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III.

Unter den Familien, die unserem Baptist allwöchentlich Kost verabreichten, befand sich auch die des Kaufmanns Weichbrunner. Der einzige Sohn dieser Familie hieß Albert, war Baptists Mitschüler und mit ihm fast im gleichen Alter. Es war ein gar eigentümlicher Junge, wenig umgänglich und gesprächig mit den anderen Knaben; er ging steif daher wie ein Soldat und drehte den Kopf nur langsam, wenn er seinen Namen rufen hörte. Ebenso steif und pedantisch war er auch in seinen Arbeiten; sie zeichneten sich durch Sauberkeit aus, aber es mangelte ihm das eigentliche Talent.

Verschlossen, eitel, ehrsüchtig und neidisch wie er war, wurde er gemieden und nur heimlich mit dem Namen »Haarzopf« bezeichnet. Er mochte auf diese Benennung wohl schon gekommen sein und betrachtete also die Knaben samt und sonders als seine Feinde. Dies zog die bereits bestehende Kluft immer weiter, und des Professors Ermahnungen verhinderten nur die offenen Feindseligkeiten. »Laßt den Haarzopf laufen!« sagte einer zum anderen, und so kam es auch; niemand schien ihn zu beachten.

So verschieden Baptist auch von Albert war, tat er doch alles, ihm seine Freundschaft zu bezeigen. Er half ihm bei seinen Aufgaben, machte ihn auf manchen Fehler aufmerksam und bedachte dabei gar nie, ob es ihm nicht selber zum Nachteile gereiche. Aber obgleich Albert die angedeuteten Fehler heimlich verbesserte, schien er doch jedesmal darüber eher beleidigt als froh zu sein. Als Baptist bei der Versetzung ihn jedesmal überholte, wurde er gegen ihn so neidisch und unfreundlich, daß er ihn gar nicht mehr offen ansehen konnte; ja er nannte ihn sogar einen undankbaren Buben, was Baptist sehr schmerzte. «Ich kann deinetwegen doch nicht weniger lernen!« sagte er einmal fast weinend. »Ich lerne ja nicht, um dir voranzukommen, sondern weil's uns der Professor aufgegeben hat. Ich will ihn aber bitten, daß er dich jedesmal voransetzt.«

Da fiel ihm Albert mit glühendem Gesichte in das Wort: »Das laß bleiben, sag' ich dir, oder du betrittst unser Haus nimmer!«

Baptist schwieg, aber es war ihm jedesmal am Samstag schon wieder auf den Freitag bang, an welchem Tag ihn das Essen bei Alberts Eltern traf. Er merkte es gar wohl, daß dieser ihn angeklagt habe; gar nichts konnte er mehr recht tun, und es setzte jedesmal scharfe Verweise ab; ja der Vater zeigte sogar offenbares Mißtrauen in Baptists Ehrlichkeit, als einmal ein Federmesser abhanden gekommen war, das man trotz alles Nachsuchens nicht entdecken konnte. Es traf sich auch, daß Albert mit einem Mitschüler in Streit geriet, wie es zu geschehen pflegt, nahmen die anderen Knaben Partei, und Albert stand mutterseelenallein da. Baptist, der die Ursache des Streites wohl kannte, aber unmöglich auf Alberts Seite zu treten vermochte, schlich sich davon. Dies hielt ihm des anderen Tages Alberts Mutter vor, der freilich die ganze Sache höchst unrichtig dargestellt worden war. So hatte Baptist manche Demütigung zu erleiden, und er dachte wohl an den guten Herrn Pfarrer, der ihm seine Laufbahn so dornenvoll ausgemalt hatte. Aber bald waren diese Unannehmlichkeiten wieder vergessen; Baptist fühlte sich glücklich und noch keine Minute bereute er, ein Studentlein, wenn auch so ein recht blutarmes, geworden zu sein.

Die schöne Pfingstzeit war herbeigekommen, und der herrlichste Sonnenschein beleuchtete die beiden Feiertage. Baptist erinnerte sich lebhaft an die früheren Jahre, wo er den lustigen Gebrauch der Dorfjungen mitgemacht hatte und als Pfingstritter, mit dem Papierhelm voll Hahnenfedern, auf dem stattlich ausstaffierten Steckenpferde von Haus zu Haus geritten war. Hui, wie ließ man das Rößlein ausschlagen! Welche Seitensprünge gab es da, welche Neckereien hielt man in Bereitschaft, daß die Dorfmädel lachend davonsprangen und doch wieder herzukamen, um den possierlichen Spaß mit anzuhören! Baptist hatte heute seine lateinischen Brocken alle vergessen, nur der Pfingstspruch, der ihm so manches Gröschlein eingetragen, summte immerwährend in seinem Kopfe herum.

