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Das achte Kapitel
Der gebrochene Regenbogen

ICH will einen Fall wählen, der sowohl als Symbol wie als Beispiel dienen kann: Die Farbe. Wir hören die Realisten (jene sentimentalen Gesellen) von grauen Straßen und dem grauen Leben der Armen reden. Aber was immer die armen Straßen auch sein mögen, grau sind sie nicht; sondern bunt, streifig, fleckig, scheckig und geflickt wie eine Bettdecke. Hoxton ist nicht ästhetisch genug, um monochrom zu sein, und hat nichts von dem »keltischen Zwielicht« an sich. T wandelt ein Londoner Gassenbub unversehrt durch einen Schmelzofen von Farben. Gebt einmal acht, wenn er an einer Bretterwand vorbeigeht, und ihr werdet ihn bald auf einem leuchtendgrünen Hintergrund sehen wie einen Reisenden im Tropenwald; bald schwarz wie einen Vogel gegen den strahlendblauen Himmel des Südens; bald »passant« durch ein rotes Feld wie die goldenen Leoparden Englands. Er sollte Verständnis haben für jene unsinnige Begeisterung, für den Schrei des Mr. Stephen Philipps über »dieses blauere Blau, dieses grünere Grün«. Es gibt kein Blau, das viel blauer wäre als »Reckitt's Blue« und keine schwärzere Schwärze als Day and Martin's, kein ausgesprocheneres Gelb als »Colman's Mustard«. Wenn der Geist des kleinen Buben, ungeachtet dieses Farbenchaos – einem zerschmetterten Regenbogen gleich – von Kunst und Kultur nicht gerade berauscht ist, so liegt der Grund sicherlich nicht in der allgemeinen Grauheit oder in der bloßen Aushungerung seiner Sinne. Er liegt in der Tatsache, daß ihm die Farben im falschen Zusammenhang, nach einem falschen Maßstab und vor allem aus falschen Motiven gezeigt werden. Nicht die Farben fehlen ihm, sondern eine Farbenphilosophie. Kurz, es ist alles in Ordnung mit Reckitt's Blue, nur daß es nicht Reckitt's eigen ist. Blau gehört nicht dem Reckitt, sondern dem Himmel; schwarz gehört nicht dem Day and Martin, sondern dem Abgrund. Auch die schönsten Plakate sind nur sehr kleine Dinge in einem sehr großen Maßstabe. Etwas besonders Aufreizendes liegt in dieser Art der sich stets wiederholenden Plakate gerade bei Senf: einem Gewürz, einer kleinen Leckerei, einem Ding, das naturgemäß nicht in Quantitäten genossen werden kann. Es liegt eine spezielle Ironie darin, in diesen hungernden Straßen so viel Senf zu so wenig Speisen zu sehen. Gelb ist eine grelle Farbe; Senf ein prickelndes Vergnügen. Aber wenn man diese Meere von Gelb sieht, muß man an einen Mann denken, der Senf fässerweise verschlingen soll. Er würde entweder sterben oder alle Lust am Senf verlieren.

Wenn wir nun diese gigantischen Trivialitäten an den Bretterwänden mit jenen winzigen und doch gewaltigen Bildern vergleichen wollten, in denen die Menschen des Mittelalters uns ihre Träume überlieferten; kleine Bilder, auf denen der Himmel kaum größer ist als ein einziger Saphir und die Flammen des jüngsten. Gerichtes nur ein goldener Farbfleck sind! Der Unterschied hier ist nicht nur, daß Plakatmalerei naturgemäß flüchtiger ist als Beleuchtungsstudien; auch nicht nur, daß der alte Künstler dem Herrn diente, während der moderne Künstler den Herren dient. Er liegt darin, daß der alte Künstler sich bemühte, einen Eindruck wiederzugeben, daß Farben wirklich wichtige und wertvolle Dinge waren, wie Zauber- oder Edelsteine. Die Farbe war oft willkürlich, aber immer war sie maßgebend. Ob ein Vogel nun blau oder ein Baum golden oder ein Fisch silbern oder eine Wolke purpurn war – der Künstler brachte es fertig auszudrücken, daß diese Farben wichtig und beinahe schmerzlich intensiv wären: alles Rot rotglühend und alles Gold im Feuer erprobt. Diesen Geist nun müßten die Schulen, was Farben anbelangt, wieder erwecken und fördern, wenn man die Phantasie der Kinder irgend anregen wollte und die Sache ihnen Freude machen sollte. Es ist nicht so sehr ein Frönen der Lust an Farben, als eher, wenn überhaupt etwas, eine Art leidenschaftlicher Sparsamkeit. Ein grünes Feld im Wappen ward so eng umfriedet wie ein grünes Feld im bäuerlichen Grundbesitz. Sie warf ebensowenig goldene Blätter fort, wie goldene Münzen. Sie wollte ebensowenig Purpur- oder Karmesinrot achtlos vergießen, Wie edlen Wein oder unschuldig Blut. Dies ist, in dieser Spezialfrage die schwierige Arbeit für die Erzieher; sie müssen die Leute lehren, an Farben Geschmack zu finden wie an Likören. Sie haben die schwere Aufgabe,. Trunkenbolde zu Weinkostern zu machen. Wenn das dem zwanzigsten Jahrhundert jemals gelingen sollte, dann könnte es beinahe das zwölfte einholen..

