Paul Busson
Die Wiedergeburt des Melchior Dronte
Paul Busson

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Gott selbst hatte meine Seele im Feuerofen des Schmerzes ausgeglüht. Ich fühlte es zutiefst in der Einsamkeit des Tages, an dem ich mich fastend auf den Abend beim Magus vorbereitete. Wie anders war mein ganzes Wesen seit jener furchtbaren Stunde geworden, da die Liebste mit ins Schattenreich entglitten war. Der alte Jähzorn, der doch noch manchmal in mir aufgezuckt war, die Überhebung, der ich mich oft genug schuldig machte, die Sucht nach Tafelfreuden und Zerstreuungen verschiedener Art, der Hang zur Wollust – das alles war von mir abgefallen und erschien mir nichtig und schal. Der Glanz, mit dem sich das Leben dem Manne darbietet, war für mich erloschen unter dem grauen Staube der Vergänglichkeit.

Nur eines stand ehern fest in meinem Herzen: die Gewißheit, daß ich Zephyrine wiedersehen würde. Sie und Aglaia, denn sie waren ein und dasselbe Geschöpf Gottes, für mich bestimmt von Anbeginn und mir stets wieder genommen zu unbekannten Zwecken ewiger Mächte.

Tagsüber war ich in meinem Gasthauszimmer geblieben und hatte jede Störung mit dem Hinweis auf Unwohlsein und Ruhebedürfnis hintangehalten. Im Laufe der Nacht, als sich der Zeiger der elften Stunde näherte, verließ ich das Haus und trat den weiten Weg zum Lustwäldchen an.

Es war feuchtes, laues Wetter, der Frühlingswind fuhr klappernd unter die Dachziegel und ließ die Wetterfahnen knarren. Die Wege waren trocken. Am hellen Mond jagten in langem Zug dunkle Wolken wie seltsame, im Lauf gestreckte Tiergestalten vorüber.

Ein- oder zweimal wurde ich von Ronden oder Polizeiwachen angehalten und ward genötigt, meine Papiere vorzuweisen und meine Antworten auf die Fragen so einzurichten, daß man etwa daraus entnehmen konnte, ich befände mich auf geheimen Liebeswegen, über die sich näher auszusprechen für einen Kavalier undenkbar sei. Auf solche Art, die mir Mißvergnügen genug bereitete, war es mir möglich, durchzukommen und sogar in der ägyptischen Finsternis unter den vom Sturme ausgeblasenen Laternen von den Hütern der öffentlichen Ordnung über den weiteren Weg unterrichtet zu werden. Denn es fiel mir keineswegs leicht, in so großer Dunkelheit, die nur die Mondsichel manchesmal erhellte, den Weg zum Lustwäldchen zu finden.

Dortselbst ging ich einige Male in die Irre zwischen den unförmigen Zelten und Buden, die in mächtiger Finsternis ja vollkommen anders aussahen als am lichten Tage. Aber der Magus und sein Bruder schienen aufmerksam nach mir ausgespäht zu haben, denn als ich nach vergeblicher Umschau in anderer Richtung weitergehen wollte, trat plötzlich ein Mensch, in dem ich den Harlekin erkannte, neben mich, faßte mein Handgelenk und sagte leise und rasch: »Kommen Sie, Herr Baron – wir warten schon lange!«

Er führte mich zwischen aufgefahrenen, finsteren Wagen und Leinwandhütten zu einer großen Bude, aus deren Spalten sehr schwacher bläulicher Lichtschein drang, nestelte irgendwo an der Wand einen Schlitz auseinander und schob mich behutsam vor sich her. Im nächsten Augenblick stand ich, wie ich gleich erkannte, auf der kleinen Bühne hinter dem herabgelassenen Vorhang. Im Hintergrunde hing noch von der Vorstellung her der Friedhofsprospekt mit den Kreuzen und Denksteinen. Die Seitenteile der Bühne waren mit dunklen Vorhängen abgeschlossen, so daß ich mich in einem Quadrat aus beweglichen Wänden befand.

Einige Öllampen aus blauem Glase gaben ein schwaches, aber ungemein wohltuendes und kaltes Licht, bei dem man nach einiger Gewöhnung ganz gut sah. Ich setzte mich auf Einladung des Bruders in einen leidlich bequemen Stuhl, der für mich hingestellt worden war. Ein kupfernes Becken mit schwach glühenden Kohlen stand vor mir. Der Bruder kam auf mich zu und flüsterte:

»Sprechen Sie ihn nicht an, wenn er kommt. – Haben Sie das Eigentum der Person, die Sie zu sehen wünschen, mitgebracht?«

Ich ließ nach einiger Überwindung den der Westentasche entnommenen Silberring mit dem Feueropal in seine Hand gleiten, und er begab sich zu einem der Seitenvorhänge, in dessen Falten er verschwand. Gleich darauf stellte er eine Schale mit Körnern darin neben das Kohlenfeuer und einen kleinen dreibeinigen Hockestuhl.

