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Erinnerungen an Gottfried Keller

Deutsche Dichtung. IX. Band, 1. Heft. Oktober 1890.

Die »Deutsche Dichtung« ersucht mich um einige Aufzeichnungen über Keller in der natürlichen Voraussetzung, daß wir uns als Landsleute nahe standen. Das war nun nicht der Fall, doch haben wir uns immerhin gekannt und es fand zwischen uns ein freundliches Verhältnis statt. Er zeigte sich mir immer – oder fast immer – liebenswürdig und geistreich unterhaltend, womit ich mich gerne zufrieden gab. Meinerseits begegnete ich ihm stets mit Ehrerbietung und hielt diesen Ton fest, wenn er auch gelegentlich darüber spottete und einmal einen »in Ehrerbietung« unterzeichneten Brief mit »in Ehrfurcht« erwidert hat.

Obwohl, oder gerade weil nun unsere Begegnungen selten waren, haben sie sich meinem Gedächtnisse mit der größten Treue eingegraben, und wenn ich, den Wunsch der »Deutschen Dichtung« erfüllend, etwas thue, das mich reizt, das ich aber unaufgefordert sicherlich unterlassen hätte, werde ich mich nur vor dem Zuviel und vor der Anekdote zu hüten haben; denn nur Wesentliches und Charakteristisches will ich berichten. Hätte ich mehr Zeit und schriebe ich nicht im Lärm eines Kurhauses, würde ich meine Persönlichkeit mehr zurücktreten lassen, als es bei einer momentanen Niederschrift möglich ist.

Ich sage, daß ich für Keller Ehrerbietung empfand, und zwar durchaus keine konventionelle, sondern eine wahre und tiefe und nicht nur vor seiner unvergleichlichen Begabung, sondern nicht weniger vor seinem Herzen und seinem Charakter, dessen ethisches Gewicht mir schon bei unserm ersten Zusammensein auffiel. Es kam da die Rede auf eine Persönlichkeit, von der er sagte: »es ist ein notorischer Lügner«, und er sprach das mit einem solchen Nachdruck, ernst wie ein Gerichtshof, daß man sich unwillkürlich selbst prüfte. Und von einer andern Persönlichkeit sagte er noch bei meinem letzten Besuche: »er hat kein Herz!« in einem so seltsamen Tone, daß man die Entrüstung durchfühlte. Auch derjenige der Wehmut war ihm durchaus nicht fremd und ich höre ihn noch, wie er eines Tages klagte, auf seine Habseligkeiten weisend: »Das wird in gleichgültige Hände kommen.«

Am meisten aber und gewaltig imponierte mir seine Stellung zur Heimat, welche in der That der eines Schutzgeistes glich: er sorgte, lehrte, predigte, warnte, schmollte, strafte väterlich und sah überall zu dem, was er für recht hielt.

Gern und eingehend und völlig unbefangen plauderte er von seinen Arbeiten, selbst solange sie noch auf dem Webstuhl waren. »Zwei Jahre lang«, scherzte er, »habe ich von ›Salander‹ gesprochen und ein Jahr daran geschrieben«. Doch begann er stets, mit einer Herzenshöflichkeit, die ihn in seinen guten Stunden und Jahren nie verließ, zuerst von den Interessen seines Besuches zu sprechen, bis dieser selbst ablenkte und ihn auf die seinigen brachte.

Ästhetischen Betrachtungen war er abhold, nicht minder landläufigen Stichwörtern wie Realismus, Pessimismus u.s.w. Gerne dagegen besah und untersuchte er den einzelnen Fall, das besondere Motiv, und sprach stets zur Sache. Gemäß seiner bekannten Definition des Schönen als der »mit Fülle vorgetragenen Wahrheit« nannte er die Kürze gerne Schroffheit und das Schlanke dünn und mager.

Er sprach auch von der Genesis seiner Sachen. Zu den »gerechten Kammmachern« z.B. habe der Ausspruch von Peter Bayle in seinem Diktionär den Anstoß gegeben: ein Staat von lauter Gerechten könnte nicht bestehen, und den Stoff zu den »Berlocken« im Sinngedicht habe er in der litterarischen Korrespondenz des Barons Grimm, des Freundes von Diderot, gefunden und versucht, ob sich das Histörchen vertiefen lasse.

