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IV.

Wer gewinnt die Oberhand?

Eines Nachmittags führte Valentin die Großmutter in den nahegelegenen Possenhofener Wald. Es lag drückende Schwüle auf der Natur; aber zwischen diesen herrlichen Buchen, Tannen und Fichten waltete erquickende Kühle. Da und dort rastete die Blinde auf den gastlich angebrachten Bänken, und so gelangten sie ohne Ermüdung zum Sommerhaus, welches auf einem Waldesvorsprung in den See hinausragt. Hier gesellten sich Bonifaz und Fischmeisters Georg zu ihnen. Die Großmutter freute sich, daß ihr Valentin nun nicht mehr wie früher so allein bei ihr sein mußte und immer gute Gesellschaft hatte; dabei erheiterte und belustigte sie sich selbst an dem Geplauder oder Spiel der Knaben.

Das Dampfschiff fuhr vorüber; sein Rauschen und Pusten schlug an das Ohr der Blinden, und plätschernd kamen die Wogen zum Ufer. Hoch empor spritzte der weiße und grünliche Schaum von den Rädern, die Sonne spielte mit allen Farben darin, und lange noch zeigte die Wasserfurche den zurückgelegten Weg. Segelboote, beflaggte Kähne kreuzten einander, denn jeder suchte Kühlung auf dem Wasser. Es gab liebliche Bilder, wenn die buntfarbigen Tücher und Kleider der Damen sich abspiegelten und das ganze Ufer auf dem Kopf zu stehen schien.

Nun ertönte ein fernes Rollen von rückwärts. Die Blinde fuhr empor und sagte: »Komm, Valentin, wir wollen uns auf den Weg machen, es donnert.« Dieser erwiderte: »Nein, Großmutter, es donnert nicht, es fährt nur ein Wagen ins Schloß.«

Nach einer Weile rollte es wieder, und das kam gewiß nicht von Wagenrädern, es kam aus dem dichten Gewölk, das sich über Oberpöcking zusammengezogen hatte, während vor ihren Blicken das jenseitige Ufer, der Wald und das Schloß von Almanshausen von der Sonne beleuchtet herüberglänzten. Jetzt kam das Gewitter eilends näher, dem Donner folgte plötzlich ein gewaltiges Rauschen in den Bäumen. Die Alte rief ängstlich: »Valentin, ist's noch Zeit daß wir heimkehren?« Aber der Knabe war taub für ihren Ruf: der wogende See fesselte ihn wie mit Zauberkraft, und er bog sich über die Brüstung, um weit hinauszuschauen.

Ein tüchtiger Sturm war im Anzuge. In das Rauschen der Zweige und Blätter mischte sich das Brausen des Orkans, das Plätschern der Wellen am nahen Ufer, die gewaltigen Ruderschläge der gegen sie ankämpfenden Boote, das Schnauben des Dampfschiffes. Anstatt jedoch zu erschrecken und zu zagen, jubelte Valentins Herz. Immer wieder kehrte er sich zur Großmutter, uneingedenk ihrer traurigen Erinnerungen, und rief: »Jetzt ist die Mitte des Sees kohlschwarz!«

»Ja, ja, die Wolken werden oberhalb auch nicht anders sein! Gott steh' allen auf dem Wasser bei! Das gibt ein böses Wetter, sogar vor meinen blinden Augen ist's feuerhell!« ergänzte die Alte und faltete die Hände.

Und so war es auch. Schauerlich brausten von zwei Seiten die Wolken gegeneinander, mit grellem Lichte folgten die Blitze dem rollenden Donner. Der Sturm wühlte im See und warf die Wogen empor, eine über die andere, und nun öffnete der Himmel seine Schleusen: ein Wolkenbruch stürzte in das Wasser herab und fegte durch die Luft.

Während des Sturmes standen die drei Knaben am Geländer des kleinen 5ommerhauses und klammerten sich an, um nicht fortgerissen zu werden. Dabei schrieen sie zur Blinden zurück, aber ihre Stimmen verhallten im Geheul des Seesturmes.

»Sogar das Dampfschiff kommt nur mehr langsam durch! Der Sturm hat den »Maximilian« in die Mitte genommen! Die Passagiere sind alle in den Kajüten; die Wellen schlagen bis zum Verdeck hinauf!«

»Um Gottes Barmherzigkeit Willen! Dort treibt ein Segelboot umher! Sie haben das Segel eingezogen, aber ihre Ruder können nichts ausrichten. Kein Schiffer ist dabei; es sind nur drei Stadtfräulein, die es unseren Dirnen nachmachen.«

»Jetzt ist Wasser im Boot! Es geht tief! Seht nur, wie händeringend sie um Hilfe bitten!«

»Valentin, komm' her zu mir!« ertönte es aus dem angsterfüllten Herzen der Großmutter. Aber der Knabe hörte und sah nichts als den Sturm, die Wellen und das Boot.

»Sie gehen unter, wenn ihnen keiner zu Hilfe kommt!« rief Georg.

