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Gottfried Kinkel in der Schweiz

Das Magazin für die Literatur des In- und Auslandes. 3.März 1883 (No.9).

Der 29. Juni 1849 brachte den Namen Gottfried Kinkels in die Schweiz. Man las, daß ein drei Jahre früher mit einer hübschen Dichtung »Otto der Schütz« hervorgetretener rheinländischer Poet im badisch-pfälzischen Aufstande verwundet und gefangen genommen worden sei und daß er seinem Todesurteil entgegensehe. Von strenggläubigen Eltern erzogen, sei er Theologe geworden, habe an der Universität von Bonn gelesen, daneben auch gepredigt und selbst einen Band Predigten veröffentlicht. Dann aber, nach seiner Verheiratung mit einer geliebten Frau, welche er aus den Fluten des Rheines gezogen, habe er mit der Theologie gebrochen und sich 1848 leidenschaftlich in den Wirbel der politischen Ereignisse gestürzt. Die Augsburger Allgemeine Zeitung brachte uns ein paar aus dem unmittelbarsten Leben und den verhängnisvollsten Momenten entstandene Gedichte des dem Tode ins Auge Blickenden und des zu lebenslänglichem Zuchthause Begnadigten. Eine abenteuerliche Flucht aus dem Gefängnisse vollendete dann die ergreifende Geschichte, und in dieser legendären Gestalt blieb Gottfried Kinkel in unserm Gedächtnis, bis er 1866, als Professor der Kunstgeschichte an das Polytechnikum in Zürich berufen, als ein Wesen von Fleisch und Blut unter uns trat, nicht ohne durch seine blühende Kraft und seine Lebenslust diejenigen ein bischen zu überraschen, welche sich ihn als einen blassen Schwärmer gedacht hatten.

Seine reifsten Jahre verlebte er in unsrer Mitte, von allen Gebildeten und, wenigstens in seiner letzten Zeit, als ein schneeweißer Bart den Ausdruck seines schönen Kopfes vollendete, auch vom Volke gekannt, welches den stattlichen Mann in öffentlichen Versammlungen hatte auftreten sehen und seine warme Behandlung populärer Fragen nebst seiner mächtigen Geberde bewunderte.

In der Gemeinde, wo er sich ein Haus gekauft hatte, war er ein sehr beliebter und hoch geachteter Mann. Sein schönes Familienleben, seine Arbeitsamkeit, seine Lust an geselliger Unterhaltung (Tages Arbeit! Abends Gäste! Saure Wochen! Frohe Feste!), seine Beredsamkeit, seine Geistesgegenwart, die überall das rasche schlagende Wort fand, seine Gemeinnützigkeit, die es nicht verschmähte in der Aufsichtsbehörde einer Elementarschule zu sitzen, das waren gerade die Eigenschaften, die in den Augen des Schweizers den richtigen Mann und Bürger machen.

Noch unlängst wurde es ihm hoch angerechnet, daß der persönlich außerhalb der Kirche Stehende seinen Beitrag zu einem von der Gemeinde projektirten Kirchenbau nicht verweigerte.

Eine sich nie verleugnende Humanität war eben der Grundzug seines Wesens. Selbst mit seiner Zeit war der Ueberbeschäftigte freigebig. Manchen Anfänger auf seinem eigensten Gebiete, der Literatur, hat er ermutigt, freilich nicht immer nach strenger Wahl, sei es aus Herzensgüte, oder weil er in einer Demokratie das literarische Niveau etwas tiefer setzte.

