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Die blinde Großmutter sieht's ja nicht!

I.

Was Valentin der Großmutter versprechen mußte

Wie ruhig und klar der Starnberger See daliegt! Alles, was er widerspiegelt, gewährt ein freundliches Bild: die herrlichen Bäume, die zierlichen Villen, die Boote, Segelschiffe, Badehäuschen und die Roseninsel, von der zu beiden Seiten ein smaragdgrüner Streifen sich ins Gewässer hineinzieht.

Doch so ist's eben heute beim Sonnenschein, der in Millionen Fünkchen auf dem See tanzt und den Schnee der Bergeshäupter wie Silber glänzen läßt. Wenn aber die schwarzen Wolken am Himmel jagen, der Sturmwind heult und der Donner kracht, wenn die Blitze herabfahren, als ob sie alles in den Grund bohren wollten: dann gerät auch der See in wilden Aufruhr, die Wogen bäumen sich und werfen die Boote gleich einem Spielballe umher. Jetzt beginnt ein gewaltiger Kampf zwischen der Natur- und Menschenkraft. Braune, sehnige Arme schwingen das Ruder und bahnen sich den Weg.

Aber bisweilen gelingt's nicht. Der See ist ebensogut ein Friedhof wie das Plätzchen neben der Kirche, nur ruhen die Schläfer viel tiefer als unter den Erdhügeln mit Kreuzen und Grabsteinen, worauf die Namen stehen. Dort aber ist, nachdem der Sturm sich gelegt hat, jede Spur verschwunden. In den Herzen der Überlebenden allein bleibt der Name unvertilgbar eingegraben, und solch einem Grabstein gleicht die Großmutter, von der diese Geschichte erzählt.

Auf den waldigen Ufern des westlichen Teiles steht eine Menge kleiner Häuser, bald zerstreut, bald dicht beisammen, und zwei davon gleichen einem Zwillingspaare; sie gehören aber auch zwei Brüdern. In dem einen wimmelt es von Kindern, um die Eltern geschart; in dem anderen lebt nur eine alte Frau mit ihrem Enkel Valentin, einem frischen, munteren Buben. Seine Mutter liegt schon lange auf dem Gottesacker und sein Vater im See. Vor acht Jahren hat dieser während eines furchtbaren Gewitters in den Wellen sein Grab gefunden, hernach schwankte das leere Boot auf dem Wasser, und der Bruder des Verunglückten holte es heim. Wie es leer und herrenlos nachschwamm, glich es einem Sarge, und die dumpfen Ruderschläge gaben das Grabgeläute. In dem Hause kniete die alte Großmutter vor dem Bette des kleinen Valentin und weinte sich die blöden Augen vollends blind. Eine Weile weinte der Bube wohl auch mit; dann aber vergaß er den Schmerz und sagte jedem, der es hören wollte, ohne Traurigkeit: » Mein Vater ist ertrunken, und meine Großmutter ist blind

Die beiden hingen aneinander und blieben beisammen, obwohl der andere Sohn sie zu sich nehmen wollte. Aber darauf ging die alte Frau nicht ein, es war ihr zu unruhig unter den vielen Menschen, anfangs hatte sie noch einen Schimmer von Augenlicht, genügend, um für das Hauswesen sorgen zu können, und als es mehr und mehr schwand, konnte Valentin ihr bereits beistehen; ihre heranwachsende Enkelin Elisabeth sprang auch helfend herzu, brachte das Essen, stickte die Wäsche, wusch und säuberte alles mit flinker Hand, so vergingen die Jahre, bis Valentin zur Schule mutße. Er lernte mit allem Eifer, um der blinden Großmutter bald vorlesen zu können, damit sie nicht mehr so traurig und nachdenklich mit gefalteten Händen im Lehnstuhle sitze.

Schon im ersten Schuljahre bekam er einen Preis - es war ein dickes Gebetbuch. Die Alte hatte ihm bei der Prüfung zugehört, und Freudenzähren waren aus den blinden Augen über die Furchen des Antlitzes geflossen, wenn ihr Bub' so frisch und schnell antwortete, sobald er gefragt wurde, oder ein anderer ins Stocken geriet. Als er sein Preisbuch in Empfang genommen, vergaß er alles um sich her und lief schnurstracks auf seine Großmutter zu,- dann gingen sie Hand in Hand mitsammen heim. Obwohl es bereits Abend war, begann er der Ordnung nach auf der ersten Buchseite zu lesen: »Gebet am Morgen.« Dann kam in jeder freien Stunde alles an die Reihe, was ein Menschenherz von der Wiege bis zum Grab erfüllt, und die Blinde saß mit gefalteten Händen dabei, denn sie hatte alles erlebt. Valentin las aus dem großen Buche die Tauf-, Hochzeit- und Totengebete, die Danksagungen für glückliche Ereignisse, die Trostsprüche in Kummer, das Sündenbekenntnis, und was sonst noch solch ein Gebetbuch enthält, vieles verstand er freilich nicht, aber er dachte: »Die Großmutter versteht's schon und der gefällt's auch; ich seh's ihr an.«

Ja, die Großmutter war ihm lieb und füllte beinahe sein Herz aus. Ihretwegen ließ er sich kein Wort des Lehrers und Pfarrers entschlüpfen, damit er alles wieder erzählen könnte; ihretwegen war er auch unerschöpflich in Fragen, wenn er etwas nicht begriffen hatte, und blieb beim Lehrer zurück, während die anderen Buben hinausstürmten und jubelten: »Juchhe, die Schule ist aus!« Er bekam aber auch im zweiten Jahre ein Preisbuch mit jenen rührenden Geschichten von »Christoph Schmid«, welche die Jungen und Alten so gerne lesen.