Dann bewegte sich heftig der mir gegenüber befindliche Vorhang, und der Magus erschien. Er war in ein dunkles, weites Gewand gehüllt und trug um den Kopf eine weiße Binde, wie ich sie schon auf alten Bildern gesehen hatte. Sein Gesicht war fahlgrau und verfallen, seine Augen halb geschlossen. Er schien mich nicht zu sehen und ging mit vorgestreckten Händen wie ein Blinder auf die Glutpfanne zu. Sein Bruder kam rasch hinter ihm her, lenkte ihn mit seinen Händen und drückte ihn auf den Schemel nieder. Regungslos blieb der Zauberer sitzen. Der Bruder nahm eine seiner herabhängenden Hände, öffnete, wie mir deuchte, nicht ohne Gewalt die geschlossenen Finger und legte den Ring in die Hand, die sich gleich wieder schloß. Dann schob er für sich selbst einen ähnlichen Schemel herbei und streute Körner aus der Kupferschale über die knisternden und glimmenden Kohlen. Sogleich stieg ein blauer, angenehm duftender Rauch empor von ähnlichem Geruch wie jener kostbare Weihrauch, den die katholische Kirche an hohen Festtagen verwendet.

Unbeweglich und ohne jedes Zeichen von Aufmerksamkeit saß der Magus vor mir und etwas hinter ihm der Bruder, auf dessen jenem ähnliches, hageres und hohlwangiges Gesicht unschwer erkennbar die Spuren fortgeschrittener Lungensucht das Siegel eines frühen Todes gedrückt hatten. Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem andern zu und sah nun, daß seine Augen mit einem starren, glanzlosen Blick auf mich gerichtet waren. Gleichzeitig begann ein anschwellendes, melodisches Summen und Klingen, und ich entdeckte, daß der Bruder eine Maultrommel zwischen den Zähnen hielt und mit dem Zeigefinger der rechten Hand die Zunge des kleinen Instruments in beständigem Schwirren erhielt.

Der Magus saß einstweilen in unveränderter Haltung da. Langsam jedoch sank sein Kopf schief gegen die rechte Schulter, und sein Mund öffnete sich. Die Hand, die den Ring hielt, begann leise zu zucken. So saßen wir geraume Zeit im blauen Lichte, und das Brummen und Säuseln der einschläfernden Musik stieg und fiel.

Auf einmal aber bemerkte ich zwischen den offenen Lippen des regungslosen Magus etwas wie das Ende eines bläulichweißen, leuchtenden Tuches, das allmählich hervorzuquellen anfing. Zudem begann es in der Lehne meines Stuhles heftig zu pochen und zu knacken, und dieses Geräusch ging zeitweilig mit noch größerer Stärke in den Bretterfußboden über, um dann wieder in den Stuhl aufzusteigen, so daß ich mehrmals die kurzen, scharfen Schläge mit größter Deutlichkeit im Rücken spürte und mich unwillkürlich umsah. Es stand aber niemand hinter oder neben mir, wiewohl das Klopfen mit unverminderter Stärke fortdauerte. Das weiße Gewebe, das aus dem Munde des Schlafenden fast bis auf seine Brust niederhing, verschwand ebenso rasch, wie es gekommen war, und das Klopfen hörte mit einem krachenden Schlag in der linken Armlehne meines Sessels plötzlich auf. In dem tiefen Schweigen griff der Bruder am Magus vorbei neuerlich in die auf dem Boden stehende Weihrauchschale und streute Körner auf die Kohlen. Etwas Kaltes und Klebriges berührte ganz unerwartet meine Wange und strich mir über die Stirne. Rasch griff ich hin, faßte aber in die leere Luft. Dafür erschien auf des Magus Schulter eine große schneeweiße Hand, mit ihren flachen Fingerformen beinahe wie ein Handschuh anzusehen. Aber dann streckte sie sich in einem übermäßig langen, armartigen Gebilde über seinen Kopf empor, sank herab, und lag eine Weile ruhig wie ein dritter Arm auf seinem Knie, bis alles in wenigen Augenblicken verblaßte und unsichtbar wurde.

Der Schlafende begann nun aber unruhig zu werden, wiegte sich mit dem Oberkörper hin und her und ließ einen leisen, jammernden Singsang hören, dessen Worte ich nicht verstehen konnte. Es begann wieder sehr stark gegen den Bretterboden und dann gegen meinen Stuhl zu hämmern, und ein leerer Schemel, der am Vorhang stand und den ich bisher übersehen hatte, tat vier oder fünf froschartige Sprünge gegen mich, drehte sich dann um, blieb eine Weile mit seinen drei in die Luft gestreckten Beinen liegen und begann dann, sich auf dem Sitzbrett langsam im Kreise zu drehen. Ich vermutete, daß nunmehr starke magnetische Fluida tätig seien, die von dem offensichtlich in tiefem Schlummer Liegenden ihren Ausgang nahmen. Gleichzeitig aber verstärkte und beschleunigte sich die zitternde Melodie des Spielers, und die bisher wiegenden Körperaktionen des Magus gingen in heftige und konvulsivische Zuckungen über, die sehr unheimlich wirkten, um so mehr, als der aufs neue genährte duftende Rauch sich verstärkte und die mir gegenüber befindlichen zwei Personen ganz schattenhaft und unwirklich erscheinen ließ.

