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Erster Teil
Die Heimlosigkeit der Menschen

 

Das erste Kapitel
Der medizinische Fehler

Jedes Buch über moderne soziale Probleme hat gewissermaßen eine bestimmte Form. Es beginnt regelmäßig mit einer Analyse, mit Statistiken, Bevölkerungstabellen, Abnahme der Verbrechen bei den Independenten, Zunahme der Hysteriefälle bei Polizeimännern und ähnlichen festgestellten Tatsachen; es endet mit einem Kapitel, das gewöhnlich »Das Heilmittel« heißt. Es ist fast aus schließlich dieser sorgfältigen, gründlichen und wissenschaftlichen Methode zu verdanken, daß das Heilmittel niemals gefunden wird. Denn dieses ganze Schema von medizinischen Fragen und Antworten ist ein Schnitzer. Der erste große Schnitzer der Soziologie. Es heißt immer, man müsse zu erst die Krankheit feststellen, ehe man die Kur findet. Aber es ist das ganze Wesen und die Würde der Menschheit, daß wir in sozialen Dingen tat sächlich zuerst die Kur finden müssen, ehe wir die Krankheit finden. Es ist eine der hundert Täuschungen, die aus der modernen Vernarrtheit in biologische oder körperliche Vergleiche entstanden sind. Es ist bequem, vom sozialen Organismus zu sprechen, ebenso wie es bequem ist, vom britischen Löwen zu sprechen. Aber Britannien ist ebenso wenig ein Organismus wie ein Löwe. In dem Augenblick, da wir anfangen, einer Nation die Einheit und Einfachheit eines Tieres beizulegen, fangen wir an, wüst zu denken. Weil jeder Mensch ein Zweifüßler ist, sind fünfzig Menschen kein Hundertfüßler. Daraus zum Beispiel ist der heillose Unsinn entstanden, immerfort von »jungen Nationen« und von »sterbenden Nationen« zu sprechen, als ob eine Nation eine bestimmte und physische Lebensdauer hätte. So sagen die Leute, daß Spanien in den Zustand des letzten Greisenalters getreten wäre; sie könnten ebenso gut sagen, daß Spanien alle Zähne verliere. Oder die Leute sagen, daß Kanada bald eine Literatur hervorbringen werde; das ist so, wie wenn man sagte, daß Kanada bald einen Schnurrbart bekommen werde. Nationen bestehen aus Menschen; die erste Generation mag abgelebt, oder die zehntausendste lebenskräftig sein. Diese Täuschung findet eine ähnliche Anwendung bei denjenigen, die in der zunehmenden Größe nationalen Besitzes einfach ein Zunehmen an Weisheit und Größe sehen, Gott und den Menschen zu Gefallen. Diese Leute stehen allerdings an Scharfsinn noch hinter dem Vergleiche mit dem menschlichen Körper zurück. Sie fragen nicht einmal, ob ein Reich in seiner Jugend größer oder nur im Alter fetter wird. Aber das schlimmste Beispiel, von allen Irrtümern, die aus dieser »physischen Vorstellung« entstehen, ist die Gewohnheit, eine soziale Krankheit erschöpfend zu beschreiben und dann ein soziales Gesundheits-Tränklein vorzuschlagen.

In Fällen körperlichen Zusammenbruches sprechen wir nun zuerst von der Krankheit, und das hat seinen guten Grund. Denn obwohl Zweifel herrschen mögen über die Art und Weise, wie der Körper zusammengebrochen ist, gibt es keinen Zweifel über die Form, in die er wieder aufgerichtet werden sollte. Kein Arzt wird vorschlagen, eine neue Art Menschen zu schaffen, mit neuartiger Anordnung der Augen oder Gliedmaßen. Ein Spital kann notgedrungen einen Menschen mit einem Bein weniger nach Hause schicken, aber niemals wird es ihn (in schöpferischem Entzücken) mit einem Bein mehr zurückschicken. Die medizinische Wissenschaft ist mit dem normalen menschlichen Körper zufrieden und sucht nur, ihn wieder herzustellen.

