Paul Busson
Die Wiedergeburt des Melchior Dronte
Paul Busson

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Ich war nach diesem Tage nicht mehr oft auf die Straße gegangen. Nachts hörte ich mehrmals Pochen von Gewehrkolben an den Haustüren, das wilde Weinen von Frauen und die entsetzten Einwände plötzlich Verhafteter, die man aus den Betten geholt hatte.

Mein einsiedlerisches Verhalten trug mir merkbar das Mißtrauen der Hausbewohner ein. Dennoch war es mir die schwerste Überwindung, die Straßen zu betreten, in denen man fast nur betrunkenem Pöbel und zudringlichen Weibern begegnete. Man wurde angebettelt, auf jede Art behelligt, grundlos beschimpft und verdächtigt.

Aber an diesem Frühherbsttage herrschte eine so beklemmende Schwüle, daß mir der Aufenthalt in meinem hochgelegenen Zimmer ganz unleidlich wurde. Ich wählte mein unscheinbarstes Gewand, den braunen, bereits schadhaften Reiseanzug, einen vom Regen mitgenommenen einfachen Hut und einen derben Stock, um mich möglichst wenig von denen zu unterscheiden, die in den Straßen das große Wort führten. Das Haar trug ich nicht mehr frisiert und gepudert, sondern nach der neuen Mode auf die Schultern fallend.

Auch heute waren die Straßen voll von schreienden und teilweise bewaffneten Pöbelhaufen. Rekruten gingen, mit Schleifen und Bändern geschmückt, an die bedrohten Grenzen ab, und die Erregung der ersten Septembertage hatte sich noch gesteigert.

Besonders in der Nähe des Gefängnisses von La Force schien sich aller Abschaum von Saint-Antoine und anderen Vorstädten angesammelt zu haben. Je näher ich der kleinen Pforte des Gefängnisses kam, desto wilder schwoll das Toben, Singen und Schreien an. Zerlumpte Sanskulotten standen hier, mit Piken und rostigen Säbeln bewaffnet, in dichten Haufen beisammen und warteten augenscheinlich auf etwas Besonderes. Ein widerlich Verwachsener, dem über das linke Auge eine hahnenkammartige violette Geschwulst herunterhing, schlich, wie ich deutlich beobachten konnte, von einer Menschengruppe zur anderen und sprach überall ein paar Worte, die mit ohrenzerreißendem Geheul aufgenommen wurden. Absichtlich stellte ich mich in die Nähe eines solchen Zusammenlaufs, in dessen Mitte eine Furie mit fliegenden Haarsträhnen ein Schlächterbeil schwang, und mühte mich zu erlauschen, was das Volk so erregte. Die schiefe Mißgeburt stelzte auch, kaum daß ich hinzugekommen war, auf die Gruppe los und wisperte:

»Bürger, wenn ihr die Aristokratin, die binnen kurzem aus dieser Gefängnistüre kommen wird, noch einmal nach England entwischen laßt, wird sie euch den dicken Capet und die Österreicherin vor der Nase entführen. Nieder deshalb mit der Intendantin der österreichischen Hure! Nieder mit der Lamballe!« Zustimmendes Geschrei verkündete, daß man mit ihm eines Sinnes und nicht gewillt war, die Prinzessin Lamballe, von der zur Zeit viel gesprochen wurde, entkommen zu lassen.

»Genug des Schwätzens, du mit deinem Veilchen auf dem Auge!« rief ein klapperdürrer Mensch. »Wir wollen uns aus ihren Gedärmen Kokarden drehen, wenn sie uns unter die Hände gerät.«

»Mich laßt, mich!« schrie heiser ein Wolfsgesicht mit ungeheuren Kiefern und niedriger Stirne. »Ihr seid alle nichts wert, bekommt es mit dem Mitleid, wenn sie das Lärvchen verzieht –«

»He, dein Herz ist wohl von Stein und hat eiserne Adern, Ruder-Mathieu?« lachte eine schlampige Frauensperson und stieß den Mann in die Seite.

»Willst du Louis Capets Souvenir sehen, du Pflastertreterin?« bellte der Kerl und reckte ein von blauroten Narbenringen umgebenes Handgelenk auf. »Ich habe sein Armband sechs Jahre lang getragen, hier und auf dem Hinterfuße – meinst du, so was macht Zuckerpüppchen aus den Menschen?«

Schnapsgeruch, Gestank von alten Kleidern, der Rauch schlechten Tabaks umwehten mich bei dem brüllenden Lachen, das sich erhob.

»Frauenmörder. Durch die Gnade des Königs dem Tode entronnen«, sagte leise eine Stimme an meinem Ohr. »Sehen Sie sich das Vieh an, die Stirne, die dicken Augenbogen, das Gebiß –«

»Was hast du zu flüstern, alter Fischkopf?« Der Galeerensträfling schüttelte die Faust gegen den Menschen neben mir. Ein kleiner, gebückter Mann tauchte rasch in der Menge unter.

