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V.

Die Wunder des Meeres.

Valentins Befürchtung schwand mit den vorüberziehenden Wolken. Kaum hatte die Sonne wieder einige Tage geschienen, so brachte auch die Eisenbahn Scharen von Sommerfrischlern und füllte alle Häuser Starnbergs. Das Dampfschiff verteilte die übrigen am linken und rechten Ufer bis zu den Höhen hinauf, sogar in die kleinsten Häuser.

Auch in Valentins Nachbarschaft gab es Sommergäste. Die Familie eines Professors bezog am l. August mit Beginn der Ferien eine solche Villa. Gab's darin auch wenig Raum, so lag ja ringsum die grüne Wiese, der Wald und im Hintergrunde die blaue Gebirgskette, tief unten der blinkende See. Valentin hatte mit lebhaftem Interesse aus der Ferne die Ankömmlinge beobachtet, denn es befanden sich dabei zwei Knaben, nicht viel älter als er selbst. In den ersten Tagen waren sie wenig zu Hause und durchstreiften die Gegend nach rechts und links. Dann aber blieben sie länger auf dem Hügel, riefen sich Oskar und Günter und verweilten auf den Hausbänken, wo sie lasen. Bei diesem Anblicke kam Valentin immer näher, und der Zufall oder die Neugier führte ihn häufig dort vorüber.

Am fünften Tage stand eben die Köchin unter der Tür, als er vorbeiging. Sie rief ihm zu: »Bist du vielleicht der Valentin, der Botengänge macht?«

»Ja!« war seine freudige Antwort, und mit einem Sprunge folgte er dem Rufe. Er wurde nun förmlich gedungen, sich morgens und abends einzufinden, um das Nötige zusammenzutragen.

Anfangs nahmen Oskar und Günter keine Notiz von dem Fischerjungen und sahen ihn über die Achsel an. Einmal aber tat Valentin, freilich in anderer Art, das gleiche: er blickte verstohlen den beiden Knaben über die Schultern, als sie auf dem Hausbänkchen saßen, die Köpfe zusammensteckten und in einem Buche blätterten. Er stieß einen Schrei des Entzückens aus bei dem anblick von See-Ungeheuern, Muscheln und Korallen und lief nicht davon, als Oskar und Günter sich rasch zu ihm wandten und ihn erstaunt fragten: »Was willst du hier?«

Valentin stotterte: »Verzeihen Sie, aber es ist gar so schön!« und er faltete unwillkürlich seine Hände. Da lächelte Oskar, denn das Buch war sein Eigentum, auf das er nicht wenig stolz war. Freundlich sagte er: »Willst's ansehen, Bub'?« und er schlug die Blätter auseinander, während Valentin seine leuchtenden Blicke darein versenkte. Günter, der Ältere, erklärte: »Das sind die Wunder des Meeres!« und nun ging es hin und her mit Fragen und Antworten. Immer stellte Valentin Vergleiche an zwischen seinem See und diesem Meere, und während die Studenten ihm Ausschluß gaben, empfingen auch sie Belehrung und Aufschluß über das Gewässer vor ihren Augen und schlossen schnell Kameradschaft, denn sie dachten, Valentin sei zu brauchen.

Dieses Buch verdrängte alle anderen, die der arme Fischerknabe je gelesen hatte, und obwohl die Studenten ihm noch viele andere Bücher zeigten, begehrte er stets von neuem die ›Wunder des Meeres‹. Einmal wagte er die Frage, was es kosten möge, und erschrak über den hohen Preis. Dennoch überlegte er, wo er ging und stand, ob sein Botenlohn für zwei Monate nicht zum Ankaufe des Buches ausreiche. Aber er fuhr zusammen und errötete, denn dieses Geld gehörte ihm eigentlich nicht mehr, weil er darüber schon verfügt hatte. Die Großmutter brauchte notwendig einen Winterrock, und in Gedanken hatte er ihn bereits gekauft, hatte sich ihre Freude ausgemalt, sich herzlich mit ihr gefreut und jetzt – was wollte er tun? Das Buch, das prächtige Buch: er hätte es gar zu gerne besessen!

