Paul Busson
Die Wiedergeburt des Melchior Dronte
Paul Busson

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Nach dem Frühstück, das uns der Schließer auf seinem Brett hereingebracht hatte, erschien ein Kommissar mit mehreren Soldaten und holte drei von uns, darunter mich, zur Gerichtssitzung.

Eine junge, hübsche Frau, die zumeist still weinend auf einer Pritsche gesessen hatte und von den Damen in meinem Gefängnis wenig beachtet worden war, wurde mit mir und einem großen, sehr hochmütig aussehenden Mann in dunkelblauem, goldgesticktem Rock und weißen Strümpfen abgeführt. Den Namen des Schicksalsgefährten hatte ich bei der Vorstellung gestern nicht verstanden. Aufgefallen war mir nur die Ehrerbietung, mit der die aristokratischen Gefangenen ihn behandelt hatten, und seine nachlässige, herablassende Art, mit der er bald an diesen, bald an jenen ein paar Worte richtete, während er mich kaum bemerkte. Hinter diesen zweien, der Frau und dem Hochmütigen, ging ich, allein zwischen zwei Soldaten, die eigens zu meiner Bewachung kommandiert worden waren.

Man führte uns durch eine schmale, entsetzlich schmutzige Gasse, in der allerlei Unrat faulte, bis zu einem alten Hause, über dessen Torbogen die dreifarbige Fahne flatterte. Dann gelangten wir über einen Gang in ein niedriges, sehr großes Zimmer und mußten hinter einer frischgezimmerten, nach frischer Ölfarbe riechenden Schranke stehenbleiben.

Die innere Erhebung, in der ich den gestrigen Abend verbracht hatte, war von mir gewichen. Der Gedanke, daß dieser Tag einer meiner letzten sein sollte, lag schwer wie Blei auf mir und erfüllte mich mit einem dumpfen Schmerz. Selbst die leblosen Gegenstände um mich nahmen eine besondere und ungewohnt gespenstische Form an, und das Licht des frühen Morgens, das durch die schmutzigen Fenster schien, hatte einen geheimnisvoll rötlichen Schein.

Als uns ein Soldat bedeutete, daß wir uns setzen durften, bekam ich den Platz zwischen der jungen, von Zeit zu Zeit heftig aufschluchzenden Frau und dem Herrn im blauen Rock, der mit strenger und unnahbarer Miene vor sich hin blickte, ohne irgend jemanden zu beachten. Dann und wann zog er eine goldene Dose in Gestalt einer Birne aus der Tasche und schnupfte mit äußerst gezierter Bewegung. Vor uns stand erhöht ein schwerer Tisch mit geschnitzten Beinen, auf dem alles zum Schreiben Notwendige aufgestapelt war. An den Wänden räkelten sich bleiche, langhaarige Soldaten, teilweise mit Holzschuhen an den nackten Füßen, und bliesen übelduftenden Tabakrauch aus ihren Kalkpfeifen. Sie änderten nur lässig ihre bequeme Stellung, als ein polternder Trommelwirbel vor der Türe den Eintritt des Revolutionstribunals verkündete.

Wir wurden genötigt, aufzustehen und zu warten, bis sich die Richter an. dem großen Tisch niedergelassen hatten. Ich sah mir die Männer an, die sich anmaßten, über die Dauer fremden Lebens zu entscheiden. Der erste am Tische links war ein Handwerker mit schlecht gereinigten, groben Händen, deren Abdruck auf dem Rande seiner roten Mütze zu erkennen war. In der Mitte zwischen ihm und einem beständig hüstelnden, offenbar kränklichen Menschen mit spitzem, graugelbem Gesicht, thronte ein schwarzhaariger, junger Mann von eigenartig frechem, aber nicht unhübschem Aussehen. Seine unruhigen, dunklen Augen funkelten unter starken Brauen, und sein langes, sorgsam gesträhltes Haar hing unter dem quergesetzten Zweispitz bis auf die Schultern herab. Die in weißen Hosen und Stulpenstiefeln steckenden Beine streckte er weit unter den Tisch, winkte einem Bekannten im dichtgefüllten Hintergrund des Saales zu und wühlte dann mit wichtigtuender Miene in einem Stoß von Akten, die vor ihm lagen. Dann sprach er einige halblaute Worte zu den Beisitzenden und zu dem mageren Schreiber am schmalen Ende des Tisches, stützte die Ellenbogen auf die Platte, legte das Kinn auf die verschränkten Hände und sah uns der Reihe nach mit einem Blicke an, der höchsten Respekt zu fordern schien.