»Heraus mit der Lamballe! Die Intendantin wollen wir! Schlagt die Tür ein! Wir wollen sie uns genau besehen, hinten und vorne, gerade so wie ihre Liebhaber!«

»Die Richter da drinnen schlafen«, krähte die Mißgestalt mit dem Gesichtsauswuchs. »Wir wollen sie aufwecken!«

»Heraus mit ihr! Macht flinker, ihr Eselsköpfe da drinnen! Gebt sie uns! »

In dem Toben und Drängen der aufs höchste erhitzten Masse, inmitten von geschwungenen Säbeln, Messern und Lanzen stand ich und blickte wie gelähmt auf die Türe. Ich hatte Furcht; eine fressende Angst erfaßte mich, zerdrückte mich förmlich. Es war ein unbeschreiblich schreckliches Gefühl, ein Gefühl, auf dessen dunklem Grunde das Wissen verborgen war. Ich wußte, was unaufhaltsam kommen mußte, als hätte ich das alles schon erlebt. Ein bartloses, freches Gesicht tauchte in meinem Innern auf, eine fliehende Stirn mit Geschwüren besät, unter sandfarbigem Stoppelhaar. Ich sah mich um und blickte sogleich mitten in das Gesicht, das in meiner Vorstellungswelt bereits existierte. Aber ich wehrte mich dagegen, immer wieder gelang es mir, die aus meinem Innern kommende Gewißheit zurückzudrängen, ohne daß mich diese Kraftanstrengung des Willens von dem Bewußtsein befreit hätte, daß ich jeden Augenblick, Schlag auf Schlag, hätte sagen können, was nun geschehen würde. Wie Traum im Traume war dies alles und doch von schauderhafter Körperlichkeit.

 

Im Gefängnis mußten sie längst das Geheul der irrsinnigen Menge vernommen haben, denn mehrmals zeigten sich an den Fenstern des ersten Stockwerks forschende und spähende Gesichter. Aber bald folgten dem eigensinnigen Schreien der Masse Taten; Axthiebe krachten donnernd gegen die kleine, schwere Tür, eine staubige Scheibe splitterte unter den Steinwürfen. Hierauf öffnete sich oben ein Fenster, ein schläfriges Gesicht mit halbgeschlossenen Augen und Hängebacken erschien, lächelte und nickte dem Volke Gewährung zu, worauf sich das Schreien bis zum Wahnsinn verstärkte.

Nur einen Augenblick lang waren meine Augen an einem altersgrauen Relief an der Wand hängengeblieben, als ein orkanartiges Aufheulen von vielen tausend Stimmen über mich dahinging. Die Fenster von La Force zitterten. Die kleine Tür ging auf –

In dem steinernen Rahmen stand leichenblaß, hochaufgerichtet, ein verzerrtes Lächeln der Todesangst im schönen Gesichte, die kleinen Hände wie flehend erhoben, eine junge Frau –

»Aglaja!« schrie ich auf. Sie war es. Aglaja.

Meine Geliebte, entglitten ins Schattenreich, aufgeweckt aus tiefem Schlaf durch das Brüllen gereizter Tiere – – –

Da stand sie, bedroht von Verrückten, Mördern, von rostigen Waffen, Steinen, Knütteln –.

Ich schrie, schrie –

Ihre blendende Stirn öffnete sich in einem roten, klaffenden Riß, weit taten sich die Augen auf – aus dem hellen Brokat des Mieders ragte plötzlich ein schmieriger, hölzerner Lanzenschaft – Seide riß mit hohem Sausen – – ein kleiner, klagender Schrei – – wie ein Vogelruf.

Flammen fielen vom Himmel, zuckten aus der Erde auf, umhüllten mich.

Ich stieß und schleuderte Menschen auf Menschen, schmetterte meinen Stock in ein Gesicht, hieb meine Faust in ein schreiendes Maul, schluchzte, schrie – trat mit den Füßen, erfaßte den Griff eines Säbels, schlug zu, daß es spritzte, spie und brüllte lauter als die Tausende – –

Mein Blick sog sich fest an einem zuckenden, weißen, mit Blutrosen geschmückten Leib, an rauchenden, roten Lachen – ich sah, wie eine dunkle Hand an etwas Langem, Blaßrosigem zerrte, ein nackter schwarzer Fuß nach einer zitternden Frauenbrust trat – – –

Ein dröhnender Hieb traf meinen Kopf.

Ich fiel. Ich versuchte, mich auf den Knien aufzurichten. Teufelsfratzen wieherten rings um mich, in einem breiten Maul standen grünliche Stumpen. In der Höhlung zweier großer Hände, dicht vor meinem Gesicht, bewegte sich zuckend ein blutiges Stück Fleisch, glänzend rot, furchtbar anzusehen – ein pochendes Herz – Ich fiel auf mein Angesicht nieder. In einem überirdischen Brausen verging die Welt.

 


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