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Hermann Lingg. Schlußsteine, Berlin 1878

(Neue Zürcher Zeitung 23. Dezember 1878.)

Die Lyrik Hermann Lingg's, der bald feierliche, bald wilde, zuweilen fast michelangeleske Schwung, mit welchem sie die schaffenden und zerstörenden Kräfte, den »Kampf in dem kosmischen und in dem geschichtlichen Leben verherrlicht, finden sich in jeder Literaturgeschichte charakterisirt, und da die rühmenden und die tadelnden Voten für den Einsichtigen im Grunde dasselbe Bild eines sehr mächtigen und eigenthümlichen Dichters ergeben, kann es hier nicht darum sich handeln, Bekanntes zu wiederholen, sondern nur darum, in Kürze das Verhältniß dieser neuen Sammlung zu den drei vorangegangenen anzudeuten.

Den Hauptwerth der »Schlußsteine« legen wir nicht auf die überwältigende Fülle ihres Inhaltes, sondern auf einen andern Punkt. Sagen wir es mit einem Worte: Hermann Lingg tritt uns hier individueller, vertrauter und darum auch lyrischer als früher entgegen. Er zahlt, ohne zu kargen, mit seiner Persönlichkeit. Er führt uns in dieser männlichen, durch das Leben begleitenden Lyrik im Spiegel seines Vorbildes durch alle Stimmungen eines tüchtigen mit dem Dasein kämpfenden Menschen, die Verwundungen, die Entmuthigungen, die Ermannungen, kurz durch alle Ringerstellungen des Geistes und der Seele. Er zeigt sich uns selbst, wie er leidet und kämpft, tapfer, schwer verletzt, zornig aufflammend gegen das Schlechte, Feige, Gemeine, mitleidig mit den Unterliegenden, scheu und ehrfürchtig den waltenden Mächten gegenüber, durch die Erfahrung furchtlos geworden und sich ausstreckend nach dem Kranze – nicht nach dem papierenen der Journalistik, sondern nach jenem unverwelklichen, von welchem Goethe sagt:

Es rufen von drüben
Die Stimmen der Geister,
Die Stimmen der Meister:
Versäumt nicht zu üben
Die Kräfte des Guten!

Hier winden sich Kronen
In ewiger Stille,
Die sollen mit Fülle
Die Thätigen lohnen! ...

Wir gestehen, daß wir, in gewissen Stimmungen wenigstens, diese persönliche Lyrik jener kosmischen und symbolischen, die Lingg's Ruf gegründet hat, vorziehen.

Daneben läßt ihn eine wachsende Heiterkeit, die Frucht unverdrossenen Kampfes, mehr Raum und Lust als früher gewinnen für jene harmlosen und anmuthigen Gestaltungen, die wir als »Genre« ansprechen können. Eine unbedeutende Realität beschäftigt Auge oder Ohr des Dichters, was weiß ich, ein murmelnder Brunnen, ein mit den Trauben in die Kufe gestampftes Bienchen, zwei Riesenkamine einer Fabrik im Morgennebel, ein Kindergesicht hinter einer Fensterscheibe, der Pfiff des ersten Bahnzuges als erfreuliches Morgengeräusch für einen Schlummerlosen u.s.w. Aus einem solchen Nichts entsteht im Handumdrehen eine starke Stimmung, ein liebliches Gefühl, ein schwermüthiger oder schwerwiegender Gedanke. Und dieses leichte Spiel bewegt sich mit großem Reiz auf dem Hintergrunde einer ernsten und sorgenden Seele.

Reich vertreten ist die Ballade, welche Lingg bekanntlich mit Meisterschaft behandelt. Neben makellosen Gedichten dieser Gattung (darunter die flott hingeworfenen »Schweizer und Landsknechte«) stehen andere, die eingedunkelten Bildern gleichen und vielleicht für den Liebhaber noch mehr Anziehungskraft besitzen. Beim ersten Anblick erkennt man nur irgend eine energische Geberde, wenn man aber die Linien verfolgt, treten nach und nach großartige Gestalten hervor. Hier nennen wir eine »Beatrice Cenci.« Es ist eine originelle Idee, daß in dieser Ballade das gegen die Schuldig-Unschuldige ausgesprochene Todesurtheil des Pabstes die Hölle aufregt und die Rechtsbegriffe der Dämonen und Verdammten über den Haufen wirft. Die Balladen-Abtheilung der »Schlußsteine« noch einmal durchblätternd, bedauern wir, daß Lingg den »Ring der Fastrada«, der bei seinem ersten Erscheinen in einer Zeitschrift großes Lob erntete, wahrscheinlich als zu »klassisch« unterdrückt hat, und begegnen dem aus derselben Zeitschrift schon bekannten fragwürdigen »John Hawkwood« – ein echter »Lingg«, bei welchem wir, mit der Erlaubniß des Lesers, noch einen Augenblick verweilen.

Eine Soldateska plündert ein in Flammen stehendes Kloster. In der Kapelle desselben machen sich zwei dieser Verthierten eine junge Nonne streitig. Die Verzweifelnde ruft St. Georg an.

Durch's Fenster flammt ein Feuerschein,
Ein hoher Ritter tritt herein

und stößt ihr den Dolch durch die Brust. Es ist der durch seine Grausamkeit verrufene Condottiere Hawkwood, welcher auf diese Weise den Zank seiner Leute beendigt. Wo liegt in dieser Schlächterei das poetische Motiv? Darin, daß die Nonne stirbt, bevor sie sich recht bewußt wird, ob der himmlische Retter oder ein Mörder vor ihr steht. Wer weiß, ob Lingg selbst dieses wunderschöne Motiv klar erkannt hat? Wenigstens hat er es nicht herausgearbeitet. Ein Anderer aber, vielleicht einer seiner Leser, hat es klar erkannt und geschmackvoller verwerthet.

In einem namhaften historischen Romane neueren Datums finden wir ungefähr folgende Episode. In einer belagerten Stadt lebt, neben dem Thore, eine Wittwe, die sich halb blind geweint hat über einen im Jünglingsalter verlorenen Sohn, welcher sich vor Jahren in einen am Thore ausmündenden halbverschütteten Aquädukt hinunterwagte. Dort sitzt sie und erwartet seine Wiederkehr. Durch diesen selben Aquädukt dringt der Belagerer in die Stadt und sie glaubt in dem ersten aus der Tiefe aufsteigenden Feinde, einem jungen Manne, den Sohn zu erkennen. Der Krieger stößt sie nieder, bevor sie ihren Irrthum gewahr wird. Vortrefflich!

Von großer Schönheit sind in den »Schlußsteinen« die Naturlieder. Hier verschmelzen Landschaft und Menschenseele vollständig und diese Landschaft ist die unsrige: der Bodensee und die Hochgebirge. Denn Hermann Lingg zieht sich allmälig von den egyptischen Pyramiden und aus den römischen Ruinen in die Heimat zurück, wo er sich in seiner Vaterstadt Lindau diis volentibus sein Haus bauen wird. Wir begrüßen ihn zum Voraus als einen lieben und geehrten Nachbar.

Ferdinand Meyer.

 


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