Alls er, versunken in diese ländlichen Erinnerungen, zu seinem Fenster hinaus und auf die Straße hinab sah, schrie er laut auf vor Freude, denn am Anfang der Gasse stand wahrhaftig und leibhaftig der lange Michel, Nachbars Michel, des reichen Bauern Sohn, freilich nochmal so alt wie er selber, mit dem er daheim aber doch so oft ins Feld gefahren war und die Kühe gefüttert hatte.

Da stand er und schien nach ihm zu fragen und sich nicht auszukennen.

»Michels Michel, da bin ich; siehst mich denn nicht?« schrie und winkte ihm Baptist zu. Endlich sprang er die Stiege hinab, die Straße entlang, bis er vor Michel stand, der über seinem Haupte ein Päcklein tanzen ließ.

»Woher kommst, Michel, kommst von daheim? Was macht der Vater und die Mutter und der Herr Pfarrer und der Schullehrer und die Gretl und –«

»Nun, nun,« lachte Michel, »halt nur ein mit deinen Fragen; die kann ich doch nicht alle auf einmal beantworten. Da nimm das Tüchel, es gehört alles dir, was drin ist; deine Mutter schickt's dir, und meine Bas hat noch das Hutzelbrot dazu getan. Du sollst dir's schmecken lassen, hast schon lang nichts solches mehr gegessen, armer Bub'! Siehst ja ganz zusammag'studiert aus.«

Während dieser Rede hatte Baptist das Tüchlein geöffnet. Da lagen ein safrangelber Kirchweihkuchen, ein Hutzellaibchen, Apfel- und Birnschnitz' in Menge. Michel sah dem Knaben wohlgefällig zu, wie er einen Schnitz um den anderen in den Mund steckte. Er selber zog aus der Seitentasche seiner Jacke das kurze Tabakspfeiflein, stopfte es, hielt es im Munde, während er Feuer schlug, und dampfte dann in langen Zügen, daß es fast ein Gewölk bildete.

»Nun, was treiben wir denn heute nachmittag?« fuhr Michel fort, »weißt was, du gehst mit mir spazieren, dahin, wo's lustig ist und wo man recht viel Stadtleut' sieht.«

Baptist lächelte vergnüglich. So hatte er doch auch ein fröhliches Pfingsten, obwohl ganz anders als ehedem, und einen Kameraden aus der Heimat; dies war das Beste. Michel versprach, sich den Weg zu merken und ihn Schlag 3 Uhr nach der Vesper abzuholen.

Baptist aß heut' vor lauter Freude und wohl auch infolge der verzehrten Schnitze sehr wenig, obwohl es bei dem Herrn v. Thalmann einen köstlichen Pfingstbraten gab. Er konnte den Schluß der Mahlzeit kaum erwarten und stand schon lange vor 3 Uhr unter seiner Haustür, ein Spazierstöcklein, das heißt ein selbstgeschnittenes, in der Hand.

Unter lautem Jubel sprang nun Baptist seinem langen Kameraden entgegen, und Fragen und Antworten wechselten so rasch, daß sie schon am Ende des Städtleins standen, ehe sie es gewahrten.

»Nun, wohin?« fragte Michel.

»G'rad' aus, da am Wasser hinab,« antwortete der Knabe. »Dieser Weg führt an einem Wäldchen vorbei über eine herrliche Wiese; da wirst schauen, was wir für geputzte Leute antreffen, alles untereinander, Herrschaften und Dienstboten, und diese sehen oft noch vornehmer aus als jene; ferner Bürgersleute und auch Soldaten, Gesellen, Kinder und Bettelleute obendrein; nur keine Bauern mit so schöner, gold'ner Troddel auf dem Hut nebst dem Blumenstrauß; solche Bauernburschen wie du sind hier rar.« Michel lachte, nahm seinen Hut herab und betrachtete ihn wohlgefällig.

In solch heiterer Stimmung waren sie immer weiter gegangen, und die Zeit entschwand unter Plaudern und Schauen den beiden wie auf Windesflügeln. Endlich nahm Michel sein rotes Tüchlein hervor, wischte sich die Stirne und sagte: »Aber wie's heute heiß macht! Ich bin schon so durstig, g'rad' zum Verschmachten. Schau', dort am Ende des Wäldleins ist ein Wirtshaus: da kommt mir's ganz heimisch vor; weißt was, da kehren wir ein und trinken miteinander einen Krug voll.«

Baptist entgegnete: »Nein, Michel, beileibe nicht! Uns Studenten ist's verboten, ins Wirtshaus zu gehen! Gelt, wenn mich der Pedell erwischte –«

»Was ist denn das für einer?« fragte Michel neugierig.

