfgendarm oder ein in Aus flüchten geschickter Installateur (allem menschlichen Anscheine nach) überhaupt keine Arbeit leisten und doch keine Spur einer aristotelischen Universalität zeigen. Für den Durchschnittsmenschen ist die Schwierigkeit, ein Universalist zu werden, die, daß der Durchschnittsmensch ein Spezialist sein muß; er muß nicht nur ein Geschäft lernen, sondern er muß. es so gut lernen, daß es ihn in einer mehr oder weniger unbarmherzigen Gesellschaft aufrecht hält. Dies gilt im allgemeinen für alle Männer vom ersten Jäger bis zum letzten Elektrotechniker; jeder einzelne muß nicht handeln, sondern hervorragen. Nimrod muß nicht nur ein großer Jäger vor dem Herrn sein, sondern auch ein großer Jäger vor allen anderen Jägern. Der Elektrotechniker muß ein überaus elektrischer Techniker sein, sonst wird er über holt von einem noch elektrischeren Techniker. Jene wahren Wunder menschlichen Geistes, auf welche die moderne Welt so stolz ist, und größten teils mit vollem Rechte, wären unmöglich, ohne eine gewisse Konzentration, die das reine Gleichgewicht der Vernunft mehr stört als religiöse Bigotterie. Kein Glaube kann so einschränkend sein, wie jene schreckliche Vereidigung, daß der Schuster bei seinem Leisten bleiben müsse. So haben die weitesten und wildesten Schüsse unserer Zeit nur eine Richtung und eine vorgeschriebene Bahn: der Kanonier kann über seine Schußweite nicht hinaus, und sein Schuß ist so oft zu kurz; der Astronom kann über sein Teleskop nicht hinaus, und doch reicht es so gar nicht weit. Sie sind alle wie Leute, die auf der höchsten Spitze eines Berges gestanden sind und den Horizont wie einen einzigen Ring gesehen haben, und die dann auf verschiedenen Wegen hinabsteigen, nach verschiedenen Städten, in schneller oder langsamer Reise. Es ist richtig, daß es Leute geben muß, die nach verschiedenen Städten reisen; es muß Spezialisten geben; aber soll niemand den Horizont schauen? Soll die ganze Welt voll Spezialchirurgen oder voll besonderer Bleigießer werden? Soll die ganze Menschheit zu Monomanen werden? Die Tradition hat entschieden, daß nur die halbe Welt zu Monomanen werden soll. Sie hat entschieden, daß in jedem Heim ein Mann der Geschäftswelt und ein Allerweltsmensch sein soll. Aber sie hat unter anderem auch entschieden, daß der Allerweltsmensch eine Allerweltsfrau sei. Sie hat, richtig oder falsch, auch entschieden, daß dieser Spezialismus und Universalismus zwischen den Geschlechtern geteilt werden solle. Klugheit soll den Männern bleiben und Weisheit den Frauen. Denn Klugheit tötet Weisheit; das ist eine der wenigen traurigen und wahren Tatsachen. Aber für die Frauen muß dieses Ideal der Fähigkeit des Erkennens (oder gesunder Menschenverstand) vor langer Zeit weggewaschen worden sein. Es muß in dem fürchterlichen Ofen des Ehrgeizes und gieriger Kunsttechnik geschmolzen sein. Ein Mann muß zum Teil ein Ein-Begriffs-Mann sein, weil er ein Ein-Waffen-Mann ist – und er stürzte nackt mitten in den Kampf. Die Anforderung der Welt trifft ihn direkt; seine Frau nur indirekt. Kurz, er muß (wie das Buch über den Erfolg sagt) »sein Bestes« geben; und welch kleiner Teil des Menschen ist »sein Bestes«! Sein Zweit- und Drittbestes sind oft weit besser. Wenn er die erste Violine ist, muß er sein Leben lang geigen. Er darf nicht daran denken, daß er ein feiner vierter Dudelsack ist, eine anständige fünfzehnte Billardqueue, ein Rapier, eine Füllfeder, ein guter Whistpartner, eine Flinte und ein Bild Gottes.


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