Täglich verweilte Valentin länger bei der Professorsfamilie, – er hatte sich dort völlig heimisch gemacht. Alle hatten ihn gern, jedem war er nützlich. Der Vater fand Wohlgefallen an dem aufgeweckten Knaben, der für jegliche Belehrung Interesse zeigte. Die Mutter erfreute sich an dessen bescheidenem, gesittetem Benehmen und war beruhigt, wenn er ihre Söhne bei den mancherlei Ausflügen begleitete; diesen selbst wurde er geradezu unentbehrlich bei den neuen Vergnügungen des Fischfangs und Bootfahrens, denn Valentin hatte seinen Vetter gebeten, sie mitbringen zu dürfen. Es waren aber auch echte Professorskinder, und so machte es ihnen bei schlechter Witterung Vergnügen, dem staunenden Fischerknaben ihre Bücherschätze zu zeigen und ihre eigene Gelehrsamkeit auszukramen. Darüber vergaß er alles andere und bemerkte gar nicht, daß zwei Menschen von Tag zu Tag trauriger und stiller wurden: die Großmutter und Bonifaz.

Viele Stunden saß die Blinde nunmehr einsam auf dem Hausbänkchen und schaute in ihre Nacht und schmerzliche Vergangenheit hinein. Sie wäre den ganzen Tag und Abend so dagesessen, wenn nicht Bonifaz seines Kameraden Stelle eingenommen, sie hinausgeführt hätte. Aber der vernachlässigte Freund grollte in seinem Herzen, schalt über Valentin und die Stadtherren und war kein sehr erheiternder Gesellschafter. Dann blieb er bei der Alten meist bis zu Valentins Heimkehr. Sobald dieser anrückte, verfinsterte sich das treuherzige Gesicht, und ohne Wort oder Gruß rannte er von dannen. Einmal hielt ihn Valentin fest und fragte: »Boni, was ist's mit dir? Was fehlt dir? Sag's!« Dieser aber machte sich mit Gewalt los und rief: »Was geht's dich an? Bleib' bei deinen Stadtbuben!«

Da wurde Valentin zornig und schrie ebenso heftig: »Es sind junge Herren, daß du 's weißt!« Nun drehte sich Bonifaz um und höhnte wie ehedem: »So, junge Herren! Nun, gleich und gleich gesellt sich gern. Herr Valentin – fall' nit hin!«

Der verspottete Knabe empfand einen tiefen Schmerz und ging langsamen Schrittes zur Großmutter. Als diese ihm erzählte, wie gut der Bonifaz sei, wie er sie umhergeführt und ihr die Zeit vertrieben habe, schwand aller Verdruß und Groll; er war seinem Kameraden wieder von Herzen gut und dachte: »Ich will's ihm nachher treulich vergelten!«

Die schöne Ferienzeit entschwand bei so viel Vergnügen sehr rasch und war bereits zur Hälfte abgelaufen. Oskar und Günter hatten mit Valentin die ganze Umgebung des Starnberger Sees durchstreift; nur eines steckt ihnen noch im Kopfe: allein mit Valentin beim Vollmond in den See hinauszurudern.

Bereits war seit ihrem Landaufenthalt Vollmond gewesen, sie hatten sich heimlich aus dem Haus geschlichen, hinab ans Ufer, um das herrliche Schauspiel zu genießen. Die große, orangegelbe Scheibe stand gerade über der Rottmannshöhe, und ihr zauberhaftes Licht zog eine breite Straße im See bis hinüber ans Ufer. Auf dieser Lichtstraße zu fahren, in diesem Glanz sich zu schaukeln, das kam ihnen vor wie ein Märchen aus ›Tausendundeine Nacht‹. Ja, diese eine Nacht wollten sie erleben und gern auf die anderen tausend Nächte verzichten.

