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III.

In täglich sich erneuernder Fröhlichkeit entflohen den Kindern die Wintermonate mit Hilfe der Spielsachen, die das Christfest so reichlich beschert hatte; sogar ein Handschlitten befand sich darunter. Wenn die Sonne auf dem Schnee blitzte, daß Garten und Park einem Feenreiche glichen, so stieg Fränzchen, in ein Pelzmärtelkind verwandelt, in den Schlitten, den Gabriele dann unermüdlich weiter schob. Der Gärtner sorgte schon für eine glatte Bahn, und seine beiden Jungen standen lauernd am Wege, und weil sie ihr verlangen nicht deutlicher vorzubringen wagten, wieherte der Hans hinter dem Baume hervor. Gabriele verstand ihn nur zu gern; sogleich sah sie neben Fränzchen, und dahin sausten sie, zuerst einspännig, aber bald mit einem schellenbehängten Zweigespann, wenn sie heimkehrten, rosige Gesundheit im Gesichte, und vieles zu erzählten wußten, tat ihnen die Mama leid, daß sie nicht auch im Schlitten Platz hatte; aber Fränzchen rief: »Ich sitze auf dem Bock! Mama, bitte, fahre mit uns!« – Da gab sie Befehl, den großen Schlitten herzurichten, und nun fuhr sie mit ihren Kindern aus, zuerst ohne Ziel, dann zum alten Pfarrer, um ihm für die hundertfachen Beweise der Teilnahme zu danken; aber auch die Nachbarn hatten es nicht daran fehlen lassen, und so wurden die Schlittenfahrten auch zu diesen ausgedehnt. – Bald kam wieder heiterer Verkehr ins schloß, und die Kinder fühlten sich unsäglich beglückt, was einen rosigen Widerschein auf die Mutter warf.

So verstrich der Winter; es regten sich die ersten Frühlingsahnungen in der Erde, und die Luft war absonderlich weich: aber dies bekam dem kleinen Fränzchen lange nicht so gut wie die Schneeflocken; das Kind verspürte eine beständige Müdigkeit, stundenlang saß es im Stühlchen, spielte mit Puppen und wollte nur Verschen lernen. Weil Fränzchen aber rosig aussah und schon beim Erwachen den Tag, die Mutter und jeden anlächelte, achtete niemand darauf, und als es eines Tages sagte: »Der Fuß da ist so ungeschickt, er will immer umkippen,« lachte Gabriele nur und erwiderte: »Und meine böse Hand macht einen Klecks um den anderen.«

Bevor diese Veränderung der Schloßfrau bemerkbar wurde, trat ein Ereignis ein, das sie gänzlich von ihren Kindern abzog. Genau nach Ablauf eines halben Jahres – als ob es ausgerechnet und abgewartet worden wäre - kam ein Brief des neuen Majoratsherrn, eines unbekannten Vetters, ein sehr höflicher, mit schönen Redensarten geschmückter Brief, der nur mit verblümten Worten auf seine Rechte und die Absicht, sie nunmehr geltend zu machen, hinwies und mit der Ankündigung schloß, daß er am nächsten Sonntage persönlich der Witwe seine Ehrfurchts-Bezeugungen darbringen werde.

Es war, als ob Fränzchens Mutter aus einem Traume erwachte; daran hatte sie bisher nicht gedacht. Ja freilich, der Vetter war in seinem vollen Rechte, aber dieser glatte, höfliche Brief berührte sie kälter als ein Eisklumpen, welcher Wärme zurückläßt, wenn auch eine brennende. Die rauhe, schmucklose Wahrheit mit der Beigabe eines mitfühlenden Wortes hätte ihr dagegen wohlgetan.

Jetzt suchte sie nach den Familiendokumenten und studierte sie. Alles hatte seine Richtigkeit: nach Ablauf eines halben Jahres trat die Gutsübergabe ein, die Witwe bezog ihr ausgesprochenes Wittum und nach weiterem Ablauf eines halben Jahres hatte sie das Schloß mit der Parkvilla, einem mit Geißblatt, wildem Wein und Rosen umzogenen Hause, zu vertauschen. Von diesem Tage an, wo sie das Dokument gelesen, wandelte sie in Gedanken dahin, denn sie kam sich heimatlos vor. Am Sonntage traf auch richtig der neue Majoratsherr ein: artig, förmlich, wie sein Brief, aber erkältend bis ins tiefste Herz. Sein freundliches Lächeln hatte keinen Glanz, seine zierliche Verbeugung keine Natürlichkeit, und als er Fränzchen auf die Stirne küßte, wischte es darüber weg. Gabriele hielt sich ferne, die Mutter aber saß so steif in ihrem Stuhle, als ob sie bereits fühle, sie sei hier nicht mehr daheim, sondern zu Gaste.