Erst als im Hintergrunde völlige Ruhe eingetreten war, lehnte er sich in seinen Sessel zurück, daß die blau-weiß-rote Binde um seinen Leib sich spannte, nahm wie spielend einen Bogen vom Tisch und sagte mit singender und theatralischer Stimme:

»Bürgerin Anastasia Beaujonin!«

Lautes Murmeln, Räuspern und Ausspucken hinter uns verriet die nun einsetzende Spannung der Zuhörer.

Die junge Frau neben mir hatte bei Nennung ihres Namens einen kleinen Schrei ausgestoßen. Sie stand auf, brach in einen neuen Strom von Tränen aus und drückte ein winziges Taschentuch auf ihre Augen. Ich sah sie mitleidig an. Ihr hübsches Kleid, rosa und blau geblümt, war arg zerknittert und verunstaltet. Mehrmals fuhr sie mit der Hand glättend über die Falten. Sicherlich beschäftigte sie das Aussehen ihrer Person ebensosehr wie die Sorge um den Ausgang eines Verfahrens, das weder Zeugen noch Einspruch kannte und dessen absichtliche Kürze wenig Hoffnung bot.

Der Vorsitzende nahm eine bedeutende Haltung an, machte mit der rechten Hand eine schöne Gebärde und sprach mit einer Betonung, als wolle er deklamieren:

»Achten Sie wohl auf meine Worte, Bürgerin Beaujonin! Überlegen Sie Ihre Antworten, denn unsere Zeit ist knapp bemessen. Sie gehört nicht uns, sondern der Nation. Sie sind beschuldigt, den Baron Hautecorne durch drei Tage in der Bodenkammer Ihres Hauses verborgen gehalten zu haben, obwohl Sie wissen mußten, daß er zu den Proskribierten gehörte. Was haben Sie zu erwidern?«

»Oh, mein Gott«, stammelte die Frau. »Ich liebte ihn so sehr – – –«

Der Richter lächelte.

Von hinten vernahm man eine derbe Weiberstimme:

»Sie ist tapfer, die Kleine, und spricht, wie ein Weib sprechen soll!«

»Schweigen Sie, Mutter Flanche!« rief der Richter. »Sie dürfen hier keine Bemerkungen machen!«

»Zerbrich dir nichts, mein süßer Junge!« kam es zurück. »Ich habe dich schon gekannt, als du noch Tempelsänger warst.«

Der Vorsitzende wollte auffahren, machte aber dann nur eine abwehrende Handbewegung und sagte, zur jungen Frau gewendet: »Also?«

Sie schluckte ein paarmal und richtete ihren scheuen, angstvollen Blick einen Augenblick lang auf mich, als wollte sie sich Mut bei mir holen. Dies schien den Richter zu ärgern, denn er nahm ein Petschaft und klopfte damit heftig auf den Tisch.

»Und weshalb liebten Sie den Bürger Hautecorne so sehr?« fragte er höhnisch und zeigte seine weißen Zähne.

»Weil er so schön war – fast so schön wie Sie!« sagte sie leise und sah ihn mit einem vollen Blick an.

Ein aus Zurufen, Gelächter und Füßetrampeln gemischter Beifallssturm brauste durch den Saal. Selbst die Beisitzer lächelten säuerlich, und der Vorsitzende strich mit selbstgefälliger Handbewegung eine Locke zurück, die ihm über die Stirn gefallen war.

»Laß die Kleine laufen – –«, schrie einer

»Sie braucht ihren Kopf, um ihn dir zu schenken«, lachte es.