»Nun, der die Studenten einsperrt, wenn sie die Statuten übertreten.«

»Sei mir still mit deinen ausländischen Worten,« entgegnete Michel lachend; »ich hab' noch nie gehört, daß es verboten sei, zu trinken, wenn's einen durstet, als in die Hitz' hinein; und wir wollen uns schon abkühlen. Wenn wir aber getrunken haben, gehen wir gleich wieder und legen uns dann in den kühlen Schatten hier bei dieser Staude; da gefällt mir's auch besser als auf der Wirtsbank, wo man nichts reden und kaum schnaufen kann, ohne daß man es ringsum hört.«

Baptist war damit zufrieden, und gleich darauf standen sie vor dem Wirtshause. Ein schäumender Bierkrug ging von einem zum anderen, aber so sehr sie der Trunk auch labte, so löschte er doch den Durst nicht; es war gerade wie Öl ins Feuer gegossen. Da mußte mit einem zweiten Kruge nachgeholfen werden. Immer noch stehend leerten sie auch diesen.

In diesem Augenblicke ging Albert mit seinem Vater auf der Wiese an dem Wirtshaus« vorbei und hörte deutlich, wie Baptist zu Michel sagte: »Aber nun hab' ich wahrhaftig einen Dusel; das Bier hat mich noch heißer gemacht, und es schwindelt mir ordentlich.«

Michel lachte und sagte: »Du bist mir der Rechte! Komm' nur, wir gehen auf unseren schattigen Platz, da legen wir uns gestreckter Länge hin, und da kannst du meinetwegen schlafen.«

Sie gingen miteinander weiter und führten ihr Vorhaben aus. Baptist hängte sein Röcklein auf einen Ast und legte sich neben Michel ins Gras. Dieser rauchte wieder sein Pfeifchen dabei und blies dem Knaben die Wolken in die Augen.

»Ist jetzt das auch was Gutes?« fragte Baptist.

»Nun, versuch's einmal,« entgegnete Michel und steckte dem Knaben die Pfeifenspitze in den Mund. Baptist tat ein paar Züge, hustete und wurde von Michel ausgelacht. Da wollte er ihm zeigen, daß er es schon besser könne, und dampfte so tüchtig darauf los, daß er ganz in Wolken eingehüllt war. Ohne daß Baptist ihn bemerkte, schritt Albert wieder auf dem Rückwege an den beiden vorbei und zeigte seinem Vater den rauchenden Knaben. Dieser schüttelte den Kopf und sagte: »Das ist noch zu früh, hör', Albert, laß dir das nicht einfallen, sonst reden wir miteinander im bösen Ernst.« Sie schritten weiter und als sie ans Ende des Wäldchens kamen, begegneten sie dem Pedell. Der Kaufmann winkte ihm und sagte: »wenn Sie noch einige hundert Schritte weiter gehen, finden sie ein sauberes Früchtlein, das zuerst im Wirtshause wacker dem Kruge zusprach und nun darauf losraucht, als ob er 20 Jahre und darüber auf dem Rücken hätte.«

Der Pedell war ein etwas mürrischer Alter, weil er von den großen Studenten täglich allerlei Schabernack erduldete, sodaß er mit ihnen in beständigem Hader lag. Diese Anzeige kam ihm nun wie gerufen. Er beeilte seine Schritte und langte eben an der bezeichneten Stelle an, als der arme Baptist seinen ersten Rauchversuch büßte. Der schnelle Trunk in die Hitze (er war ohnedem an das Bier nicht gewöhnt), dazu noch das viele Sprechen und schließlich das Rauchen hatten ihn in eine bitterböse Lage versetzt, weshalb er dem Pedell gar nicht antworten konnte. Michel verschlimmerte die Sache noch, indem er ziemlich grob dazwischen fuhr und nicht begreifen wollte, daß dies alles den fremden Mann etwas angehe.

Da zog der Pedell sein Notizbüchlein hervor und schrieb etwas hinein. Nach einiger Zeit erholte sich Baptist wieder, aber die Pfingstfreude war dahin, vor seinen Augen stand unbeweglich der Alte, den er immer so gefürchtet hatte. Michel begleitete ihn noch nach Hause und nahm Abschied von ihm, da er morgen in aller Frühe in die Heimat zurückkehren wollte. »Grüß mir den Vater und die Mutter – und den Pfarrer,« fügte er unter Tränen bei. Ach, diese Tränen galten nicht so sehr der Heimat, als vielmehr der Angst vor dem, was er im Geiste kommen sah. So schieden die beiden. Michel eilte, denn am Himmel zog sich ein Gewitter zusammen, Baptist blickte traurig in die Wolken; es kam ihm vor, als ob sie ein Vorzeichen eines anderen Gewitters seien, das sich über seinem Haupte grau und schwer zusammenzog. Der Knabe hatte sich nicht getäuscht.


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