Im übrigen suchte er und oft peinlich das Reale, lange »bevor er Zola las«. Wie häufig hörte man ihn sagen, auch bei Behauptungen des gewöhnlichen Lebens: »Das ist! Ich habe es gesehen! Ich habe es selbst erfahren!« So that er sich etwas darauf zu gut, daß das Menschenbild, das er in der zweiten Braut seines portugiesischen Seehelden Don Corréa schildert, eine ethnographische Möglichkeit wäre. »Ich habe Rohlfs (oder einen andern gelehrten Reisenden) darüber beraten«, sagte er wichtig, um dann freilich ein ander Mal diesen seinen Realismus nach seiner Art selbst zu belächeln, indem er lustig fabelte, er sei expreß nach Kappel gereist, um sich durch den Augenschein davon zu überzeugen, daß die Vision der seligen Helden in seiner Zwingli-Novelle zwischen Rigi und Pilatus bequemen Raum habe.

Gegen geschichtliche Stoffe verhielt er sich merkwürdig spröde und verredete sie einmal ganz und gar. »Der Wirkung einer weiland geschehenen und überlieferten Sache bin ich bei weitem nicht so sicher, als der Wirkung einer von mir selbst angeschauten,« pflegte er zu sagen und führte dafür ein Beispiel aus derselben Zwingli-Novelle an: Die verrückten Wiedertäufer, die sich, um das Himmelreich zu erben, wie Kinder geberden, mit Puppen spielen u.s.w. »Ist es nicht zum Weinen,« sagte er, »wenn Erwachsene die Kinder nachäffen? Das that dann aber gar keine Wirkung, weil das einst Mögliche dem heutigen Leser zu kraß und als unmöglich erschien. In einer historischen Erzählung bin ich wie mit Hunden gehetzt, weil ich nie weiß, ob ich in der Wahrheit stehe.«

Unter der Fülle seiner Werke werden die Legenden als Kunstwerke, als psychologisches Meisterstück dagegen die Zürcher Novellen den ersten Platz behaupten, schon durch die Einheit und Einfachheit des Grundgedankens und seine eindringliche, vielfach variierte Predigt: sich zu bescheiden und immer sich selbst zu sein. Da ist die unvergleichliche Tochter des Proselytenschreibers, deren Bescheidenheit zur Unbescheidenheit wird und der ironische Schluß in der römischen Waschküche. Da ist vor allem die ins Große getriebene groteske Maske des Narren auf der Manegg, die mit den genialen, halb weinenden, halb grinzenden Masken Leonardo da Vincis wetteifert. Beiläufig, Keller liebte es nicht verglichen zu werden, natürlich nicht mit Kleinern als er, aber auch nicht mit den Großen. Wie ich ihm einmal sagte, eine Novelle von Cervantes, die ich eben gelesen, habe mich an eine der seinigen erinnert, murrte er: »Weder Shakespeare noch Cervantes«, worauf ich scherzend erwiderte: »Also Michelangelo«. »Wie so?« sagte er mißtrauisch und ich antwortete: »Nun, weil Sie wider Wissen eines seiner Motive wiederholt haben.« »Welches denn?« »Das Überfallene, badende Heer, das, aus dem Wasser steigend, sich schleunig bewaffnet und dem Feinde entgegenstürzt. Das ist der plötzliche Übergang aus einem Zustande der Abspannung in den der höchsten Energie. Nicht anders Ihr beim Weine schwelgender, und von einer ausbrechenden Feuersbrunst überraschter, bürgerlicher Mummenschanz, der mitten aus dem Fest zu den Leitern und Eimern stürzt.« Das ließ er sich gefallen.

Da ich einmal äußerte: religiöse Fragen hätten mir viel zu thun gegeben, rief er: »Und mir erst!« »Die ewigen Dinge sind uns doch wohl unzugänglich,« meinte ich. Er gab es nicht zu, noch verneinte er es. »Ich hätte einen Wunsch,« fuhr ich fort, »wenn ich es sagen soll. Nichts ist inniger und verlockender, als Ihre Vergänglichkeitslieder: sie verzichten aus Bescheidenheit auf ein Jenseits. Das ist aber wohl doch eher ein Gefühl, ein Instinkt, als ein erwiesener Satz. Und da liegt es mir nun nicht recht, daß Sie, bei Ihrem ungeheuert Einfluß, statt die Geister nach Ihrer Gewohnheit frei zu lassen, Ihre Sterblichkeitslieder wie zu einem Glaubensbekenntnis zusammenstellen. Es wäre leicht zu helfen. Sie dürften nur diese süßen Stimmen als ebenso viel Stimmungen durch die ganze Sammlung verteilen ...« Da brach ich ab, denn er machte ein mißmutiges Gesicht.