»Gut gesagt, Rodolphe.«

»Sie weiß, wie man euch Männer behandeln muß.«

Als wieder Ruhe eingetreten war, sagte der Richter mit sanfter Stimme:

»Madame, ich habe Grund, zu glauben, daß Sie gar nicht wußten, welchem gefährlichen Feinde der Republik Ihre Hilfe zuteil wurde?«

»Oh – nein«, schluchzte die Angeklagte, rasch ihren Vorteil erfassend. »Ich liebe die Republik – nie hätte ich – – –«

»Hat er wenigstens seine Sache gut gemacht, dein Baron?« grölte einer aus der Zuhörerschaft.

Der Richter schlug wütend auf den Aktenstoß.

»He doch, Perrin, Verrou und Mastiche, seht einmal nach, wer da hinten meine Bekanntschaft machen will!« schrie er, und sogleich stolperten drei Soldaten in den Hintergrund, die schweren Gewehre im Arm.

Es ward sofort still.

Der Richter neigte sich zu den Beisitzern. Sie flüsterten und nickten ihm zu.

»Madame«, sagte dann der Vorsitzende »Ich will es bis auf weiteres wagen, Sie in Freiheit zu setzen. Aber nehmen Sie sich in acht!«

»Oh –«, schrie die Frau auf und lachte übers ganze Gesicht.

»Warten Sie Madame. Ich will es auf mich nehmen. Ich trage vor der Nation die Verantwortung. Sie sehen, das Volk ist milde und Frauen gegenüber ritterlich, wenn dies möglich ist. Bevor Sie jedoch den Saal verlassen, werden Sie die Güte haben, Ihre zukünftige Adresse auf ein Stück Papier zu schreiben und mir zu übergeben!«

»Oh, du verdammtes Trüffelschwein«, lachte einer auf. Die Soldaten sprachen heftig auf ihn ein.

»Ich sage nichts mehr«, versicherte er. »Laßt meine Pfoten los!«

Wieder trat Ruhe ein.

Die Kleine lächelte anmutig, trippelte auf ihren Stöckelschuhen zum Tribünentisch und kritzelte einige Worte auf ein Stück Papier, das der Richter ihr hinhielt, las und einsteckte. Unterdrücktes Lachen im Auditorium begleitete diese Handlung.

»Sie können gehen, Madame, bleiben aber zur Verfügung des Tribunals!«

Die Frau blieb stehen, sah verlegen und ungewiß die Richter und dann die lachenden Zuschauer an, wandte sich plötzlich und lief rasch, weder nach rechts noch links blickend, mitten durch die verblüfft dreinschauenden Soldaten aus dem Zimmer.

Allsogleich nahm der Vorsitzende eine verdrießliche Amtsmiene an, raschelte mit Papier und sagte dann kurz und scharf:

»Bürger Melchior Dronte!«

Ich stand auf.

Alles in mir war ruhig, jede Furcht wich. Wieder war mir zumute, als betrachte ich nun ein ganz fremdes Schicksal, dessen weitere Entwicklung mir völlig klar war. Ohne jede Feindseligkeit sah ich den eitlen Menschen an, der sich als Richter über mich gesetzt hatte. Sein Blick wich sofort dem meinen aus und schweifte an mir vorbei. Um über diese Schwäche hinwegzutäuschen, nahm er einige Blätter vom Tisch und tat so, als wäre ihm ein ständiger Einblick in den Akt not, der die Umstände meiner Ergreifung und die Anklage gegen mich enthielt.

Endlich hob er den Kopf und sprach: »Bei einer Äußerung des Volkswillens, die sich gegen die mit vollem Rechte verhaßte Bürgerin Lamballe – – –«

Ein vielstimmiger Wutausbruch erhob sich.

»Tod der Aristokratin! Nieder mit ihr!«

»Haltet doch das Maul!«

»Sie ist ja schon krepiert!«

»Tod der Lamballe!«

Der Richter wartete geduldig, bis der Lärm sich gelegt hatte, und fuhr dann fort:

»– Die verhaßte Bürgerin Lamballe, von der wichtige Aufschlüsse über eine Verschwörung in England gegen die Republik zu erhoffen waren, ist vom heiligen Zorn der Bürger zerschmettert worden. Sie, Bürger Dronte, haben den Versuch gemacht, sich dem Volke, das sein Urteil fällte und vollzog, hindernd in den Weg zu stellen. Welche Absichten verfolgten Sie mit Ihrer Handlungsweise?«

»Ich wollte die wehrlose Frau schützen«, sagte ich und sah ihm dabei in die Augen. Er schüttelte unwillig den Kopf

Gemurmel ward laut.

