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Ludwig Vulliemin

Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung. 16.und 18. März 1878.

Längst hätten wir gerne das neueste Werk des Nestors unserer heimischen Geschichtschreiber, die »Histoire de la Confédération suisse« von Ludwig Vulliemin mit ein paar öffentlichen Worten besprochen. Kompetentere sind uns zuvorgekommen, aber wir revanchiren uns, indem wir einen Blick werfen auf das ganze schriftstellerische Wirken des verehrten Mannes, das sich sehr schön und organisch um drei den verschiedenen Lebensaltern angehörige Hauptwerke gruppirt. Für das mitunterlaufende Biographische haben wir eine gute Quelle. Vor sieben Jahren nämlich, schon im hohen Alter, hat Ludwig Vulliemin die größere Hälfte seines Lebens selbst erzählt, »seinen Enkeln«, wie es auf dem Titelblatte des nur unter die Bekannten vertheilten, nicht dem Buchhandel übergebenen Bandes heißt. Neben diese vor uns aufgeschlagenen »Erinnerungen« legen wir die Photographie eines Oelgemäldes von Glaire, welches den markanten Kopf des Geschichtschreibers mit dem ganz vergeistigten Ausdrucke und dem unbeschreiblich freundlichen Blicke in leichter Idealisirung wiedergibt.

»Wer sich gute Freunde erwerben will, der gehe nach Zürich«, diesen Rat des Dekan Bridel hat Vulliemin von früh an befolgt und ihn – so versichert er – probehaltig gefunden. In der That, wie viele unter uns haben ihn hier gekannt und geliebt und wiederum an seinem gastlichen Herde bei Lausanne aufgesucht, schon Hottinger, dann die um die Wende des Jahrhunderts geborenen Zeitgenossen, dann die Söhne und Enkel derselben. Auch der Verfasser dieser Zeilen hat das Gastrecht in Mornex – so heißt das kleine Landhaus des Geschichtschreibers – von seinem Vater geerbt. Vulliemin ist der unsrige. Er kennt sein Zürich wie nicht Einer und es finden sich z. B. in seinen Aufzeichnungen ein paar gelegentlich hingeworfene Worte über die gesellschaftlichen Verhältnisse und Wandlungen unserer Vaterstadt, die von auffallender Wahrheit sind.

Die Heimat unseres Freundes ist die Waadt, die, als selbstständiger Kanton, ungefähr gleichzeitig mit ihm auf die Welt gekommen ist. Vulliemin erinnert sich mit Vorliebe eines Wortes, das ihm sein Vater, ein vormaliger Beamter der Excellenzen von Bern, auf den Lebensweg mitgegeben hat. »Liebes Kind,« sagte der Alte, »sei Du unserm neuen Kanton Waadt von Herzen anhänglich, aber thue mir den Gefallen und lästere nie auf unsere alten Herren von Bern, denn ich bin ihnen Dank schuldig.« Das war das Wort eines Edelmannes (den Ausdruck im geistigen Sinne genommen) und daneben die dem künftigen Geschichtschreiber unbewußt ertheilte väterliche Weihe. Ein Sohn seiner Zeit zu sein und zugleich die vergangene, der wir alle viel schuldig sind, zu begreifen und zu ehren, das ist ja der Boden aller geschichtlichen Bildung.

Vulliemin's Jugend war eine glückliche. Viel Gutes begünstigte dieselbe: geachtete und liebevolle Eltern, von Reichthum und Armuth gleich weit entfernte Verhältnisse, begabte, zum Theil ausgezeichnete Kameraden – wir nennen nur Alexander Vinet –, ein erfreulicher, wenn auch nicht ganz vollständiger Bildungsgang, wie ihn eben die Heimat bieten konnte, der neu gegründete Zofingerverein und jene ideale Strömung, die damals, nach den Freiheitskriegen, die jungen Köpfe beherrschte und die uns so fremd und wohlthuend berührt, wenn es uns einfällt, die vergilbten Papiere einer Jugendkorrespondenz aus der Zeit unserer Väter zu durchblättern.

