Paul Busson
Die Wiedergeburt des Melchior Dronte
Paul Busson

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Ich hatte einen Vater, eine Mutter und andere Menschen, die mich liebten. Ich lernte sprechen und gehen, ein Kind wie andere Kinder. Alles war mir neu, eine große Offenbarung.

Bis sich die Fähigkeit des Rückschauens in das frühere Leben einstellte.

Das begann mit Angstträumen im Kindesalter, die meinen guten Eltern viel Sorge bereiteten. Aber auch im Wachen war ich vor plötzlichem Versinken nicht sicher. Die Erinnerungen an die Zeit, in der ich Melchior Dronte geheißen hatte und eines Edelmannes Sohn in längst vergangenen Tagen gewesen war, stellten sich heftig, wirr und erschreckend ein und ängstigten mich sehr. Nur langsam gewann ich aus mir selbst die Kraft, die sich wiederholenden, jagenden und öfter zurückkommenden Traumbilder zu ordnen und allmählich zusammenzusetzen, so daß ich sie nach und nach als Bruchstücke eines ehemals Ganzen zu fassen vermochte, die ich als das Leben des Melchior Dronte, mein früheres Leben, zusammenfügte.

Durch den Schrecken meiner Eltern erschüttert (sie saßen oft beide an meinem Bett und lauschten fassungslos meinen wilden Phantasien, wie sie meinten), zog ich mich schon im Knabenalter ganz auf mich selbst zurück und zeigte mich meiner Umgebung als ein seltsam frühreifes, stilles und nachdenkliches Kind, das am liebsten allein saß und mit offenen Augen vor sich hinstarrte.

Mein neues Leben war für solche Nachdenklichkeit geeignet. Die Eltern, herzensgute und einfache Leute, hatten mich, einem Brauche des Landes folgend, nach dem einen der beiden Heiligen meines Geburtstages »Sennon« genannt und liebten mich über alles. Nach zehnjähriger, kinderloser Ehe war ich als heißersehntes Himmelsgeschenk zu ihnen gekommen. In meinen ersten Lebensjahren hatte ich sie, wie schon erwähnt, durch ungewöhnliches Betragen oft in große Angst und Sorge versetzt. So war ich einmal in schwere Krämpfe verfallen, als ich durch Zufall dabei sein mußte, wie ein paar Jungen einen schwarzen Hund mit Steinen bewarfen, so daß dieser aufheulend davonlief. Zu einer Tante, die mich zärtlich liebte, wollte ich um keinen Preis mehr gehen, so lange nicht, bis nicht der krächzende Papagei, den sie in ihrer Wohnung hatte, entfernt war. Mitunter hielt man solche dem Leser dieses Buches ohne weiteres verständliche Gefühlsäußerungen für Eigensinn und bestrafte mich gelinde. Die Geduld und der Mangel jeglichen Schuldbewußtseins, mit dem ich die sanften Strafen entgegennahm, machten es aber den Gutherzigen bald völlig unmöglich, in solcher Weise gegen mich vorzugehen.

Besonders meine Mutter, eine trotz ihres geringen Standes ungewöhnlich fein empfindende Frau, erkannte mit ihrem ausgebildeten Ahnungsvermögen besser als der Vater, daß es sich bei allen heftigen Gefühlsäußerungen ihres Kindes um ganz ungewöhnliche seelische Vorgänge handeln müsse, die jede plumpe Einwirkung ausschlossen. Ich erinnere mich deutlich an einen Sonntagnachmittag, an dem ich mit ihr in dem von tiefglühender Herbstsonne erfüllten Garten allein war. Sie hatte Blumen geschnitten, um sie in eine Vase zu stellen. Die Anordnung der kupferroten, blauen, weißen und feuergelben Georginen, die sie getroffen hatte, ergriff mich plötzlich ganz eigenartig, und ohne daß ich damals hätte erklären können, woher mir dies Worte kamen, sagte ich völlig traumverloren und leise vor mich hin: »Die Aglaja hat sie auch so gebunden –«. Da sah mich die Mutter mit einem ganz sonderbaren scheuen Blick an, strich mir mit der Hand über das Haar und sprach vor sich hin: »Die hast du wohl einmal sehr liebgehabt –.« Wir redeten dann lange Zeit beide nichts, bis es ganz dunkel wurde. Dann seufzte die Mutter auf, drückte mich heftig an sich, und wir gingen ins Haus, um auf den Vater zu warten, der in einem großen optischen Unternehmen beschäftigt war.