Jetzt wurde es vollends vergnüglich in der Fischerhütte. Valentin hätte am liebsten den ganzen Tag gelesen und die Alte ihm zugehört; aber das ging aus mancherlei Gründen nicht an. Er ersetzte der Großmutter die Magd, dem Pfarrer den Laufbuben, um Lebensmittel aus der Nachbarschaft herbeizuholen, und verdiente sich dadurch manch Stücklein Geld zu seiner Kleidung. Dann mußten die Geschichten auch für die langen Winterabende ausreichen, und im Sommer zog es den Knaben fast unwiderstehlich hinaus an den See.

Ja, der See, er hatte es dem Buben angetan! Die Liebe zum See war ihm angeboren, mit ihm gewachsen: ob das Wasser in klarer Ruhe dalag oder hoch aufwallte, ob man es mit dem Boot durchschneiden konnte, oder ob es einen festen Eisspiegel bildete. Die Furcht vor dem See war ihm unbekannt, obgleich sein Vater auf dem Grunde lag, ebensowenig wie er sich vor dem Gottesacker fürchtete, in dessen Schoße seine Mutter schlief. Jede freie Minute zog es ihn zum Ufer, und freudig blickte er auf das Boot mit des Vaters Namen, seinem eigenen.

Wenn nur die Großmutter seit des Vaters Tod nicht solche Furcht vor dem See gehabt hätte! Sie zitterte jedesmal, wenn ihr Sohn den Buben mit sich hinaus nahm und lächelnd sagte: »Der Valentin ist von der richtigen Art, ein echter Fischerbub'! Die meinen dagegen sind nur Landratten.« Dann überkam sie eine Todesangst, und Valentin mußte ihr hoch und heilig geloben, vor seinem zurückgelegten 15. Lebensjahre niemals allein in den See hinauszurudern! Mit gesenktem Blicke und zögernd gab er das Versprechen, aber innerlich tat's ihm weh. Dann tröstete er sich: »O, die Zeit vergeht schnell! Bin ich nur einmal 15 Jahre alt, dann Juchhe!«

Inzwischen fuhr er um so fleißiger mit dem Vetter hinaus, um die Fremden überzusetzen durch die Kreuz und Quere. Ihr Boot war überall zu Hause am oberen und am unteren Ende, in Starnberg und Seeshaupt, sowie an allen Zwischenstationen und Landungsplätzen. Valentin konnte so gut rudern und steuern wie der Vetter selbst. Seine Brust und seine Arme erstarkten dabei, das hübsche Knabengesicht glühte und bräunte sich bis in das Haar, sein ganzer Körper gewann auch an Gelenkigkeit.

Wenn sie aber zum Fischfang hinausfuhren, konnte er stundenlang schweigen. Es erfordert alle Achtsamkeit zu einem guten Fang, seitdem das Dampfschiff die Ruhe der Fische unablässig stört. Anfangs des Frühjahrs gab's spärliche Beute, das rote Regenwasser war noch vorhanden, der Seestand zu hoch. Aber bald gingen ansehnliche Bodenrenken von mehreren Pfunden ins Garn, auch zweijährige Riedlinge und kleine, junge Züngeln. Wenn aber der Tag sich auch ungünstig anließ, hatte Valentin dabei niemals Langweile, es gab so vielerlei zu beobachten: wie das Wasser Bläschen warf und die verborgenen Insassen verriet, wie die tanzende Mücke von einem Fische weggeschnappt wurde, die Möve über dem See kreiste und gleich einem Pfeil auf ihre Beute herabschoß; wie die lang gezogenen Wellen, eine nach der anderen, daher kamen und plätschernd ans Boot schlugen, aufgejagt vom fernen Dampfschiffe; wie der klare Spiegel alles zurückwarf; wie die Farbe mit jeder Stunde wechselte; wie der Wind sich drehte und die Berge einen Mantel anzogen oder gar aufleuchteten im Scheidegruß der Sonne.