»Sie sind ein Freund der Freiheit?«

Ich überlegte einen Augenblick lang und beantwortete die Frage dann mit einem »Ja«.

»Es war Ihnen bekannt, daß die Bürgerin Lamballe nach England geflohen und von dort nach Paris zurückgekehrt war?«

»Ja.«

»In diesem Falle lag die Vermutung nahe, daß von ihr wertvolle Angaben über ihre hier befindlichen Mitverschworenen gemacht werden könnten. Nicht so?«

Ich schwieg.

Er blickte mich neuerlich mit leiser, mißbilligender Kopfbewegung und einem Zungenschnalzen an und sprach langsam und deutlich jedes Wort betonend:

»Ich weiß, was Sie sagen wollen, Bürger Dronte. In Ihrem Eifer, der Republik zu dienen und ein vorzeitiges Ende der Verräterin hintanzuhalten, suchten Sie das Volk mit Gewalt an der Urteilsvollstreckung zu hindern, wobei es Ihnen allerdings übel genug erging. Ist es so? Geben Sie mir Antwort!«

Er nickte mir fast unmerklich ein »Ja« zu und wartete.

Ich fühlte kurz und stark die Lockung, aus dem Schrecken dieser Justiz in die Freiheit zurückzukehren. Aber ein mächtiges, unüberwindliches sieghaftes Gefühl in mir ließ die freundlichen Bilder bevorstehender Freiheit, die sich infolge solcher Möglichkeit dem Geiste zeigten, schnell verblassen. Ich erkannte, wie eine heilige Notwendigkeit, daß ich hart und erbarmungslos gegen mich selbst sein müsse, wenn anders ich nicht zurückgeworfen werden sollte in Ebenen, aus denen ich zu höheren aufgestiegen war und deren Aura ich überwunden hatte.

»Ich habe die Prinzessin auf Grund von Empfindungen persönlicher Art zu retten versucht!«

Der Vorsitzende stieß einen Seufzer des Ärgers aus, wiegte den Kopf, trommelte auf den Tisch und erhob die Augen gegen die Decke. Die Beisitzer sahen mich gelangweilt an, und im Zuschauerraum sagte eine gähnende Stimme:

»Das sind Spitzfindigkeiten, Jeannot – verstehst du was davon?«

»Kurz und gut: Sie haben nicht die Absicht gehabt, die Frau als solche zu beschützen, sondern vielmehr der Republik einen Dienst zu erweisen. Wir haben keine Zeit, Bürger Dronte, und ich hoffe, daß Ihr aufrichtiges Zugeben dieser Tatsache den Fall erledigt!«

Ein kalter Hauch ging über mein Gesicht. Die Waage stand: Eine Lüge mußte die Schale sinken lassen – – –

»Ich habe bei meiner Tat nicht an die Republik gedacht!«

Nun war es ausgesprochen.

Große Unruhe entstand. Auch die Schläfrigsten unter den Zuhörern verstanden, erwachten zu gereizter Aufmerksamkeit. Das Gesicht des Vorsitzenden wurde rot vor Zorn. Er warf den Kopf zurück, daß die Haare flogen, und fauchte mich an:

»Das wagen Sie mir zu sagen?«

»Es ist die Wahrheit«, entgegnete ich.

Es war mir klar, daß der dankbare Magister hier seine Hand im Spiele gehabt haben mußte, und es betrübte mich, daß sein nicht ungefährliches Bemühen nun umsonst gewesen war. Aber ich mußte den Weg, den mir mein innerstes Gefühl als den rechten bezeichnete, zu Ende gehen, ohne Rücksicht auf Empfindungen, die dem Selbsterhaltungstrieb des Körpers entsprangen.