Mit anderen Kindern hatte ich wenig Umgang, hielt mich auch im allgemeinen von ihnen fern, nicht etwa aus Hochmut oder Menschenscheu, sondern weil ich ihren Spielen keinen Geschmack abgewinnen konnte. Am liebsten war ich noch mit dem Sohne eines vielgereisten Arztes, der in unserer Nachbarschaft wohnte, mit dem mir gleichaltrigen Kaspar Hedrich beisammen, der wie ich ein stiller und einsamer Bub war. Mit ihm machte ich viele Wanderungen in die Umgebung der kleinen Stadt, die meine Heimat war, und ihm als dem einzigen erzählte ich manchmal von meinen Träumen, aber auch nur so lange, bis in meinem zwölften oder dreizehnten Jahr in mir die Erkenntnis aufdämmerte, welcher Art diese sich immer wieder erneuernden und sich ergänzenden Traumbilder waren. Von da an behielt ich sie bei mir und gab auch Kaspars heftigen Bitten, ihm mehr zu erzählen, kein Gehör. Jedenfalls war er der einzige, der mit großer Aufmerksamkeit und ohne jedes Zeichen von Unglauben bis dahin den verworrenen Geschichten gelauscht hatte, die sich oft gewaltsam aus mir hervordrängten, vielleicht nur in der unbewußten Sehnsucht, eine Erklärung dafür zu finden. Als sich diese endlich wie eine Offenbarung einstellte, hütete ich mein Geheimnis in der Erkenntnis, daß sie von andern kaum jemals richtig verstanden werden könne.

Mit dem Kaspar Hedrich nun geschah mir etwas, was mich damals mit großer Unruhe erfüllte; heute jedoch muß ich lächelnd und von Trost erfüllt an ein Ereignis denken, das mir die erste, teuerste, größte und wertvollste Bestätigung der besonderen Begnadigung war, der ich teilhaftig geworden bin.

Der Kaspar und ich hatten eine besondere Freude daran, an kalten Wintertagen auf dem zugefrorenen toten Arm des Flusses, der nach einem halbstündigen Marsch für uns zu erreichen war, mit Schlittschuhen zu laufen. Wir hielten diesen Ort unserer einsamen Vergnügungen vor den Eltern geheim, wohl wissend, daß sie uns einer Gefahr, die sowohl in der Abgelegenheit des Wassers als auch in der Unsicherheit der Eisverhältnisse lag, nie und nimmer uns auszusetzen erlaubt hätten. Sie meinten nicht anders, als daß wir wie die andern Jungen uns auf einem von den beiden belebten und gänzlich gefahrlosen, künstlich angelegten Eislaufplätzen des Städtchens vergnügten. Die Täuschung gelang uns um so mehr, als weder unsere tagsüber beschäftigten Väter noch meine in den Sorgen der Wirtschaft aufgehende Mutter (die des Kaspar war seit langem tot), jemals Zeit fanden, unseren Schlittschuhkünsten beizuwohnen.

An dem Tage nun, von dem ich erzählen will, kam der Kaspar mit den Schlittschuhen auf dem Arm zu uns, um mich abzuholen. Es war ein warmer Wind aufgesprungen, und von den Dächern tropfte es leise. Um so mehr, meinte mein Gespiele, müßten wir uns beeilen, um die vielleicht letzte Gelegenheit des scheidenden Winters auszunutzen.

Ich hatte mich jedoch tags vorher erkältet und fieberte. Die besorgte Mutter, die während des Besuches ins Zimmer trat, erklärte, daß im Hinblick auf meinen Zustand Kaspar diesmal auf meine Gesellschaft verzichten müsse. Ich war der Mutter stets gehorsam und fügte mich. Der Kaspar war zwar enttäuscht, den Genossen entbehren zu sollen, verabschiedete sich dann aber artig und trat den gewohnten Weg zur einsamen Flußstelle allein an.