Der junge Mann dachte sich der Kanzel zu widmen, aber er mußte sich darein schicken, daß ihm die Aerzte, seiner schwachen Stimme wegen, dieselbe untersagten. Aus seinen theologischen Studien lernte er Gehalt und Form unterscheiden, ohne sie von einander zu trennen, und aus den Anfängen eines treu geübten evangelischen Amtes schöpfte er den Glauben an die sittliche Macht des Christenthums, den er zeitlebens festgehalten hat.

Jenem krankhaften Uebergangszustand, den Göthe die Jugenddumpfheit nennt, konnte auch Vulliemin nicht ganz entgehen. Seine Gesundheit litt darunter, aber er überwand ihn durch spezifische Heilmittel, die Erkenntniß seines wahren Berufes und seiner wahren Liebe. Dieselbe Frau hat seine Jugend begeistert, seine Mannesjahre beglückt und erhellt ihm jetzt das äußerste Alter. Ich habe ihre geistvollen Augen nur unter den weißen Brauen der Matrone leuchten sehen, aber in ihrer Jugend muß sie anmuthig gewesen sein, wie wenige.

Der Geschichtschreiber seines Volkes zu werden, dieser Gedanke hatte schon früh in Vulliemin gedämmert und ich glaube, daß dabei, neben dem Rufe der Begabung und dem jugendlichen Enthusiasmus, auch das Selbstgefühl des emanzipirten Waadtländers mitgespielt hat, der es gerecht fand, daß auch ein französischer Schweizer mitschreibe an den Annalen des gemeinsamen Vaterlandes, und den es verdrießen mochte, eine wie stiefmütterliche Behandlung in unsern frühern Geschichtsbüchern die romanische Schweiz gefunden hatte. Der junge Mann eröffnete sich dann über sein Vorhaben gegen unsern Kaspar v. Orelli, der ihn gleich herzhaft darin bestärkte. Vulliemin hat uns in seinen Aufzeichnungen mit liebevoller Pietät, aber nicht ohne stillen Humor ein Schreiben des berühmten Philologen aufbewahrt, in welchem ihm dieser einen grandiosen, in solchem Umfang aber unmöglich zu verwirklichenden Studienplan entwirft und das mit der originellen Wendung schließt: »Dieses schreibe ich Ihnen, damit Sie sich nicht zersplittern.«

Es kommt die Zeit der Studien und der Versuche. Vulliemin liest Hottinger's eben erschienene Fortsetzung der »Müller'schen Schweizergeschichte«, jenes unter ungewöhnlichen und wechselnden Bedingungen entstandenen Werkes, wo jetzt ein Todter die Feder fallen läßt, jetzt ein Lebender sie seinem Nachfolger in die Hand gibt. Er übersetzt das deutsche Buch auf seinen weißen Rändern mit dem Stift in's Französische und begibt sich dann mit der Reinschrift nach Zürich. Hottinger, dessen warmes Wesen den jungen Waadtländer sofort einnimmt, fordert ihn auf, weiter zu erzählen. »Die Reformation der romanischen Schweiz und ihr Eintritt in die Eidgenossenschaft wollen von einem französischen Schweizer behandelt werden«, so meint und ermuntert der freundliche Zürcher.

Vulliemin beginnt die geschichtlichen Dokumente dieser Epoche zu sammeln, findet aber bald, daß die Vereinigung des vollständigen Materials die Kräfte des Einzelnen übersteige. Er schlägt die Gründung einer geschichtsforschenden Gesellschaft der romanischen Schweiz vor, welche auch, wenig später, zu Stande kommt, deren Statuten in Vulliemin's Wohnung unterzeichnet werden und deren geehrter Senior er bis heute geblieben ist.