Das Verhalten des Vorsitzenden veränderte sich sofort. Eine tiefe senkrechte Falte erschien zwischen seinen Augenbrauen, und er biß sich zornig auf die Lippen, bevor er das Verhör fortsetzte.

»Sie sind ein Fremder. Zu welchem Zweck kamen Sie nach Paris?«

»Um die Revolution und ihre Ziele kennenzulernen.«

»In freundlicher oder gegnerischer Absicht?«

»Ich kam nicht in feindlicher Absicht.«

»Sie sind Baron. – Wie kann ein Aristokrat der Revolution anders als feindlich gegenüberstehen?« mischte sich auf einmal der gallige Beisitzer ein.

»Liebt denn so einer das arme Volk –?« brummte der mit der fleckigen roten Mütze. »Wie?« wandte er sich an mich.

»Ich liebe alle Menschen.«

»Das sind Redensarten, wie sie jeder Pfaffe in der Tasche hat, der vor dem Tribunal steht«, fuhr mich der Richter an und nahm eine finstere Pose ein, mit lauerndem Blick auf mich sehend. »Sie haben sich also den Braven, die auf die Lamballe eindrangen, in den Weg gestellt, und zwar nicht im Interesse des Staates, sondern um die Intendantin der Königin aus irgendwelchen anderen dunklen Beweggründen zu retten.«

»Macht doch nicht so lange Geschichten!« murrte einer hinter mir.

»Einer von den Liebhabern der Hure ist es – weiter nichts!«

Schrille Pfiffe ertönten.

Wildes Füßegetrampel verriet, daß die Leute ein Ende wünschten.

Der Magere redete auf den Vorsitzenden ein. Dieser zuckte die Achseln und wandte sich dem anderen Beisitzer zu, der heftig mit dem Kopfe nickte, die rechte Hand erhob und sie mit der Schneide auf den Tisch fallen ließ. Es war klar verständlich, was er damit meinte.

Der Vorsitzende stand auf, streckte wie ein Theaterkönig die Rechte gegen mich aus, indes die Linke auf dem Herzen ruhte, und sprach mit hallender Stimme und rollenden R's:

»Bürger Dronte ist schuldig des Verrates gegen die Republik!«

Donnerndes Händeklatschen erscholl. Ich setzte mich nieder, völlig ruhig und des Endes gewiß.

Da wandte der Mann im dunkelblauen, goldgestickten Rock langsam sein strenges und steinernes Gesicht gegen mich, lächelte und sagte sehr laut und vernehmlich:

»Gestatten Sie mir, Baron, Ihnen meine aufrichtige Hochachtung auszudrücken!«

Lachen und Johlen folgte seinen Worten. Ein Apfelgehäuse flog an meinem Kopf vorbei und blieb vor dem Richtertisch liegen.

Der theatralische Vorsitzende schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie: »Ruhe!«

Nach und nach hörte das Schimpfen, Lachen und Pfeifen auf.

»Bürger Carmignac!« ertönte die selbstgefällige Stimme.

Der Mann im blauen Rock stand auf.

»Ich bin Philipp Anton Maria Marquis von Carmignac, Pair von Frankreich, Geheimer Rat Seiner Majestät des Königs, Vorstand der bretonischen Adelskammer, Komtur des Ludwig-Ordens – – –«

Der Saal jubelte. Dieser hochgewachsene Mann und seine stolze Art versprachen ein Schauspiel. Die Betonung seines Ranges rief sogar einen gewissen Respekt hervor.

»Er sieht gut aus, der Marquis.«

»Aber sein Hals ist ebenso dünn wie der des Liebhabers der Lamballe«, lachte es dagegen. »Flutsch! Und die Sache ist abgemacht.« Der Marquis nahm aus seiner kleinen Goldbirne eine Prise und klopfte sorgsam seine Brokatweste mit einem Spitzentüchlein von den Tabakstäubchen rein.

»Sie sind beschuldigt –«, begann der Vorsitzende.