Nach etwa einer Stunde nahm die Mutter ein Kissen und veranlaßte mich liebevoll, mich auf die Bank am warmen Ofen zu setzen und an dieses Kissen zu lehnen. Sie selbst nahm eine Arbeit vor, riet mir, ein wenig zu schlummern, und ich hörte bald halb im Traume ihr Strickzeug leise klappern.

Auf einmal war es mir, als vernähme ich deutlich die Stimme meines Freundes, die wiederholt und in höchster Angst meinen Vornamen rief!

Ich wollte mich erheben, war aber wie gelähmt. Ich machte eine ungeheure Anstrengung. Da geschah es.

Auf einmal befand ich mich außerhalb meines Körpers. Ganz deutlich erblickte ich mich selbst, mit starren, weitgeöffneten Augen auf der Ofenbank sitzend, und die ahnungslose, in ihr Maschenzählen versunkene Mutter am Tisch. Im nächsten Augenblick schon befand ich mich, wie von einem sausenden Windstoß entführt, am Rande jenes Flußarms. Mit größter Schärfe sah ich die blattlosen Kopfweiden, das einförmig Grau des Eises, den vom warmen Wind zerfressenen Schnee, die Schlittschuhspuren auf der glatten Bahn, und mitten in der geborstenen Eisdecke des Wassers eine offene Stelle, aus der, angstvoll schreiend, der Kopf Kaspars ragte, und seine wildschlagenden Hände, die vergeblich nach einem Halt an den brechenden Eistafeln suchten.

Ohne jedes Besinnen schritt ich über das Eis bis hart an den Rand der Einbruchsstelle, reichte dem in höchster Not Befindlichen meine Hand und zog ihn ohne die geringste Mühe auf die feste Decke. Er sah mich, vor Frost mit den Zähnen schnatternd und doch vor Freude lachend, an und öffnete den Mund, um etwas zu sagen – – –

Da zog mich etwas mit entsetzlicher Gewalt von ihm, ein Angstgefühl ohnegleichen faßte mich, der Zwang des in Not befindlichen eigenen Leibes ward mir schmerzhaft bewußt – – –

Ich sah auf einmal anders, unklarer, mit körperlichen Augen. Vor mir stand die Mutter, rüttelte mich heftig am Arm und rief. »Um Gottes willen, Kind, wach auf! Wach auf!«

Ich saß auf der Ofenbank, so furchtbar erschrocken und atemlos, daß mir fast das Herz stillstand.

Die Mutter erzählte mir nun, daß sie mich beim zufälligen Aufblicken mit offenen, unbewegten Augen habe sitzen sehen. Sie habe mich gefragt, was mir sei, und als ich keine Antwort gab, sei sie besorgt zu mir hingegangen. Aber trotz anfänglichen sanften Anfassens und dann immer heftigeren Rüttelns sei ich, wie völlig tot, ohne Atem oder sonstiges Lebenszeichen dagesessen, bis ich nun endlich zu ihrer unsagbaren Freude aus der tiefen Ohnmacht zu mir gekommen sei.

Nach einer halben Stunde jedoch kam unser Nachbar, der Arzt, um sich bei mir zu bedanken, daß ich dem Kaspar mit so viel Mut und Entschlossenheit das Leben gerettet hätte. Der Kaspar war naß und ganz erfroren nach Hause gekommen und hatte erzählt, daß er auf dem Flußarm eingebrochen und vor Erschöpfung dem Tode nahe gewesen sei. In seiner Angst habe er, ohne zu bedenken, daß dies vergeblich sein müsse, mehrmals meinen Namen gerufen. Da sei ich, der wohl doch zum gewohnten Lieblingsplatz nachgekommen sei, plötzlich aus den Uferweiden getreten, sei schnurstracks zu ihm hin, hätte ihn mit einem Ruck von unbegreiflicher Kraft aus dem nassen und kalten Grabe gezogen und so gerettet. Als er sich aber bei mir habe bedanken wollen, sei ich auf einmal nicht mehr dagewesen und trotz alles Rufens und Suchens unauffindbar geblieben. Und da sei nun der Kaspar ganz durchfroren und steif nach Hause gerannt, wo er, mit heißem Tee gefüllt, unter drei Federbetten liege und schwitze.