Nach Tisch unternahm der junge Herr Baron, geführt vom Bedienten, einen Gang durch das Schloß vom Keller bis zum Speicher. Er sprach wenig, aber seine Blicke streiften voll Mißbehagen die altmodischen, da und dort ausgebesserten Tapeten und die noch altmodischeren und verblichenen Möbel. Er hatte nur dafür einen Blick, nicht aber für die Sorgfalt, die sich überall kundgab, nicht für die gründliche Reparatur des alten Schlosses.

Am nächsten Tage erschien der neue Majoratsherr in der Kanzlei des Inspektors, um anzukünden, daß er eine Woche hier verweilen, die Bücher durchgehen und alles in Augenschein nehmen werde.

So geschah's. Dann kam der Herr Baron mit umwölkter Stirne zu Tische, am Ende der Woche verlangte er auf seinem Zimmer zu speisen, und eines Tages brachte der Diener dessen Karte mit einem kalten Abschiedsgruße, während der Wagen aus dem Hofe rollte.

Bald darauf stand der Inspektor bleich und zitternd vor seiner ehemaligen Herrin und erstattete Bericht von der Gutsübernahme. Dabei rollten schwere Tränen über die Wangen des treuen Mannes. Wie unermüdlich hatte sich der Selige geplagt, gesorgt; wie hatte er gekämpft und nicht geruht, bis alles in guten Stand gekommen war: Schloß, Scheune, Ställe, Viehzucht, Feld, Wiese, Garten, Wald! Er hatte sein eigenes und seiner Frau Vermögen hineingesteckt und nichts herausgenommen; das erntete nun der neue Majoratsherr! Und doch war dieser unzufrieden mit allem, entrüstet über die eingetragene Schuldsumme, die der Witwe gehörte, und war mit der Androhung eines Prozesses geschieden. Eigenen Tadel hätte der alte Diener ertragen, aber die Beschimpfung seines edlen Herrn im Grabe überstieg seine Kraft, sodaß der lang verschlossene Tränenquell sich öffnete.

Die Witwe aber stand da, wie zu Stein verwandelt. Es brauchte lange, um sie aus dieser Erstarrung zu reißen. Dann aber wollte sie fort, in die Hauptstadt, und dort mit ihren Kindern ganz im Verborgenen leben. Auf ihr Geheiß reiste der Inspektor schon am nächsten Tage dorthin und mietete eine stille, bescheidene Wohnung; schon nach zwei Wochen hatten sie die Heimat verlassen und waren dorthin übergesiedelt.

Alles war der Witwe gleich einem beunruhigenden, wirren Traum erschienen, erst in der Ruhe kam sie zum klaren Bewußtsein. Nun aber lagerte sich über ihr Gemüt eine Öde und Abgespanntheit, daß sie stundenlang müßig im Lehnstuhle ruhen konnte.

Ihre Stadtwohnung war im Vergleich zu dem Schlosse sehr eng, Wohn- und Kinderzimmer stießen dicht aneinander. Lautlose Stille herrschte meistens in diesen beiden Räumen; denn Gabriele besuchte nun ein Institut, und Fränzchen pflegte ja so artig mit seinen Puppen zu spielen, daß es sonst niemand zu seiner Unterhaltung brauchte. Eines Tages drang aber durch diese Stille ein seltsamer Ton an das Ohr der Mutter. Sie horchte: fast keuchende Atemzüge! Zu Tod erschrocken eilte sie ins Nebenzimmer. Dort saß Fränzchen in seinem Stühlchen, viel bleicher als früher, ohne Puppe, ohne Spielzeug, schwer aufatmend, aber dabei freundlich auf die hereintretende Mama mit den großen Augen blickend.

»Mein Fränzchen, mein Kind, mein Liebling, was fehlt dir?« rief die Mutter und kniete bereits neben dem Stuhle.

Das Kind antwortete: »Mama, ich glaube, das Kleid ist mir zu eng; bitte, häkle es auf, ich kann nicht atmen!«

Mit zitternder Hast entkleidete die Witwe ihr Fränzchen, hob es auf den Schoß, legte es an die Brust und horchte auf die schweren, fast keuchenden Atemzüge. Dann klingelte sie dem Dienstmädchen, nannte den Namen des berühmtesten Arztes der Stadt und befahl, ein Fenster zu öffnen, frische Luft hereinzulassen; ja sie befahl so vielerlei, daß eine Anordnung der anderen widersprach, wie es in der Angst und Verwirrung zu geschehen pflegt, bis endlich der erste Auftrag, den Arzt zu holen, zur Ausführung kam.

