Paul Busson
Die Wiedergeburt des Melchior Dronte
Paul Busson

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Ich war in der Tat ernstlich krank geworden und lag schwach und matt in dem Himmelbett, dessen zerschundene Engelsköpfe mir Fratzen schnitten, wenn die Fieberhitze stieg.

Der Magister nahm sich redlich meiner an, und einmal erschien, aufstampfend mit dem noch umwickelten Fuß der Rüdenmeister, saß eine Weile neben mir und erzählte mir wiederum ein Stück, das er und mein Vater am Hofe des Herzogs ausgeführt hätten, indem sie einen großen Wasserfrosch in das Nachtgeschirr einer vornehmen Dame praktizierten.

Abends zwischen elf und halb zwölf hörte ich seinen lauten Gesang. Ich unterschied die Weise eines Jägerliedes: »Ein Füchslein will ich fangen, rot wie der Liebsten Haar.« Dieses Lied machte mich weinen in meiner Schwäche, und ich dachte mit neuen, heißen Tränen an meine Zephyrine in den Rosenbüschen, wie sie gesagt hatte: »Ein Füchslein weiblichen Geschlechts trage ich unter dem Herzen –«, und wie grauenhaft es ausgegangen war. Und es war doch schon so lange her, daß ich glauben durfte, der Schmerz in meiner Brust habe sich totgeweint.

Auch um Aglaja wurden meine Augen naß, und ich sah sie wieder mit der glitzernden Totenkrone im Flimmern der Kerzen liegen.

Wozu, wozu hatte mein unglückliches, elendes Leben gedient, wem war es etwas nutz gewesen? Leidenschaften, aller Unrat der Sünden und wüster Spuk war sein Inhalt, und nun senkte sich der Pfad gemach abwärts dem Ende zu. Ach, wie verachtete ich mich so tief, wenn ich zurückschaute auf die verlorenen Jahre! Fleißige Bauern pflügten im rinnenden Schweiß ihr karges Ackerfeld, Handwerker bewegten um des täglichen Brotes willen ohne Rast die ehrlichen Hände, Ärzte saßen sorgenvoll und wissensschwer an Krankenbetten, Gelehrte forschten und grübelten bei erlöschender Lampe, Musiker erfreuten mit süßem Spiel des Menschen Herz. Und ich? Da lag ich, ein kranker Stamm, der weder Blätter noch Blüten getragen hatte und bar jeder Frucht des Lebens war. Hans Dampf selbst war nicht unnützer durch das Dasein getaumelt als ich. Aber Leid, Leid war aus vollem Maß auf mich gehäuft worden, und nun empfand ich mehr als Schmerz. Denn in mir war das furchtbare Gefühl des Zwecklosen und für den Verfall Reifen.

»Alles diente deiner Läuterung«, sagte eine weiche und milde Stimme in einer Sprache, die mir völlig fremd war. Dennoch verstand ich sie, als wäre sie die meine.

Neben meinem Bett stand im Dämmer, von einem sehr feinen, klar bläulichen Eigenlicht umflossen, der Ewli.

Er war es. Unter dem schwarzen Turban sah ich zwischen den Bogen der Brauen das rote, waagrechte Mal; die Augen glänzten wie schwarze Feuer, in dem edlen, bräunlichen Antlitz war keine Falte. Um den Hals und auf der Brust lagen gelbe Bernsteinperlen auf dem rotbraunen Tuch des Gewandes.

»Wer bist du –?« fragte ich. Meine Stimme war tonlos, wie die Stimmen, die man im Traum vernimmt.

»Ich bin da«, wehte es zu mir her.

Um die roten Lippen, die ein kleiner schwarzer Bart krönte, ging ein mildes, verstehendes Lächeln, das wie eine weiche Liebkosung für mich war.

»Endlich bist du gekommen –«, flüsterte ich.

»Ich bin gekommen.«

»Ist dies deine wahre Gestalt?« fragte ich.