Aber wie anmutig konnte er lächeln, wenn seine Seele heiter war. Dies eigentümliche Lächeln entstand langsam in den Mundwinkeln und verbreitete sich wie ein wanderndes Licht über das ganze Gesicht. Auch die Schwester besaß es.

Zwei Begegnungen mit ihm bleiben mir unvergeßlich, die erste, da ich ihm – wie lange mag es sein? – vor ungefähr zehn Jahren – einen namhaften deutschen Schriftsteller brachte, und die andere in diesem Frühjahr, da er sich schon gelegt hatte.

Ich wollte meinen deutschen Freund nach Verabredung zu Kinkel führen, mit dem ich befreundet war. Da, schon fast vor dessen Schwelle, erklärte er mir, daß wir lieber zu Keller gehen wollten, von dem »jetzt alle Welt rede«. Mir war dabei nicht heimlich zu Mute, da mir schien, ich könnte leicht zwischen den Zweien zu viel sein. Aber wir fanden Keller in der hellsten Morgenstimmung, und ich war nicht überflüssig; denn die Beiden betrachteten sich eine Weile schweigend und wer weiß wie lange das gedauert hätte, wenn ich nicht ein Gespräch in Gang brachte. Dann wurde es sehr interessant, und da wir uns nach einer halben Stunde schieden, blieb Keller im Vorzimmer vor einer an der Wand hängenden großen Photographie der raphaelischen Tapete: Ananias und Saphira stehen und hielt nun eine allerliebste kleine Rede über die Vorzüge des Bildes, das, wie er sagte, die dramatische Spitze der Handlung fixiere. Davon ging er auf das Drama über und sprach sehr kluge Dinge, wie ich meine, die ich aber nicht vernahm, da ich plötzlich damit mich zu beschäftigen begann, ob dieser seltene Mann die höchste Form der Kunst, von welcher er jetzt mit einer gewissen Inbrunst sprach, vielleicht selbst einmal in's Auge gefaßt habe. Und nun lese ich in den öffentlichen Blättern, daß dem so war und Bruchstücke von Dramen sich in seinem Nachlaß befinden.

Als in diesem Frühjahr von seiner Gesundheit Schlimmes berichtet wurde, drängte es mich, ihn noch einmal zu sehen. Ich fand ihn auf seinem Lager, völlig hellen Geistes. Er empfing mich sehr freundlich und sprach viel, aber kaum hörbar. Es war ein Spinnen und Weben der Phantasie, von dem sich nicht leicht ein Begriff geben läßt. Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich ihn an den Besuch jenes deutschen Freundes erinnerte und ihm erzählte, jener hätte mich hernach gefragt, was es eigentlich für eine Bewandtnis habe mit Ananias und Saphira. Er lächelte. »So sind viele von uns«, sagte er. »Man hat uns in der Jugend die Bibel verleidet und doch stehen so schöne Sachen darin, gerade in der Apostelgeschichte. Sehen Sie zum Beispiel den jungen Eutychus auf seinem gefährlichen Sitz im Fenster, während der langen nächtlichen Predigt des Paulus: er nickt ein, überwiegt und stürzt hinab auf die Gasse. Paulus aber nimmt ihn in die Arme und sagt: Klaget nicht! Seine Seele ist noch in ihm. Wie hübsch ließe sich das wenden. Denken Sie sich die Szene in England während der Bürgerkriege. Ein Wachtposten, ein junger Royalist, entschlummert in einer hohen Schanze. Die Puritaner kriechen nächtlicher Weile heran, ein bibelfester Alter packt den Jüngling und schleudert ihn in den Abgrund mit den Worten: Fahre wohl, Eutychus!« Auch von einem zweiten Teil des »Salander« phantasierte er und einer Überschwemmung, die ihn schließen sollte. Inzwischen drehte er unaufhörlich die Karte, durch die ich mich gemeldet hatte, bis ich sie ihm sachte aus den Fingern zog. »Ich meinte nur,« sagte er, »in den schönen weißen Raum ließe sich ein Vers schreiben.« »Welcher denn?« fragte ich. »Nun, zum Beispiel,« sagte er:

»Ich dulde,
Ich schulde ...«

womit er wohl den Tod meinte, welchen wir alle der Natur schuldig sind.

Stunden vergingen so und es wurde Zeit zu scheiden. »Wir wollen vom Sommer Heil erhoffen,« sagte ich. »Ja,« scherzte er, »und ein Landhaus am Zürichberg mieten.« Es war ein Jammer. Ich glaubte nicht an seine Genesung und er wohl auch nicht. Die Thränen traten mir in die Augen und rasch nahm ich Abschied.

Rigischeidegg, im August 1890.

 


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