Es kam nun zu einem mit beiderseitigem Erstaunen endigenden, freundschaftlichen gegenseitigen Widersprechen zwischen der Mutter und dem Doktor Hedrich, wobei die Mutter darauf hinwies, daß sie nicht einen Augenblick lang das Zimmer verlassen habe, wogegen der Arzt auf die bestimmte Art, mit der Kaspar sein Erlebnis berichtet hatte, hinwies. Als aber die Mutter im Anschluß an ihre Schilderung von dem unerklärlichen Zustand sprach, in den ich allerdings zur Zeit, da der Unfall geschah, geraten sei, sah mich der Doktor mit einem eigentümlichen Blick an und sagte: »Ei, ei, wärst du am Ende gar –? Aber nein! Der Kaspar mag etwas Fieber heimgebracht haben, und da schwinden die Grenzen zwischen Traum und Erleben!« Damit ging er, freundlich grüßend, aus der Stube. Aber dann tat er noch einmal den Kopf zur Türe herein, blickte mich an und sagte: »Dennoch danke ich dir, Sennon, und bitte dich von Herzen, auch fernerhin über meinen Kaspar zu wachen, denn du scheinst mir ein guter Wächter, ein Bektschi, wie die Türken sagen, zu sein!«

Dieses Wort, dessen Sinn mir damals noch nicht offenbar war, versetzte mich gleichwohl in die heftigste Erregung, und meine Mutter, die dies wohl dem steigenden Fieber zuschrieb, vermied es, dem heimkehrenden Vater von dem Vorfall zu erzählen, wohl hauptsächlich, um mir Fragen und damit neue Erschütterungen zu ersparen.

Erst geraume Zeit nach dieser rätselhaften Begebenheit teilte sie mir mit, daß eine bestimmte Erscheinung an meinem Körper sie damals mit unbeschreiblichem Entsetzen erfüllt habe. Die schmale Narbe, die ich als angeborenes Mal in Strichform zwischen den Augenbrauen, gerade über der Nasenwurzel trug, war ihr nämlich während jener Besinnungslosigkeit, aus der sie mich mit Gewalt erweckte, als ein in blendend hellblauem Lichte flimmernder Streifen erschienen, etwa anzusehen wie jene Funken, die der Kaspar und ich aus einer Leydnerflasche springen ließen, und dieser Glanz erlosch augenblicklich, als sie mich hart rüttelte, zuckte aber schwächer wieder auf, da ich zum Leben erwachte, und schwand dann allmählich. Es war ihr, sagte sie zu mir, als sei mit dem Erlöschen dieses magischen Lichtes der Tod eingetreten, und der Gedanke habe sie durchschossen, ob ihr erschrockenes Eingreifen mir nicht plötzlich verhängnisvoll geworden sei. Zum Glück sei ich dann ins Leben zurückgekehrt.

Späterhin vermieden wir es, über das Erlebnis noch weiter zu sprechen, und ich glaube, daß sie zu meinem Vater niemals davon geredet hat. Mich aber beschäftigte die wunderbare Fähigkeit, die sich mir geoffenbart hatte, so sehr, daß ich viele Nächte von den rückblickenden Träumen frei war. Dagegen weiß ich heute, da ich mir über alles völlig klargeworden bin, daß ich in jenen Nächten, ohne helles Bewußtsein allerdings, aber auch nicht gänzlich unbewußt, meinen Körper verließ und Wanderungen unternahm, deren Ergebnisse allerdings zu unwichtig sind, als daß sie hier erwähnenswert wären.

Jedenfalls aber brachte die Entdeckung dieser Kraft, über die ich verfügte, meine Gedanken auf andere und kühnere Bahnen als bisher, und sie war es, die mir auf dem beschwerlichen Pfade zur wahren Erkenntnis von größtem Nutzen war.

Meine und Kaspars Wege trennten sich bald insoweit, als er das Gymnasium weiter besuchte, indes ich auf Wunsch meines Vaters in die optische Werkstätte eintrat. Denn meine Eltern waren arm und rechneten damit, daß auch ich allmählich zu dem freilich mit Mühe, aber auch mit Liebe stets behaglich erhaltenen Hausstand einiges beitragen würde. Ich war mit ihrem Plane ganz und gar einverstanden und schied ohne Bedauern aus der Mittelschule.

 


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