»Es ist die Gestalt, die du mir gabst.«

»Ich dir?«

»Du wähltest diese Gestalt.«

Ich sah mich plötzlich als Kind, in anbetende Betrachtung vor dem Glassturz versunken, unter dem das kleine Abbild dessen stand, der mir nun, wie schon so oft, erschien. Ich fürchtete sehr, daß er auch diesmal entgleiten würde, aber der Ewli, als ob er meine Angst erraten hätte, lächelte sanft und sprach: »Du bist mir nahe.«

Da war es mir, als sähe mich über seine Schulter ein verzerrtes, boshaftes Gesicht mit gelben, stechenden Augen an, und ich schrie auf: »Auch ein anderer ist mir nahe!«

»Er ist überall«, antwortete der Ewli. »Immer ging er neben dir und neben mir.«

»Der Fangerle –«, ächzte ich.

»Nennen ist rufen«, sprach die Stimme weiter. »Gib ihm keinen Namen, und er ist nicht mehr.«

Das widerlich grinsende Gesicht hinter ihm verschwand im Halbdunkel, war nicht mehr da. Ein goldener Schimmer trat in die Augen, die mich gütig ansahen, wie ein Abglanz unermeßlicher Herrlichkeit.

»Du bist so tief durch Not und Pein geschritten, daß er keine Macht mehr hat über dich. Nahe bist du dem Ziel, Bruder.«

»Hilf mir!« stöhnte ich. »Ich bin so schwach –.«

»Du bist müde vom weiten Wege und mußt doch noch wandern. Nur du allein kannst dir helfen, denn ich bin du«, sagte er.

»Ich kann dich nicht verstehen –«, mühsam hob ich den schmerzenden Kopf. »Welches ist denn das Ziel?«

»Das ewige Leben«, sagte er, und in diesem Augenblick wurde das düstere Gemach blendend hell, so daß ich die Augen schloß.

Als ich sie wieder öffnete und ins Leere zu blicken fürchtete, sah ich zu meinem unbeschreiblichen Trost den Ewli noch bei mir.

»Ich bin Isa Bektschi, Isa der Wächter –«, hörte ich ihn sagen.

»So wachst du über mich?«

»Immer nur über dich.«

»Und wohin geht mein Weg, Isa Bektschi?«

Beklommenen Herzens sah ich ihn an.

»Zur Wiedergeburt«, antwortete er, und über sein unsäglich schönes Gesicht zog wieder der helle Glanz.

»Aber der Tod –«

»Das Unsterbliche kehrt zu Gott zurück«, klang es feierlich.

»Jedes Menschen Unsterbliches?« fragte ich und streckte die Hände nach ihm aus.

»Jedes Menschen.«

»So wird jeder wiedergeboren, Ewli?« Süße Hoffnung senkte sich auf mich.

»Zweierlei ist die Art der Wiedergeburt nach dem Gesetz«, sprach er, und seine Stimme war tief wie Glockenklang. »Unbewußt und bewußt.«

Angst erfaßte mich bei diesem Worte.

»Und ich –?« stieß ich hervor. »Hilf mir, Bruder!«

»Nur du allein kannst es.«

Quälende Anstrengung war in mir, glühender Wunsch, zu verstehen.

Ich wollte mich aufrichten, fragen, bitten – ich konnte es nicht. Flehend sah ich ihn an, in stummer Angst betend, daß er bleibe. Aber er sprach leise und eindringlich, und aus seinem Blick ergoß sich helles Leuchten in meine Seele.

»Merke auf! Ein mächtiger Herrscher und Weiser ließ einst einen Bösewicht hinrichten, obschon eine Stimme in ihm war, daß kein Mensch eines anderen Menschen Leben vorzeitig beenden dürfe. Als nun der Verurteilte auf dem Blutleder niederkniete, um den tödlichen Streich zu empfangen, sah er den Herrscher mit einem Blick an, in dem so viel glühender Haß war, daß die Getreuen des weisen Herrschers erschraken. Da sagte der Herrscher:

»Wenn du vom Bösen lässest, will ich dir das Leben schenken.«

Da lachte der Übeltäter auf und schrie: »Du wagst es nur nicht, mich töten zu lassen, denn du fürchtest die Rache, die mein abgeschiedener Geist an dir nehmen wird.« Der Herrscher sah ihn an und sprach: »So wenig dein Kopf, vom Leibe getrennt, sich auf mich zu bewegen und das Wort Rache aussprechen kann, sowenig fürchte ich mich vor dir!« Der Verurteilte lachte und rief. »Henker, tu deine Pflicht!« Das Schwert fiel nieder, und zum Entsetzen der Anwesenden rollte der vom Rumpfe springende Kopf des Getöteten auf den Herrscher zu, stellte sich vor ihm auf den durchschnittenen Hals und formte mit den Lippen, deutlich erkennbar, das Wort »Rache!«, indes der Blick mit entsetzlicher Starrheit die äußerste Anstrengung und Willenskraft verriet. In großer Angst sahen es die Getreuen. Da sprach der Weise: »Fürchtet nichts! Wohl habe ich Unrecht getan, indem ich diesen Menschen töten ließ, dennoch habe ich mich vor seiner Wut geschützt. Denn, seht, alle Willenskraft mußte er im Augenblick des Todes aufwenden, um das auszuführen, was ich ihm gesagt hatte. Und dadurch ist ihm für seine späteren bösen Absichten keine Kraft mehr geblieben. Sein Wille hat sich in einem nutzlosen Beginnen verzehrt, und wenn er wiederkehrt, wird er ohne Bewußtsein dessen sein, was ihm widerfahren ist. Hätte er nur daran gedacht, wiederzukommen, und das Bewußtsein über den Tod hinausgerettet, dann wäre er ein Ewli geworden, einer, der wiederkehrt. Aber kein Böser kann Ewli werden!«

Ich blieb stumm vor Staunen. Es schien mir, als stünde ich vor einem offenen Tor, an dem ich bisher achtlos vorbeigegangen, ohne zu wissen, daß hinter ihm die Lösung aller Fragen verborgen war.

»Verstehe mich, Bruder. Ich zeige dir den Weg.«

»Der Wunsch im Augenblicke des Todes – –«, sagte ich vor mich hin. »Das Bewußtsein über den Tod hinaus mitzunehmen – – die Erinnerung zu retten – –«

»Du hast verstanden. Lebe wohl!«

Langsam glitt er in den Dämmer hinein, undeutlich wurde seine Gestalt, nur das Gesicht leuchtete noch.

»Bleibe, bleibe bei mir –«, wollte ich rufen, aber kein Ton kam aus meinem Munde.

Da sagte er langsam und deutlich Worte, deren Sinn ich nicht mehr verstand:

»Hamd olsun – tekrar görüschdüjümüze!«

Ich war wach, sah ihn nicht mehr.

»Isa Bektschi!« schrie ich. »Bleibe bei mir!«

Aber nur meine eigene, heisere Stimme hallte in dem weiten Raum wider.

Warum hatte ich ihn früher verstanden und jetzt nicht mehr? Und es war dieselbe Sprache gewesen – ich erinnerte mich an sie, wie man sich an einen verwehten Klang erinnert, dessen Tonfolge dem Gedächtnis immer mehr entschwindet.

Hastig sprach ich die unbekannten Worte vor mich hin, zweimal, dreimal, so lange, bis sie sich mir einprägten, unauslöschlich einbrannten wie eine tausendmal nachgesagte Gebetsformel.

Warum war mir denn so weh ums Herz?

Wie viele Fragen hatte ich noch zu stellen! Wie gerne hätte ich ihn nach Aglaja, nach Zephyrine gefragt, nach dem Spuk der Höllennacht.

Sagte er nicht, wir seien eins?

»Ich bin du?«

Er war in mir, und nur aus mir konnte die Antwort kommen. Aus den Tiefen des Bewußtseins, wenn das Verborgene wach würde. Wenn der Zustand eintrat, in dem alle Rätsel sich lesbar ausbreiten, wie klare Schriftzüge.

So ruhig schlug mein Herz, frei von aller Furcht, frei von Erwartung und so sicher und froh war ich wie ein Kind in Mutterarmen.

»Tod, wo ist dein Stachel?«

Wie fernes, tröstendes Geläut kamen diese Worte aus dem heiligen Buche zu mir.

Es gab keinen Tod für den, der leben wollte. Leben in alle Ewigkeit, leben bis zur völligen Läuterung, bis zum herrlichen Aufgehen, zum bewußten Sein in Gott. Tränen der Freude rannen über meine Wangen.

Alles war nur ein Wandern im Dunklen, und mir glänzte schon ein schwacher Schimmer des unverlöschlichen Lichts, das am Ende des Weges leuchtet durch die Ewigkeiten.