Um inzwischen mit der Veröffentlichung der Dokumente einen Anfang zu machen, geräth er auf einen hübschen Gedanken. Er gründet mit vierzig Aktien von je hundert Franken ein Journal, das zweimal monatlich erscheint und während der Jahre 1835 und 1836 in Leitartikel, Tagesbericht und Feuilleton der modernen Welt die sich gerade dreihundertmal verjährenden Ereignisse wie Mitlebenden aus den besten Quellen berichtet. Diese alte Zeitung in modernem Gewande liest sich ganz angenehm, ist überdieß eine werthvolle Dokumentensammlung, nimmt sich aber doch ein bischen wunderlich aus, und man begreift, wie es sich begeben konnte, daß eines Tages in einer kleinen waadtländischen Stadt die Damenwelt in Thränen zerfloß über die Verbrennungen der Protestanten in Paris, ohne in der Jahreszahl des aus der Presse kommenden Blattes die Fünfe statt der Achte zu bemerken.

In dieses fleißige Stillleben kommt auf einmal eine treibende Bewegung. Karl Monnard wird an die Akademie von Lausanne berufen. Voll Feuer und Initiative wie er ist, hat er nicht genug an seinem Lehrstuhl, an seinen Staatsgeschäften, er will sich auch literarisch bethätigen und die schwierigste Aufgabe ist ihm gerade die rechte. Die große Müller'sche Schweizergeschichte soll nun einmal beendigt, Müller und Glutz in's Französische übersetzt, Vulliemin's Uebersetzung von Hottinger eingeschoben und das Uebrige in derselben Sprache von den zwei Waadtländern Vulliemin und Monnard hinzuerzählt werden. Ein Buchhändler zeigt sich. Die Rollen werden vertheilt: da wo die selbstständige Arbeit beginnt, wird Vulliemin die lange Strecke von Calvin bis zum zweiten Villmergerkriege, Monnard das achtzehnte Jahrhundert bewältigen. Unser Freund steht vor einer großen, so rasch als möglich und in dem vorgeschriebenen Raume von drei Bänden zu lösenden Aufgabe.

Zuerst aber, und noch vor den Archiven, will er Land und Leute kennen lernen. Er durchzieht die Schweiz und es ist eine Lust, ihn in seinen »Erinnerungen« von diesen glücklichen Wandertagen reden zu hören. Da er mit frischen Augen und einem jungen Herzen reist, findet er überall guten Empfang, auf den Fußwegen, auf der Landstraße, in der Hütte, im Salon, an der Gasttafel der neuen Tagherren in Luzern, auch bei den alten Herren in Bern, die er nie gelästert hatte. Einer von diesen, ein Zeuge alter Tage, erzählt dem angehenden Geschichtschreiber von dem gewaltigen Eindrucke, den, zu Ende des vorigen Jahrhunderts, das Erscheinen des ersten Bandes der Müller'schen Schweizergeschichte in Deutschland machte. »Ich studierte«, sagt ihm der greise Berner, »mit andern Schweizern auf einer deutschen Universität. Der Schweizername war damals im Auslande so wenig geachtet und wir selbst hatten ein so niederdrückendes Gefühl unserer Schwäche und Zerrissenheit, daß mehrere unter uns es vorzogen, sich für Deutsche auszugeben. Das änderte sich mit einem Schlage, wie Müller's Buch erschien. Wir sahen uns plötzlich geachtet und glaubten wieder an unser Vaterland.«