Während sich die Mondessichel abrundete, sprachen Oskar und Günter beständig mit Valentin davon und fachten auch seine Begierde mehr und mehr an. Jetzt war der Mond voll; aber Valentin kam immer wieder mit seiner Antwort: » Ich hab's der Großmutter versprochen, ich darf nicht ohne den Vetter hinausfahren!« Nur klang es von einem zum anderen Mal unsicherer, leiser. Seine neuen Freunde machten ihm alle erdenklichen Vorschläge und Vorstellungen: daß er besser und sicherer rudere als irgendeiner, daß keine Gefahr dabei sei. Valentin fuhr zornig empor: »Als ob ich mich fürchtete! Es ist ja nur wegen der Großmutter!« Nun wiederholte Günter des Fischerknaben oft gebrauchtes Wort: »Sie sieht's ja nicht!«

Valentin dachte: »Wahr ist's! Sie sieht's ja nicht! Ein Unglück kann auf dem ruhigen See nicht geschehen, und wenn die Großmutter keine Angst hat, ist's einerlei, ob ich im Bett lieg' oder auf dem See fahre!«

In der nächsten Nacht ließ ihm die Erinnerung an die Vorstellungen der Professorssöhne keine Ruhe. Der Schlaf floh ihn, er schlich heimlich aus dem Bett zum Fenster und sah in das Mondlicht hinein. Bisher hatte er um diese Zeit geschlafen und von all der wundersamen Herrlichkeit nichts geahnt. Es zog ihn mit Gewalt hinaus, und er öffnete das Fenster. Die Großmutter erwachte von diesem Geräusch und rief: »Valentin, ist's schon Tag?« Der Knabe antwortete: »Nein, Großmutter, schlaft ruhig weiter, scheint nur der Vollmond, und ich hab' mir ihn betrachtet!« Dann schlich er in sein Bett zurück.

Während dieser ganzen Nacht wuchs die Versuchung und war bis zum Morgen größer geworden als seine innerliche Kraft des Widerstandes. Am nächsten Tage fand er die beiden Studenten wieder vor den Wundern des Meeres, und sie lasen ihm vor, bis er ganz bezaubert davon wurde. »Wenn das meine Großmutter nur auch hören könnte!« dachte er und plötzlich wagte er die Bitte, ihm das Buch für ein paar Tage zu borgen. Selbst erschrocken über diese Kühnheit, senkte er das Haupt und bemerkte nicht den raschen Austausch von Blicken zwischen den beiden Brüdern. Oskar sagte: »Nein, borgen tu' ich dir's nicht! Aber weißt du was: kauf' mir's ab

Da stotterte Valentin: »Woher das Geld nehmen?«

»Kauf's ohne Geld!« rief Oskar und fügte mit Flüstern bei: » Rudere uns heute nacht in den See hinaus! Das ist der Preis für mein Buch

Valentin wurde bleich und blieb zuerst sprachlos; um so lauter, um so heftiger redete sein Herz.

»Nun?« fragte Günter und hob das heiß ersehnte Buch in die Höhe.

Oskar rief: »Greif' zu oder du hast's zum letztenmal gesehen. Ich werf' es bei Almanshausen hinab und du müßtest ein kecker Taucher sein, um es vom Grund zu holen!«

Jetzt tobte und hämmerte sein schwaches Herz und pochte: » Die Großmutter sieht's ja nicht!« Laut aber sprach er: »Gebt mir das Buch! Heute nacht um halb 12 Uhr könnt' ihr mich am Landungsplatz treffen!«

Günter lachte: »Heute nacht die Fahrt und morgen früh das Buch! Abgemacht!« Die beiden streckten ihm die Hand hin, und Valentin schlug ein.


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