»Vor allem«, sagte der Edelmann mit unnachahmlichem Hochmut, »wünsche ich die Erklärung abzugeben, daß ich gegen die mir zustehenden Privilegien mit ungesetzlicher Gewalt und von widerrechtlich bewaffneten Personen hierher gebracht wurde. Was nun dieses Gericht anbelangt, so stelle ich fest, daß es nicht aus königlichen Gerichtspersonen, sondern aus einem schlechten Schauspieler, einem Tischlermeister und einem entlaufenen Kirchendiener besteht, somit keinen Anlaß zur weiteren Beachtung bietet.«

Nach diesen Worten setzte der Marquis sich nieder, verächtlich in die Luft starrend.

Einige Sekunden lang blieb es still. Die Verblüffung war allgemein. Dann aber entstand ein so tosender Lärm, ein solches Wutgebrüll und Vorwärtsdrängen, daß die anwesenden Soldaten kaum imstande waren, die rasende Menge zurückzuhalten. Währenddessen hatten die Richter kurz beratschlage, der Vorsitzende stand auf. Man sah, wie er durch eifriges Winken mit den Händen Ruhe gebot. Es dauerte lange genug, bis er sich verständlich machen konnte.

Er richtete einen wütend-höhnischen Blick auf den Grafen, der gleichmütig an ihm vorbeisah.

»Bürger Carmignac, ich fordere Sie auf, sich zu erheben, bevor ich Gewalt anwenden lasse, um dem Tribunal des Volkes die gebotene Ehrerbietung zu sichern.«

Der Marquis zuckte die Achseln und stand lässig auf.

»Ich wünsche keine Schmutzflecken auf meinen Rock zu bekommen«, sagte er. »Aus diesem Grunde erhebe ich mich.«

Der Schauspieler setzte sich nieder und schob das Kinn vor.

»Wenn ich Sie recht verstehe, Bürger Carmignac, so sind Sie vor der Revolution eingeschlafen und noch immer nicht erwacht, wie?«

Der Verspottete gab keine Antwort. Einige Menschen im Saale lachten auf.

»Sie haben den Versuch unternommen, den Schließer des Tempel zu bestechen, um dem dort verwahrten Bürger Capet Nachrichten über die Erfolge der Emigranten am österreichischen und preußischen Hofe zukommen zu lassen, und zwar mittels eines in einer Goldhülse verborgenen Zettelchens, das in einer von sechs Zitronen verborgen war. Ist es diese Hülse?«

Die Hand des Richters hielt ein winziges Goldbüchschen von länglicher Gestalt empor. Der Marquis maß ihn unter halbgeschlossenen Lidern.

»Da Sie hier Gericht spielen, müssen Sie sich auch der Mühe unterzuziehen, Ihre Anklagen zu beweisen.«

Der Unwille im Saal wuchs merklich.

»Er soll von Samsons Kokette umarmt werden!« brüllte die Stimme eines der ärgsten Schreier.

Die Gerichtspersonen neigten die Köpfe zueinander, flüsterten, nickten, der Vorsitzende stand auf und sprach ohne Bewegung sein »Schuldig« aus.

Das Gericht erhob sich. Vier Soldaten traten zu uns und bedeuteten uns, aufzustehen. Unter ziemlicher Ruhe wurden wir aus dem Saal geführt. Das Volk war zufrieden.

Als wir aus der Türe traten, wo ein neuer Trupp ängstlicher, gut bewachter Menschen beiderlei Geschlechts dem Verhör entgegenwartete, fühlte ich etwas Kantiges in meiner rechten Hohlhand, wie ein Stück gefaltetes Papier, und schloß die Finger fest darum.

Wir gingen einen anderen Weg, als den, der uns aus dem Gefängnis hierher gebracht hatte, mußten unter einem aufgezogenen Fallgatter durch und fanden uns schließlich in einem geräumigen, trockenen und lichten Keller. Er war voll von Menschen.

Ich ging in die Nähe eines Fensters, faltete das Papier auseinander und las:

»Mein Herz weint um den besten und edelmütigsten Menschen; dennoch verneige ich mich vor einem Heroismus, der den Tod geringer achtet als den Verrat an sich selbst. Meine nun ohnmächtige Dankbarkeit wird Ihr Andenken für immer bewahren. Möge es ein Wiedersehen geben, das ihr neue Ziele gibt.«

Es war die wohlbekannte Handschrift des Magisters.

 


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