Jetzt unternimmt Vulliemin drei größere Studienreisen ins Ausland, nach Turin, Mailand und Paris. Nur in Mailand, wohin der österreichische Gesandte in der Schweiz ihn empfohlen hatte, bleiben ihm die Archive verschlossen und die einzige Berücksichtigung, die er findet, ist ein diskretes kaiserlich-königliches Begleit, das ihn auf keinem seiner Ausgänge verläßt. In den drei Städten lernt der Reisende eine Reihe bedeutender Leute kennen, eine große Mannigfaltigkeit der Menschennatur, so – um nur den schroffsten Gegensatz hervorzuheben – in Paris den lebenskräftigen quecksilbernen Thiers und in Turin den armen edeln Silvio Pellico, den er aus dem Spielberge losgekommen, aber in seine Vorurtheile eingesperrt und in dem schon damals freisinnigen Turin isolirter findet, als in dem österreichischen Kerker. Es kostet uns Ueberwindung, Vulliemin nicht selbst erzählen zu lassen, wie er mit seiner feinen und heitern Art dem ängstlichen Asketen und dem ehrgeizigen Staatsmanne, die ihm beide bis an ihr Lebensende gewogen blieben, in gleicher Weise gerecht zu werden wußte und wir begnügen uns anzudeuten, einer wie gründlich humanen und liebenswürdigen Natur es dazu bedurfte. Dieser gastfreie Zug in Vulliemins Wesen hat ihm später, da er Namen bekam, manchen Fremden von Auszeichnung zugeführt und es belustigt mich zuweilen, die bedeutenden Menschen, die im Laufe der Jahre an dem bescheidenen Herde des protestantischen Geistlichen gesessen haben, mir in eine Gesellschaft zusammenzudenken, den schwärmerischen Mickiewicz, den raffinirten Sainte-Beuve, den frommen Montalembert, den naiven Michelet und so manchen Andern, den er bewirthet und überlebt hat. Wenn ich mich dann erinnere, wie mild, wie gerecht, wie scharfblickend er sie alle beurtheilt, bewundere ich die vollständige, aber unschuldig erworbene Menschenkenntniß des waadtländischen Historikers. Doch kehren wir zu dem jungen Manne zurück.

Nachdem dieser das Heimgebrachte gesichtet hatte, ging es an die Komposition, die in verhältnißmäßig kurzer Zeit vollendet wurde. Die drei Bände erschienen in Jahresfrist (1841, 1842), wenig später eine deutsche Uebersetzung. Und nicht lange blieb Vulliemin über den Erfolg im Unklaren. Die gewissenhafte Quellenforschung, die kräftige Verarbeitung, der lebensvolle Vortrag, der das Werk beseelende, aber keineswegs blinde oder nur befangene Patriotismus wurden allgemein anerkannt und gerühmt. Ueber die Stylfrage aber war Meinungsverschiedenheit. Eine Kritik nannte die Schreibart wildgewachsen, alterthümlich, gedrängt, als hätte es die Wette gegolten, so viel als möglich auf ein Blatt zu bringen. Vulliemin vertheidigt sich in seinen »Aufzeichnungen« lebhaft gegen den Vorwurf, Johannes v. Müller nachgeahmt zu haben. Sicherlich hat er das nicht mit Bewußtsein gethan, aber unter dem Einfluß dieses großartigen Manieristen ist er doch wohl nicht weniger gestanden, als alle andern Fortsetzer des Müller'schen Werkes, und es ist im Grunde ganz natürlich daß, wer an einem weitläufigen Gebäude fortarbeitet, den Styl des ersten Architekten nicht unberücksichtigt lassen kann. Dem sei, wie ihm wolle, die seiner Natur entsprechenden leichten und raschen Bewegungen hat Vulliemin erst später gelernt. Es braucht schon viel Bildung, um das Einfache am Schönsten zu finden.

Es ist nicht thunlich, aus dem Reichthume dieser zwei Jahrhunderte umfassenden Erzählung, die uns manchen merkwürdigen, aber nur einen weltbewegenden Menschen, den genferischen Reformator vorführt, etwas Einzelnes hervorzuheben, aber gerade über Vulliemins Calvin erinnern wir uns eines Urtheiles, das wir uns nicht enthalten können anzuführen. Ein guter Kenner sagte uns: Es wurde in der neuesten Zeit viel Nachtheiliges und zum Theil Gehässiges über Calvin aus den Archiven hervorgeholt, aber die Hauptzüge seines Bildnisses, wie Vulliemin dasselbe entworfen hat, bleiben unerschüttert. Er hat eben die durch keine Makel zu beeinträchtigende Seelengröße des Reformators empfunden, wie sie aus jeder hinterlassenen Briefzeile desselben redet.