Da war es mir, als läge neben dem Kohlenbecken ein zusammengefaltetes, schimmerndes weißes Tuch, das vorher nicht dort gewesen war. Es bewegte sich in seiner Mitte in unbegreiflicher Weise so, als versuche ein darunter liegendes, sehr kleines Kind oder ein vom Linnen bedecktes Tier sich zu erheben. Aber rasch wuchs das seltsame Tuch oder der leuchtende Nebel in die Höhe, wurde größer und schmaler und schien Menschengestalt annehmen zu wollen. Ich blickte in äußerster Erwartung und angestrengt hin und glaubte Falten eines Gewandes und sich abzeichnende Glieder wahrzunehmen. Eine Gestalt war es eine menschliche Figur, die da vor mir entstand.

Und auf einmal sah ich, wie gelähmt von freudigem Schreck, ganz blaß und fast durchsichtig das geliebte Gesicht Zephyrines, ihre auf mich gerichteten unbeweglichen Augen – dann aber wuchs aus dem zarten Haupt etwas empor, aus feinen Fäden – glitzernd und leuchtend – Aglajas Totenkrone –

Ich wollte aufspringen, meine Arme um das ersehnte, so glühend ersehnte Weib schließen –. Aber vor meine Augen legten sich Schleier, meine Füße staken in bleiernen Schuhen, mein Herz stand still.

Alles war verschwunden. Ich sah nur den rohen Bretterboden, den qualmenden, süßen Rauch, den Magus, der mit verdrehten Augäpfeln vom Schemel gestürzt war und in Krämpfen lag. Die Musik verstummte.

Füße polterten auf dem Bodenbelag. Der Bruder riß den Magus eilfertig in die Höhe, fuhr ihm mit tuchumwickelter Hand in den Mund und zog die Zunge heraus. Mit einem wilden Röcheln schlug der Zauberer die Augen auf, blickte um sich und stieß einen Seufzer aus.

»Wach auf, Eusebius!« schrie der Bruder und schüttelte ihn sanft. »Wach auf! Wach auf!«

Der Magus sah erst ihn, dann mich an, ließ daraufhin seinen Blick im Kreise gehen, als müsse er sich erst besinnen, wo er sei. Er schauderte heftig zusammen, griff mit der Hand nach der Stirn, stierte mich an und gurgelte:

»Zwei! – Zwei waren es – – Zweie – –«

Der andre holte eilig einen Zinnbecher und eine Flasche, goß einen dunklen, starkriechenden Wein in das Gefäß und hielt es dem Bruder an die Lippen. Der trank in gierigen Schlucken, setzte ab, trank wieder.

Ich entdeckte, daß meine Wangen naß von Tränen waren.

Nach längeren Bemühungen, von seinem Helfer unterstützt, erhob sich der Nekromant und ging schwankend auf mich zu. Sein Gesicht war schlaff und schweißbedeckt.

»Der Ring – –«, stammelte er. Ich nahm das silberne Kleinod und barg es bei mir.

»Warum zwei?« Er streckte die Hand gegen mich aus. Sie zitterte heftig. »Warum zwei, Herr?«

Ich nickte und sagte leise: »Es waren zwei, und doch ist es nur eine.«

»Nie mehr –«, ächzte er und stützte sich auf seinen Bruder.

»Schrecklich – – ich hatte – schon die – Schwelle – überschritten.«

»Was ist dir, Eusebius?«

»Der Bucklige –«, schrie er auf. »Zwei Köpfe – zwei Kinderköpfe –.«

Und ohne Besinnung stürzte er zusammen, vom Arm des Bruders vor schwerem Fall bewahrt. Der sah mich hilflos an, gab blutigen Auswurf von sich und stotterte:

»Genug, Herr – genug! Haben Sie Erbarmen!«

Ich drückte ihm eine große Gabe in die Hand. Sein armes, mageres Gesicht strahlte einen Augenblick vor Freude, dann hielt er dem Ohnmächtigen das Gold hin und rief:

»Da schau, Eusebius – da schau nur her!«

Er ließ den Körper des Bruders, der leise zuckte, sanft auf den Boden gleiten und zeigte auf den Spalt in der Zeltwand.

»Es hat ihn arg mitgenommen diesmal!« wisperte er. »Der Tag kommt schon herauf. – War der Herr zufrieden?«

Voll Mitleid mit diesen armen Menschen, im Innersten aufgewühlt und doch mit einem lichten Schein übersinnlichen Hoffens in der Brust, schritt ich durch den grauen, regentriefenden Morgen der erwachenden Stadt zu.

 


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