So weit es auch sein mochte, soviel Bangnis und Not noch an den Seiten des Pfades lauerte – er führte zum Ziel. Isa, der Wächter, hatte ihn mir gewiesen. Was konnte mir widerfahren, und wer konnte dem unsterblichen Teil in mir etwas anhaben?

Die Türe ging auf. Der Magister Hemmetschnur trat an mein Bett, in der Hand einen silbernen Becher mit einem kühlen Trank aus Minze und Zuckerwasser.

»Sie müssen auf der Stiege einem fremden Mönch begegnet sein«, sagte ich schnell. »Einem Mann in brauner Kutte mit schwarzem Kopftuch, gelbe Perlen um den Hals.«

»Das Fieber steigt –«, brummte er verdrießlich vor sich hin.

»Nein, nein«, beschwor ich ihn. »Der Fremde war soeben bei mir, stand da vor meinem Bette. Er kann nicht unbemerkt geblieben sein.« Und ich beschrieb ihm nochmals den Ewli und trieb ihn an, jenen eilig zurückzurufen.

»Herr Baron«, sagte der Magister. »Sie haben einen Traum gehabt. Seit einer halben Stunde sitze ich lesend auf einem Stuhl am Gangfenster vor Ihrer Türe. Niemand ist bei Ihnen eingetreten, niemand konnte also aus Ihrem Zimmer kommen. Dafür spricht gemeine Logik.«

Erschöpft sank ich in meine Kissen zurück.

»Geträumt –?« Wie ein bitterer Geschmack trat es auf meine Zunge. Aber dann fuhr ich wieder auf. »Hemmetschnur, Sie waren lange in Stambul, und viele Sprachen sind Ihnen bekannt. Welchen Sinn enthält der Satz, den ich Ihnen nun vorsage?«

Und langsam, Wort für Wort genau betonend, sprach ich ihm den letzten Satz vor, der vom Ewli zu mir gedrungen war:

»Hamd olsun tekrar görüschdüjümüze!«

Der Magister riß die Augen auf. Der Mund blieb ihm offenstehen. Dann wischte er mit der Hand über sein Gesicht, sah mich wiederum an und schüttelte das Haupt:

»Beim Demant des Großmoguls! Herr Baron – es ist das reinste Türkisch!«

»Was heißt es? Was es heißt, will ich wissen!« forderte ich in meiner Ungeduld.

Er holte tief Atem, sah mich mit einem scheuen Blick an und sprach:

»Es heißt: Gott sei Dank, wir werden uns wiedersehen!«

»Gott sei Dank!« wiederholte ich mit einem Seufzer. Ich lachte vor Freude und tätschelte seine abgezehrte Hand, die den Becher hielt.

»Sonderliche Dinge treibt dies Hexenzimmer an den Tag«, nickte er mir zu. »Der Mann, den Sie gesehen haben wollen, Baron Dronte – – So sehen die islamischen Derwische aus und nicht anders. Dieses ist seltsamer als seltsam!«

»Ich will Ihnen auch die Mittel geben, damit Sie aus diesem Hause entrinnen, Herr Magister«, sagte ich rasch. »Bis jetzt mußten Sie bleiben, das erkenne ich wohl. Aber da es um meinetwillen war, daß Sie hier sich marterten, ist es auch meine Pflicht, Ihnen behilflich zu sein!«

Da stürzte er vor meinem Bette in die Knie, daß der Becher klingend zur Erde fiel und seinen Inhalt vergoß.

»Gott segne Sie zu tausendmalen, Sie großer gütiger Mann!« schluchzte er und küßte meine Hand. »Über ein kleines wäre ich auf andere Art entflohen, hängend am Fensterkreuz, und lieber in der tiefsten Unterwelt als in der Mühle der elenden Tage hier.«

Er hob den Becher auf.

»Ich eile, einen anderen Trunk zu bringen, gnadenreicher Herr!« schrie er unter Lachen und Weinen und entlief.

Die Augen fielen mir zu.

Köstliche Mattigkeit hielt mich umarmt.

»Gott sei Dank – wir werden uns wiedersehen!«

Gott sei Dank! Gott sei Dank!

Nun mochte kommen, was da wollte.

Und nichts von dem, was in meinem Leben gewesen war, weder Gutes noch Böses, war umsonst geschehen.

Gott sei Dank!

 


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