Seine politische Haltung, welche schließlich in einen kosmopolitischen Republikanismus, in eine prophetische oder chimärische Begeisterung für die vereinigten Freistaaten Europas verlief, bin ich zu beurteilen nicht kompetent, als ruhiger Beobachter von Zuständen und Ereignissen, welche das deutsche Gemüt aufs tiefste erschüttert haben, am wenigsten einem Mann gegenüber, der für seine Ueberzeugung im eigentlichsten Wortverstand das Leben eingesetzt hat. Das will immerhin etwas heißen. Und noch aus einem andern Grunde. Der Schreiber dieser Zeilen hat in seinem Urteil über deutsche Dinge nie variirt. Ein anderer deutscher Poet, wenn ich hier ein persönliches Erlebnis erzählen darf, hatte dem fünfzehnjährigen Knaben seine politische Ueberzeugung gleichsam oktroyirt. Das war der meinen Eltern befreundete, von Heinrich Heine mit der Präpotenz des Genies schmählich verunglimpfte Gustav Pfizer, einer der bravsten Männer, die ich kenne. Pfizer sagte mir in seiner trocknen und etwas dogmatischen Weise: »Man muß im politischen Leben das Notwendige vom Zufälligen unterscheiden. Der deutsche Staatsgedanke«, lehrt er, »hat sich seit Jahrhunderten, vom großen Kurfürsten an bis auf die Befreiungskriege, in Preußen ausgebildet. Nur dieser Staat kann Deutschland die Einheit geben, freilich: sic vos non vobis, wie es in der Geschichte meistens geschieht. Das ›wann‹ ist zufällig, von den Umständen und den Personen, den Dingen und Menschen abhangend.« Ich machte dann das kindliche Argument: wenn ein Schwabe, der ein starkes und trotziges Stammesgefühl besitzt, so denkt und empfindet, muß es schon die Wahrheit sein. Und in der That, die Geschichte hat das Dogma ratifizirt. Kinkel war der bessere Lyriker und der schlechtere Politiker. So warm und aufrichtig er sein Vaterland liebte, fehlte doch dem Kurkölner jede politische Tradition. Er pflegte wohl zu scherzen: »Ich bin als Franzose gezeugt, als Deutscher geboren«, und die Daten stimmen. Dann darf man nicht vergessen, daß sein zahlreiches internationales Auditorium in Zürich notwendig auf den Lehrer abfärbte. Nur daß er selbst 1871 nach vollendeter Thatsache in einem starren Gegensatze zu dem neuen Reiche stehen blieb, ist unbegreiflich. Warum hat er mit demselben nicht seinen Frieden gemacht, versteht sich als Poet durch ein herzliches Gedicht? Das wurde ihm damals von seinen Landsleuten schwer angerechnet, wenn auch der Verdruß über sein Schweigen in jenem Jahre vor seiner Liebenswürdigkeit und seiner im Grund naiven Erscheinung nicht lange Stand hielt.

Seltsamerweise wurde es von dem nicht einen entgegenkommenden Schritt Thuenden bitter empfunden, wenn er es auch nicht Wort haben wollte, daß er nicht in die Heimat, etwa auf den Lehrstuhl einer Hochschule, förmlich zurückberufen wurde. In diesem friedlichen und harmlosen Sinne verstehe wenigstens ich folgende schöne Strophe seiner letzten Dichtung »Tanagra«):

»Und du, o Mann, versagst du dich der Welt.
In der du stehst in Reih' und Glied gestellt?
Zu viel von Leid schon, das du niederwarfst.
Als daß du heut dich feig erweisen darfst!
Du bist zu stark, auf Glück schon zu verzichten
Und selbst den Leichenstein dir aufzurichten;
Zu voll durchpulst dich Liebe noch und Zorn,
Um zu verbluten an dem einen Dorn!
Und ward dir auch verwählt der Freude Garten,
Ein großes Schicksal bleibt dir zu erwarten –
So brich nicht, Herz, weil der Vergeltung Tag
Noch kommen mag!«

Kinkels Umgang war, wie gesagt, liebenswürdig, geistreich, versöhnlich und von gewinnender Fröhlichkeit. Er war eine gastliche Natur, die Widerspruch und Scherz – wenige Nolime-tangere ausgenommen – ganz wol ertrug. Es ist hier der Ort, ihn von einem Vorwurfe, der ihm zuweilen gemacht wurde, freizusprechen. Ein preußischer Offizier, der unlängst in der »Deutschen Rundschau« den pfälzisch-badischen Feldzug von 1849, übrigens sehr hübsch, erzählt hat und bei Kinkels Gefangennehmung zugegen war, berichtet, ein gewisser theatralischer Zug habe den günstigen Eindruck beeinträchtigt, welchen die männliche Haltung des Verwundeten selbst auf seine Gegner gemacht habe. Aber diese Geberde, dieses pathetische Reden war mit Kinkel verwachsen. Es war seine Natur selbst, durch Kanzel und Katheder ausgebildet. Diese Geberde verließ ihn im unbedeutendsten Zwiegespräch und, wie mir gesagt wurde, selbst auf dem Sterbebette nicht: sie war ihm ein geistiges und körperliches Bedürfnis.