Und noch eines wollen wir hervorheben, eine seltene, nicht zu unterschätzende Mitgift, die künstlerische Begabung unseres Historikers. Man sehe nur, wie er die bündnerischen Unabhängigkeitskämpfe in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts zu erzählen versteht.

In diesen drei Bänden hatte Vulliemin keinen dankbaren Stoff behandelt: Schöne Details, die große Rolle Genfs und die tragischen Schicksale Bündens im deutschen Kriege, aber eine wechselnde Szene, keine einheitliche Handlung, ein Zurücktreten aus dem großen politischen Leben, zwei obskure Bürgerkriege, der traurige Bauernkrieg, die fremden Kriegsdienste! Begreiflicher Weise sehnt er sich nach einer größeren Szene, nach einem Stoffe von allgemeinem Interesse. Ohne den heimischen Boden zu verlassen, schreitet er auf demselben in die Jahrhunderte zurück, wo dieser noch an den allgemeinen Schicksalen theilnahm und hier erblickt er an der Scheide zweier Zeiten das Bild Karls des Großen in seiner imposanten Vereinsamung. Die Heldenfigur verlockt die bildenden und das ziemlich vollständige und zugängliche, aber der Sichtung bedürftige und deutungsfähige Material die kritischen Kräfte unseres Geschichtschreibers. Besonders eine Szene läßt ihn nicht los: Die Kaiserkrönung in Rom. War sie mit dem Papste verabredet? Oder war Karl, wo nicht der Ueberraschte, doch der Nachgebende? Die Logik gewisser Geschichtschreiber ist oft sehr verschieden von der Logik der Geschichte, so sagt sich Vulliemin und sein historischer Instinkt läßt ihm die zweite dieser Auffassungen als die der Wahrheit nähere erscheinen. Immer mehr vertieft er sich in die Fragen und Räthsel dieser großen Studie, als er – nun als er zu zweifeln beginnt, ob seine Kräfte reichen. Das Leben in einem kleinen Staate, so quält er sich – mit wie viel Recht, lassen wir dahingestellt – ist keine Schule, in welcher man weltgeschichtliche Motive und große Menschen unbefangen beurtheilen lernt, ich muß reisen, in Hauptstädten, in intellektuellen Mittelpunkten leben, meinen Horizont erweitern, aber ich bin von zartem Gewebe und liebe meinen Herd – in Wahrheit, meine Bestimmung ist nicht Meere zu befahren, sondern den blauen Leman.

Ein in ehrlichem Kampfe verlorenes Schwert aber findet sich wieder, wie weiland das Cäsars in jenem gallischen Tempel. Aus Vulliemins Karlsstudien entsteht, in engerem Rahmen, sein nach unserer Schätzung bestes und eigenthümlichstes Buch: »Chillon«. Es war ein kunstvoller und doch naheliegender Gedanke, vier imponirende Figuren aus verschiedenen Zeitaltern, den Comes Wala, Peter von Savoyen, Bonivard und Lord Byron in den Gewölben des alten Seeschlosses zu versammeln, das sie alle Vier bewohnt oder betreten hatten. Auch die Darstellung ist hier natürlicher, einfacher und doch individueller, passionirter, als in der großen Schweizergeschichte. Sie hat einen wohl aus dem Karlsplane gebliebenen freien, rein menschlichen Zug und ist völlig unberührt von jenem Pathos, an welchem unser Johannes v. Müller zuweilen leidet und das uns heutzutage als unwahr entschieden widersteht.