Dieses Prinzip erstreckt sich jedoch über das ganze moderne Leben. Morris und die rein ästhetischen Verehrer des Mittelalters wiesen immer darauf hin, daß die Kleidung einer Menschenmenge zur Zeit Chaucers hell und glänzend erschienen wäre, verglichen mit jener zur Zeit der Königin Viktoria. Ich bin nicht ganz sicher, ob der wahre Unterschied gerade darin liege. Da gäbe es braune Mönchskutten in der ersten Szene, so gut wie braune Kappen der Magistratsbeamten in der zweiten. Da gäbe es violette Federhüte bei den Fabrikmädchen in der zweiten Szene, so gut wie violette Fastengewänder in der ersten. Da stünden weiße Westen gegen weißen Hermelin; goldene Uhrketten gegen goldene Löwen. Der wahre Unterschied ist: daß die braune Erdfarbe der Mönchskutte instinktiv als Zeichen der Arbeit und Demut gewählt worden war, während die braune Farbe der Beamtenhüte nicht gewählt worden war, um irgend etwas zu bezeichnen. Der Mönch wollte sagen, daß er sich in Staub kleide. Ich bin sicher, daß der Beamte nicht sagen will, daß er sich mit Erde kröne. Er bedeckt sein Haupt nicht mit Staub, wie mit dem einzigen Diadem der Menschheit. Violett – reich und düster zugleich – deutet einen Triumph an, der augenblicklich durch ein Unglück verfinstert worden ist. Aber das Fabrikmädchen beabsichtigt nicht, daß ihr Hut einen Triumph ausdrücke, der augenblicklich durch ein Unglück verdunkelt wird; weit entfernt davon! Weißer Hermelin sollte moralische Reinheit ausdrücken; weiße Westen nicht. Goldene Löwen deuten flammende Großmut an; goldene Uhrketten nicht. Das Wesentliche ist nicht, daß wir die materiellen Farben verloren haben, sondern, daß wir den Trick verloren haben, sie aufs vorteilhafteste anzuwenden. Wir gleichen nicht Kindern, die ihren Malkasten verloren haben und denen nur ein rauher Bleistift übriggeblieben ist. Wir gleichen Kindern, die alle Farben ihres Malkastens durcheinander gemischt und die »Belehrung« verloren haben. Ich leugne nicht, man hat auch dann noch einigen Spaß daran.

Dieser Überfluß an Farben und dieser Verlust eines Farbenschemas ist nun ein recht treffendes Gleichnis alles dessen, was unrecht ist an unseren modernen Idealen und insbesondere an unserer modernen Erziehung. Dasselbe gilt von ethischer Erziehung, oder ökonomischer Erziehung, oder jeder Art von Erziehung überhaupt. Das heranwachsende Londoner Kind wird gewiß an höchst streitkräftigen Lehrern keinen Mangel haben, die es lehren werden: Geographie hieße die Landkarte rot malen; Ökonomie hieße Ausländer besteuern; Patriotismus hieße die speziell unenglische Sitte am »Empire-Day« eine Fahne zu hissen. Wenn ich diese Beispiele besonders anführe, will ich damit nicht sagen, daß. die gleiche Unreife, die gleichen allgemeinen Irrtümer auf der politischen Gegenseite nicht gleichfalls vorkämen. Ich erwähne sie, weil sie ein ganz besonderes und auffallendes Bild der Situation ergeben. Ich meine nämlich, daß es immer radikale Revolutionäre gegeben hat; aber jetzt gibt es auch Tory Revolutionäre. Der moderne Konservative konserviert nicht mehr. Er ist, zugegebenermaßen, ein Neuerer. Damit sind alle landläufigen Verteidigungen des Herrenhauses verstandesmäßig erledigt, die es als Bollwerk gegen den Mob bezeichnen; der Boden ist ihnen genommen; denn in bezug auf fünf oder sechs der alleraufrührerischsten Tagesfragen ist das Herrenhaus selbst – Mob; und wird sich höchstwahrscheinlich auch so benehmen.


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