Aber soziale Wissenschaft ist keineswegs immer mit der normalen menschlichen Seele zufrieden; sie hat alle möglichen Arten von Phantasie-Seelen auf Lager. Der Mensch, als sozialer Idealist, wird sagen: »Ich bin es müde, Puritaner zu sein, ich will Heide werden«, oder: »Hinter dieser düsteren Prüfungszeit des Individualismus sehe ich das leuchtende Paradies des Kollektivismus scheinen.« Bei körperlichen Übeln gibt es nun solche Meinungsverschiedenheiten über das End-Ideal nicht. Der Patient mag Chinin brauchen oder nicht; aber sicherlich braucht er seine Gesundheit. Niemand sagt: »Ich bin dieser Kopfschmerzen müde, ich will Zahnweh haben« oder: »Das einzige gegen diese russische Influenza wären griechische Masern«, oder: »Hinter dieser düsteren Prüfungszeit des Katarrhs sehe ich das leuchtende Paradies eines Rheumatismus scheinen.« Aber die ganze Schwierigkeit unserer öffentlichen Probleme ist gerade, daß manche Menschen nach Heilmitteln trachten, die andere wieder als noch ärgere Krankheiten ansehen; daß sie Endziele als Gesundheitszustände anbieten, die andere wieder schlankweg Krankheitszustände nennen.

Belloc sagte einmal, daß er sich vom Eigentumsbegriff ebensowenig trennen wolle wie von seinen Zähnen; und für Bernard Shaw wieder ist Eigentum kein Zahn, sondern ein Zahnschmerz. Lord Milner hat es ernstlich versucht, deutsche »Leistungsfähigkeit« einzuführen, während vielen von uns deutsche Masern ebenso willkommen wären. Dr. Saleeby möchte ehrlich gerne Eugenetiker haben; aber da wäre mir noch ein Rheumatismus lieber.

Dies ist die hemmende und vorherrschende Frage bei modernen sozialen Diskussionen: daß man nicht nur über die Schwierigkeiten, sondern auch über die Ziele im Streit ist. Wir einigen uns über das Übel; stattdessen sollten wir uns um das Heil gegenseitig die Augen auskratzen. Wir geben alle zu, daß eine untätige Aristokratie etwas Schlechtes sei; aber wir werden keineswegs alle zugeben, daß eine tätige Aristokratie etwas Gutes wäre. Wir ärgern uns alle über eine irreligiöse Priesterschaft; aber mancher von uns könnte vor Ekel über eine religiöse Priesterschaft verrückt werden. Jedermann ist empört, wenn unsere Armee schwach ist, einschließlich derjenigen, die über eine starke Armee noch weit mehr empört wären. Die soziale Frage ist genau das Gegenteil der medizinischen. Wir sind nicht, wie die Ärzte, über den präzisen Charakter der Krankheit uneinig und über den Gesundheitszustand einer Meinung. Im Gegenteil! Wir sind alle darin einig, daß England krank sei; aber die einen von uns wollten das England nicht einmal ansehen, von dem die anderen sagen würden, es befinde sich in blühender Gesundheit. Öffentliche Mißbräuche sind so hervorstechend und verderblich, daß sie alle besseren Menschen zu einer Art fiktiver Eintracht zusammentreiben. Wir vergessen, daß, während wir über den Mißbrauch der Dinge einig sind, wir über ihren rechten Gebrauch ganz uneinig wären. Herr Cadbury und ich wären über »das schlechte Wirtshaus« einer Meinung. Gerade vor der Türe des »guten Wirtshauses« würde sich unser schmerzlicher, persönlicher »fracas« ereignen.

Ich behaupte daher, daß die allgemeine Methode der Soziologen ganz zwecklos sei; diese Methode nämlich, elendste Armut erst zu zerfasern, Prostitution zu katalogisieren. Wir alle mißbilligen tiefste Armut; aber es könnte leicht anders sein, wenn wir anfingen, die Frage einer unabhängigen und würdigen Armut zu erörtern. Wir alle mißbilligen die Prostitution; aber nicht alle billigen wir die Keuschheit. Der einzige Weg, über das soziale Übel zu diktieren, ist, sofort beim sozialen Ideal anzufangen. Wir alle können nationalen Wahnsinn erkennen; aber was ist nationale Vernunft? Ich habe dieses Buch: »Was ist unrecht an der Welt« genannt; aber dieser etwas freie Titel weist nur auf den einen Punkt hin; unrecht ist, daß wir nicht fragen, was recht wäre.


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