Die folgenden dreißig Jahre verflossen unserm Freunde nur zu schnell in Erfüllung der mannigfaltigsten bürgerlichen und privaten Pflichten. Wie alle tüchtigen und hilfreichen Menschen wurde er überall und über das Maß hinaus in Anspruch genommen. Auch an den kirchlichen Fragen und Neubildungen seiner Heimat betheiligte er sich lebhaft, doch wir haben es hier nur mit dem Schriftsteller zu thun. Eine Reihe von gehaltvollen und vorzüglich geschriebenen Essays meist historisch-kritischen Inhaltes, die in diesem Zeiträume in verschiedenen Zeitschriften, besonders in der Bibliotheque universelle erschienen, verdienen eine Sammlung und dürfen nicht mit jenen verflattern. Dann sind zwei sehr hübsche Biographien zu nennen, die eines bescheidenen Vorläufers und die eines treuen Schülers, des witzigen, in der heimischen Geschichte und Anekdote bewanderten Dekan Bridel und des jung gestorbenen streitbaren, aber dabei herzensguten Journalisten Aimé Steinlen. Hier ist Vulliemin vermöge der Elastizität seines Geistes und vermöge seiner natürlichen Begabung für die Causerie ein Meister. Die Hand ist ihm durch die strenge Arbeit nicht schwer geworden, er spielt mit seiner Aufgabe, man sieht die Feder über das Papier laufen und doch erreicht er eine Aehnlichkeit und Lebenswahrheit, neben welcher manche berühmte Biographie zum steifen Conterfei wird.

Als aber Vulliemin siebenundsiebzig Jahre zählte, kehrte er zu seiner Jugendliebe zurück und begann, zuerst fast unwillkürlich (presque sans m'en douter), dann aber bald planvoll und mit wachsendem Eifer eine vollständige Schweizergeschichte in mäßigen Proportionen zu entwerfen, die uns jetzt im französischen Originale und in einer ganz tüchtigen deutschen Uebersetzung vorliegt. Ich glaube, die zwei nicht großen Bände sind hoch anzuschlagen. Der rüstige, gleichmäßige Wanderschritt, die durchsichtige Klarheit und geistreiche Kürze, mit welchen hier unsere Geschichte sich entwickelt, gewähren das lebhafteste Vergnügen. Wir umfassen ohne Mühe mit einem Blicke die kleinen Anfange, das heroische Zeitalter, die Ueberkraft, welche durch die nothwendige sittliche That der Reformation gebrochen wird, die Zersplitterung, die Ohnmacht, und dann, in diesem Jahrhundert, eine neue Entwickelung, welche sich noch nicht endgültig beurtheilen läßt. Und wir fühlen uns ergriffen, daß uns ein patriotischer Greis unsere alten Schicksale erzählt zu einer Zeit, wo die Schweiz, in der Mitte von neuen energisch in nationalem Sinne sich entwickelnden Staatenbildungen offenbar in eine Krise tritt, die das Maß ihrer jetzigen Lebenskräfte geben wird. Wo wir das Buch aufschlagen, haben wir ein angenehmes Gefühl der Sicherheit, daß wir nirgends einer gelehrten Caprice, einer persönlichen Verbissenheit, einem versteckten Hasse gegen gewisse Zeiten und Menschen begegnen werden; überall finden wir Bewältigung des Stoffes, Reife des Urtheils, Gerechtigkeit, Humanität, kurz alles, was die Geschichte zu einer Muse macht gegenüber der einfältigen oder unehrlichen Fratze des Parteiurtheiles.

Am liebsten endigen wir mit einem charakteristischen Worte Vulliemins über sich selbst. Wir erinnern uns einer Stelle in seinen Aufzeichnungen, wo er sich im Vorbeigehen über einen seiner Kritiker ein Bischen lustig macht, der »unter dem Schriftsteller den Menschen suchte.« »Mein Kritiker,« sagt er, »beklagt sich, daß er in meiner Natur allerhand Gegensätze finde: Treuherzigkeit neben Weltkenntniß, Ueberzeugungen neben Vorurtheilslosigkeit, Begeisterung neben gesundem Verstände und – das Schlimmste – unter einer ehrwürdigen Miene den feinen Schalk. Er entschuldigt mich dann aber und findet schließlich einen Menschen doch nicht so übel, dessen Geist sich ausgereift hat, aber dessen Herz jung geblieben ist.«

 


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