Trotz ihrer beständigen Angst um Valentin hörte die Großmutter gerne davon erzählen, denn sie war auch eine Fischerstochter; sie liebte den See nicht weniger als ihr Enkel. Und dennoch dachte sie beständig: »Nein, um Gottes willen, nein! Der Bub' darf kein Fischer werden!«

Oftmals, wenn Großmutter und Enkel beisammen saßen, machte sie allerlei Pläne und Vorschläge, was er werden sollte. Denn Valentin hatte die Wahl; ein kleines, wohl angelegtes Vermögen gab ihm die Mittel an die Hand, jedes Lehrgeld zu bezahlen. Sie sagte: »Wie wär's, was denkst du zum Schreinerhandwerk? Handwerk hat einen goldenen Boden, heißt's mit Recht im Sprichwort. In Starnberg gäb's einen guten Meister; dann wärst nicht weit fort und könntest alle Sonn- und Feiertage herüber kommen.« Der Knabe schüttelte den Kopf und sagte, nachdem sie geendet, kleinlaut, daß er hierzu keine Lust habe. »Aber ein Maurer, Valentin!« riet die Alte. »Du könntest dann auch solch schöne Landhäuser bauen, von denen du mir beständig erzählst, die jetzt um den See entlang wie aus dem Boden aufsteigen. Zuerst baust du für die Herrschaften, und zuletzt für dich selbst eines.«

Nun fuhr der Bub' in die Höhe und rief: »Als ob unser Haus nicht gut genug wäre, es ist ein richtiges Fischerhaus! Die anderen gefallen mir nur so gut, weil sie schön zu unserem See stehen!« Da lächelte die Blinde wohlgefällig vor sich hin und schwieg.

Ein anderes Mal rückte sie mit einem neuen Vorschlag heraus: »Valentin, was denkst zu einem Zimmermann? Du könntest auch Flöße und Schiffsboote machen!« – Jetzt trat eine Pause ein; dies gab ihm zu denken. Nach einer Weile murmelte er unzufrieden: »Da dürft' ich am Land bleiben und hätte das Nachsehen, wenn die Käufer mit meinem Schiff davon ruderten. Nein, Großmutter, wenn ich 15 Jahre alt bin, dann« –

Die Alte unterbrach ihn, sie wußte, was er sagen wollte; deshalb entgegnete sie: »O Valentin, denkst nicht daran, was deinem Vater geschehen ist?« Der Knabe schlang den Arm um ihren Hals und sagte beschwichtigend: »Deshalb muß es mir nicht auch passieren. Der Vetter rudert täglich hinaus und kommt täglich wieder heim: der Zimmermann Andres, der ist vom Dachstuhl gefallen und liegt im Gottesacker, wie mein Vater im See.«

Nun sagte die Alte: »O Bub', wenn du gar nicht vom See lassen kannst, so geh' auf ein Dampfschiff, da passiert dir nichts!«

Der Knabe fuhr zornig empor und rief: »Ich? solch ein Rotkittel werden? Ich, auf ein Dampfschiff, das den armen Fischern ihr Brot vom Munde wegstiehlt, das die Fischerei zugrunde richtet? Der Vetter erzählt mir oft genug, wie schön es in seiner Jugend gewesen ist, wo er den »Seetaler« in die Zunftkasse gelegt hat. Gewimmelt hat's auf dem See von Booten aller Art, von Einbäumen und Segelschiffen, und niemals hat man das Netz oder die Angel leer aus dem Wasser gezogen. Daß es jetzt um die Fischerei so schlecht steht, kommt allein vom Dampfschiff.«

Die Blinde lächelte wohlgefällig über den Unwillen ihres Enkels und sprach: »Gerad' wie sein Vater! so gut und so zornig!«

Ein andermal rückte sie mit dem Vorschlag heraus: »Valentin, du liest so gern und wirst in der Schule immer der Erste, willst nicht selbst ein Schulmeister werden?«

Nun leuchtete des Knaben Gesicht beim Gedanken an all die vielen, schönen Bücher, die er beim Schullehrer gesehen. Ja, vor dem Schullehrer hatte er gewaltigen Respekt. Aber, aber – Schulehalten all den Buben, die das Ende tagtäglich nicht erwarten konnten? Und dann mußte er auch fort von der Alten in die Stadt zum Studieren, fort vom See und den Bergen und sein eigenes vom Vater ererbtes Boot anderen überlassen. Diesmal sagte er fest und ruhig: »Großmutter, es bleibt dabei, wenn ich 15 Jahre alt bin, werd' ich ein Fischer, sagt kein Wort mehr dagegen.«

Da nickte sie vor sich hin: »Art läßt nicht von Art!« Aber auf dem Angesichte stand die Sorge geschrieben, ihre zitternden Finger schlossen sich noch enger um den Rosenkranz; er sah die Lippen sich zum Gebete regen und wußte, um was sie bat. Da neigte er sich zu ihr und sagte beschwichtigend: »Sorgt Euch nicht, Großmutter! Ich hab's Euch hoch und heilig versprochen, daß ich mich nicht leichtsinnig in Gefahr begebe.«

Die Alte erhob ihr gefurchtes Antlitz zu dem Enkel und sagte dann schluchzend: »O Valentin, ich muß dir's aufs Wort glauben, sehen kann ich's ja nicht! Aber denk' auch immer daran, was du mir versprochen hast.«


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