Gottfried Kinkels literarisches Gepäck, seine kunsthistorischen Arbeiten ungerechnet, geht enge zusammen, aber es ist gute Waare: zwei Gedichtsammlungen, drei poetische Erzählungen, zwei Trauerspiele. Unter seinen Lyrika sind ergreifende, unmittelbar aus dem Herzen gekommene Sachen, wenn auch ein endgiltiges Urteil manches Bekannte hinter unbekannter Gebliebenes zurückstellen dürfte. Einige geradezu »erbauliche« Jugendgedichte werden sich die Frommen nicht entreißen lassen. Von seinen drei poetischen Erzählungen wird die erste als die feurigste und frischeste auch den ersten Platz behaupten: über »Otto der Schütz« ist kein Wort zu verlieren, er ist Gemeingut des deutschen Volkes geworden. Die dritte, das in seiner Buchausgabe posthume »Tanagra«, ein süßes Idyll von einfachster Komposition, erhält seinen eigentümlichen Reiz von der aus dem Schmerz über den Verlust eines Lieblingskindes und der unzerstörbaren Lebenslust des Sechzigers gemischten Doppelstimmung, welche die kräftigen Verse abwechselnd verschattet und erleuchtet. Die zwei Trauerspiele »König Lothar« und der vor einigen Jahren in Leipzig zur Aufführung gekommene »Nimrod« sind eher Gemälde als Dramen. Es war nicht Kinkels Sache, den Stoß einer Handlung unbarmherzig zu führen. Ich erinnere mich, in einer Aufführung der »Maria Magdalena« von Hebbel neben ihm gesessen zu haben; die harte Figur des bürgerlich beschränkten Alten erregte seinen entschiedenen Unwillen, ja seinen Abscheu.

Kinkel war ein Geist aus der Familie des Ariost. Seine Freude an einem bald gelassen schlendernden, bald beschleunigten epischen Wanderschritt, der Wechsel von Pathos und flottem Fabuliren, die heitere Sinnlichkeit, die Verwandtschaft mit dem bildenden Künstler, das nicht empfundene Bedürfnis tiefern Charakterisirens, der durchsichtige, weder magere noch überladene, in seiner Art untadelige Vortrag, sogar die betrachtende Einleitung jedes einzelnen Gesanges erinnern – versteht sich mit dem Unterschiede der deutschen und der welschen Natur und der Energie der Begabung – an den großen Ferraresen.

Kinkel schied von uns in seiner Vollkraft. Es liegen mir ein paar von ihm an einen jungen Freund gerichtete Briefe vor. Der erstere, vom 2. September 1882, berichtet über einen Spätsommeraufenthalt in Unterwaiden, der letztere, vom 10. Oktober, über eine Herbstreise nach Norditalien. Sie sind sichtbar flüchtig auf das Papier geworfen, aber in jedem Zuge charakteristisch. Ich versage mir das Vergnügen nicht, Gottfried Kinkel sich selbst schildern zu lassen, wie er war wenige Wochen vor seinem Tode.

»... Ich lebte dort (in Sachseln am Sarnersee) nahe der Einsiedelei des Nikolaus von der Flüe unter einer katholischen und sehr liebenswürdigen Bevölkerung: einfache und ganz friedliche Leute, nach altem Kirchenrecht ihre Geistlichen sich selbst wählend, und sehr unabhängig vom Papst. Ich habe tiefe Blicke in diesen von Fanatismus ganz freien Katholizismus getan und werde damit für ein erzählendes Werk etwas anzufangen wissen. Diese vier Wochen habe ich grundsätzlich ausgeruht: Morgens alle Tage Bad im See, oft recht kalt, Gang auf eine Bank mit Prachtblick auf den Pilatus, dort gelesen, meist aus Béranger, und Fabulosa im Kopfe gesponnen. Nachmittags etwa Besteigung eines Aussichtspunktes, oder eine Ruderfahrt auf dem Sarnersee, einmal auch zu Wagen auf die Höhe des Brünigpasses, wo die Aussicht ins Berner Oberland sich aufreißt. Im ganzen gründliche Faulheit. Und so war es mein Wunsch ...