»Dort, dort kommt eines! Jetzt ist's verschwunden! Nein – es ist wieder oben! – Die kecke Annaliese! Hurra!«

»Von drüben kommt noch eins! Aber was nützt's? Sie sind alle zu weit ab! Gott sei uns gnädig! Der Blitz ist senkrecht ins Wasser gefahren, dicht daneben! Nun gerät das Boot auch noch in die Wellen des Dampfschiffes. Es muß schon voll Regenwasser sein! Hört ihr den jämmerlichen Hilferuf?« sagte Valentin.

Es ist eine Schand', so dazustehen; ich schäm' mich vor der Annaliese und gar noch recht vor unserem Herrgott!« rief Fischmeisters Georg.

»Ich auch!« ächzte Valentin.

»Komm' mit, drunten liegt mein Boot, mit einem Katzensprung sind wir dort!«

»Valentin, Valentin, denk' an deinen Vater!« flehte die Großmutter.

Georg war bereits davongeeilt, und Valentin wollte ihm folgen, als diese Mahnung ihn erreichte. Nun blieb er stehen, sein Gesicht glühte, er sagte mit zitternder Stimme: »Großmutter, laß mich fort, ich kann nicht bleiben, ich halt's nicht aus!«

Diese aber flehte: »Bleib', bleib'! Andere willst du retten, aber deine blinde Großmutter, die niemand hat als dich, willst du darüber zugrunde richten! Erbarme dich meiner, ich sterbe vor Angst, wenn du gehst!«

Es klang so bittend, so jammervoll aus diesem alten, von Kummer heimgesuchten Herzen, daß Valentin langsam zurückkehrte, aber nicht mehr zum Geländer, sondern zur Bank, wo die Blinde saß. Krampfhaft umfaßte sie des Knaben Hand, und er fühlte ihr Zittern. Bonifaz dagegen hatte den Posten nicht verlassen und schrie jubelnd: »Der Georg ist vom Land gestoßen! – Er zwingt's! – Der Sturm läßt etwas nach! – Peter kommt von rechts, aber Georg ist um sechs Ellen voran! Die Annaliese erlahmt, sie kann nicht weiter, der Sturm hat ihr das Ruder weggerissen!«

Valentin stöhnte laut, und seine Finger wanden sich unter jenen der Großmutter.

»Der Peter wendet sich und kommt der Annaliese zu Hilfe!« rief Bonifaz.

»Das Segelboot, wie steht's mit dem?« schrie Valentin.

»Unser Georg ist dicht daneben! – Noch ein paar Ruderschläg'! Er hat's erreicht, juchhe! Aber 's ist allerhöchste Zeit. Die Stadtfräulein steigen zu ihm herüber, und ihr Boot ist gar nicht mehr zu sehen, das Wasser reißt's fort.«

Valentin fühlte seine Hand befreit. Er eilte ans Geländer, und die beiden Knaben jubelten in Wind und Regen hinaus, während die Blitze sie umzuckten und der Donner rollte. Die Alte atmete erleichtert auf und wandte das Gesicht mit fast seligem Lächeln nach ihrem Enkel, der heute sein Opfer der Kindesliebe dargebracht hatte.

Der Sturm tobte sich allmählich aus, der Regen strömte ruhiger hernieder, und sogar ein greller Sonnenstrahl drang zwischen den dünner gewordenen Wolken hervor, sodaß ein wundervoller Regenbogen sich zu gestalten begann. Nach einer Viertelstunde spannte er sich über Schloß Berg, und jenseits glänzten Wald und Wiese im Frühlingsgrün.

»Valentin, können wir noch nicht heimgehen?« fragte die Alte, und beide wendeten sich gegen den Wald.

Valentin blickte freilich oftmals zurück, und die Blinde ahnte nicht, wie sehnsüchtig es den Knaben nach dem Landungsplatze zog, wie gar so gerne er mit Georg gesprochen hätte. Auf dem Heimwege sagte sie noch: »Ich danke dir, Bub'! Jetzt weiß ich gewiß, daß du Wort hältst und ich dir vertrauen kann.«

Am späten Abend kamen Bonifaz und Georg wieder zu dem Kameraden, denn es gab etwas zu berichten und zu zeigen. Georg hatte als Retterlohn von einer der Damen ihre Uhr erhalten.

Valentin betrachtete sie wohlgefällig und sagte freudig: »'s ist wohl verdient und ich gönn' dir die Uhr. Aber daß du sie gerettet hast, darum beneid' ich dich! Wäre meine Großmutter nicht gewesen ...«

Er hielt inne und dachte: »Ich bin ja nun bald 15 Jahre!«

Dann kehrte er besänftigt zur Großmutter aufs Hausbänkchen zurück. Valentin überschaute den Horizont und die Berge, dann rief er: »Wir bekommen wieder schlechtes Wetter! Eine Woche schön und zwei Wochen dafür schlecht! Da werden die Städter wohl daheim und die neuen, schönen Häuser leer bleiben.«


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