Inzwischen sagte die Mutter: »Ja, es ist hier in der Stadtwohnung zu eng und stickicht für dich, du bist an frische Luft gewöhnt, und ich ließ dich so alleine sitzen, um meinen Gedanken nachzuhängen. Aber es soll anders werden, mein Herzchen; wir wollen spazieren gehen.«

Doch das Kind unterbrach sie, fast ängstlich flehend: »Nicht spazieren gehen, Mama; mein Fuß tut so weh, der böse Fuß da.«

Bittere Vorwürfe quälten die Seele der Mutter. Von alledem hatte sie nichts gewußt, nicht darauf geachtet, es wohl überhört. Nun war alle Sorge nichts, gar nichts mehr gegen diese. Was kümmerte sie das Schloß, der Majoratsherr, der Prozeß! Ihr Fränzchen überwog alle Schätze der Welt.

Der Arzt kam, untersuchte die Kleine, erklärte das Übel als einen tuberkulösen Krankheitskeim und schloß mit den Worten: »Wir müssen das Blut zu verbessern suchen und das Kind aufs Land, ins Gebirge bringen. Getrost! ich habe schon weit schlimmere Fälle sich zur Gesundheit entfalten sehen. Aber wir beide, Sie und ich, dürfen nichts versäumen und nicht müde werden; wir beide müssen mit Gottes Hilfe das Kind retten; denn es ist in Gefahr!«

Zu Fränzchen wieder zurückgekehrt, neigte sich der freundliche Arzt zu seiner kleinen Patientin und sagte: »Fränzchen, wollen wir gute Freundschaft schließen?« Und sogleich lächelte der Mund, es streckte ihm beide Händchen entgegen, nickte mit dem Kopfe und sagte ein kräftiges »Ja«.

Der Arzt faßte die Händchen und fragte: «Dann wirst du also die Säftlein, die ich dir verordne, trinken und das Mäulchen nicht verziehen, damit es immer so freundlich bleibt? O, ich will schon etwas Süßes hineinmischen!«

»Ja – oder auch etwas Bitteres!« ergänzte bereitwillig die Kleine.

»Und den unartigen Fuß darf ich auch in die Kur nehmen und artig machen, damit er wieder gehen kann; wir müssen ihn einwickeln.«

»Ja!« sagte Fränzchen herzhaft, und dann war die gegenseitige Freundschaft geschlossen und mit einem Kuß besiegelt.

Von jetzt ab begann ein ganz verändertes Leben in diesem Hause. Die Mutter schwebte gleichsam wie ein Sonnenstrahl durchs Kinderzimmer und blieb dort mit ihrer Wärme und Heiterkeit. Fränzchen war nie allein und nie mehr ohne Gespielin; die Mama war immer um dasselbe. Nur eines Tages übertrug sie Gabriele die Pflege, während sie das vorhin erwähnte, vom Arzte ausgesuchte Landhaus mietete, zunächst dem Gebirge und doch auch wieder nahe bei der Stadt, um den ärztlichen Beistand schnell zur Hand zu haben. Und als es völlig Frühling geworden war, hatten sie sich daselbst bereits angesiedelt. Aber augenblicklich war die Besitzung nichts Besseres als ein Bauernhof, höchstens für die Sommermonate geeignet. Es mußte geändert und, wenn die Lage sich als zuträglich erwies, gekauft, der Prozeß mit dem Majoratsherrn mußte gewonnen werden!

Alle geistigen Eigenschaften der reich begabten Frau erwachten bei diesem Gedanken, alle Energie ihres Wesens stählte sich zur unbesiegbaren Kraft. Und als der Arzt auf die Notwendigkeit hinwies, für den Winter ein südlicheres Klima zu wählen, war sie fest entschlossen, mit eigenen Augen auf ihr gutes Recht zu sehen, den Advokaten anfeuernd und alle die Gesetze studierend, die sie schützen konnten. Sie selbst aber mußte sparen, um genug Geld für ihre Kinder zu haben; sie selbst mußte gesund, heiter sein, um ihre beiden Kinder zu lehren, zu beglücken, zu pflegen. Der Arzt hatte ja gesagt, Heiterkeit sei auch ein Hilfsmittel für gesundes Blut.

Auf diese Weise war die Mutter wieder geheilt, geistig und körperlich, und zwar durch ihr krankes Kind, das der Vater sterbend mit dem Kreuze gesegnet und den »Haussegen« genannt hatte.


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