... Aber warum liegt Ihnen etwas daran, daß ein Editor ein Gedicht von mir unter die Gedichte seines verstorbenen Freundes setzt? Das kann bona fide geschehen sein, wenn z.B. der arme junge Mensch sich eine Sammlung Rheingedichte zusammengestellt hat, die hernach der Editor wegen der Handschrift seinem Freunde zuschrieb. Wenn es aber auch mala fide geschehen wäre, was schadet's mir? Liebster, Sie sollten sich in literarischen Dingen die Hitzigkeit abgewöhnen, in eigenen Sachen und in Sachen Ihrer Freunde erst recht. Bricht einer einen Apfel von unserm Baum, so wissen wir ja, daß eine zweite Ernte mit noch bessern Aepfeln kommt ...

... Es geht aufs Semester los und da ist es besser, heute noch Ihren lieben Brief zu beantworten. Ich komme eben aus Italien, speziell von Venedig und Mantua zurück. Habe wie eine Maus im Käfig zwischen zerbrochenen Eisenbahnbrücken gesteckt, ohne vorwärts noch zurück zu können, und so z.B. in Vicenza, das ich gar nicht besuchen wollte, vier volle Tage zugebracht. Alles dort (und doch noch Sachen ausgelassen!) mit Muße und Freude besehen. Sieben volle Tage in Venedig! So nach Verona, Padua und Giulio Romano in seiner ganzen Größe in Mantua gesehen. Mit einer tüchtigen Erkältung, aber geistig unendlich bereichert, kehre ich heim und zeichne jetzt nachgenießend meine Notizen und Erinnerungen auf ...

...Wenn ich mir sage, wie viel diese drei Wochen in dem fremden und doch uns Deutschen so sympathischen Lande, mit dem Zwang eine fremde Sprache zu sprechen und alle Faulheit abzuschütteln, mir geistig eingetragen haben, so muß ich auf Sie und Ihren Gedanken die Erinnerung richten, daß Sie den Winter nachgehen wollen. Um Himmels willen, was kann eine deutsche Hauptstadt Ihnen jetzt nützen, wo Sie zweimal in der Woche eine Bierbank mit Genies durchsitzen und sonst zu Hause hocken! Ein fremdes Leben mit Kampf um Sprache und Verständniß, ohne Rat zu holen bei irgend jemand, das brauchen Sie. Und so stürzen Sie sich frisch, ohne nur Italienisch zu können, ins kalte Bad, wenn Sie meinem Rat folgen. Am besten direkt nach Rom und dort wenigstens acht Wochen! Am Ende hab' ichs 1836 auch nicht anders gemacht und wußte den Teufel von Kunstgeschichte. Die sechs Monate in Italien haben damals die Grundlage zu allem gelegt, was ich heute bin, obwol ich schon Doctor legens der Theologie war! Schleppen Sie sich doch nicht wieder in Ländern und Gesellschaftsformen herum, die Sie schon kennen und aus denen Sie keinen frischen Lebenssaft mehr ziehen können! Werfen Sie die lange alte Cigarrenspitze, welche Philister macht, einmal weg und rauchen das Kraut frisch mit der Lippe. Sehr wahr, mich setzt Venedig und Giulio's Zimmer der Psyche in Mantua noch immer in einen fröhlichen Rausch. Je stiller, einsamer, ruhig betrachtender Sie Kunst und Natur gegenüber sein werden, ohne nach anderer Urteil penibel umzublicken, desto eher machen Sie etwas, das Sie selbst sind ... Genug von diesem Winterkohl! Ich komme ja aus dem ewigen Frühling! ...«

Kilchberg bei Zürich.
Conrad Ferdinand Meyer.

 


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