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II.

Wie der Valentin zum Gespött seiner Kameraden wurde.

Wenn Valentin sich schon durch die Lust zum Lesen von den übrigen Buben absonderte, gab es noch eine andere Ursache, seine eigenen Wege zu wandeln.

Vor Jahren war die Blinde erkrankt, und Valentin hatte um ihr teures Leben gezittert. Als der Arzt kam, blickte er flehend und vertrauend zu diesem empor und schlich beim Weggehen ihm nach, indem er leise fragte: »Herr, muß sie sterben?« Der Arzt legte beruhigend die Hand auf des Knaben Haupt und erwiderte: »Ich glaube, sie bleibt am Leben, wenn du sie bei jedem Wetter hinausführst, aber nicht nur bis zur nächsten Bank; sie muß Bewegung haben, sie ist's gewohnt von Jugend auf, und beim alleinigen Herumsitzen schaut sie immer in ihre Unglücksnacht hinein. Sorg', daß sie an etwas anderes denkt und herzlich lacht; das ist für sie besser als jede Medizin. Aber ich will ihr nichtsdestoweniger etwas Heilsames verschreiben.«

Die Blinde genas bald darauf, und Valentin hätte anfangs beinahe in seinem Eifer des Guten zu viel getan. Dann aber wählte er verständig je nach Tageszeit und Witterung die Wege.

Es ist Abend und nahe dem Sonnenuntergang. Die Alte sitzt auf einem Hügel nächst dem Baumstamme und schattigem Gebüsche. Valentin steht neben ihr und blickt hinaus auf den See. Auch die Alte hat ihr blindes Angesicht dahin gerichtet; es tut ihr so wohl, die kühle Seeluft darüber hinstreichen zu lassen.

Ein über das andere Mal ruft der Knabe: »O, Großmutter, heut' ist's eine helle Pracht! Mitten durchs Wasser geht ein goldiger Streifen, als ob's im Grund brenne.«

»Und das Gebirge?« fragt die Blinde.

»Der Heimgarten, der Herzogenstand und die Benediktenwand sind blau wie der Himmel; jetzt, jetzt röten sie sich, aber die Zugspitze und der Karwendel schauen schneeweiß darüber her. Jetzt, Großmutter, werden auch diese immer rötlicher, und das ganze Ufer von Almanshausen bis Seeshaupt und Bernried ist ganz wie mit Feuer übergossen.«

Die Alte nickt und fügt bei: »Ja, und es ist, als ob die Schloßfenster von Ammerland brennten.«

»Seht Ihr's denn, Großmutter?« fragte« Valentin ganz erstaunt. Sie entgegnete lächelnd: »Ich seh' nun alles mit deinen Augen, Bub'! Wenn du mir so erzählst, kommt mir alles wieder, was ich ehedem gesehen und in meiner Dunkelheit beinahe vergessen hab'.« An einem Sonntagsmorgen führte Valentin die Großmutter durch die schattigen Parkanlagen an das niedere Seeufer. Wie schön blüht der einfache und gefüllte Weißdorn in purpurroten Röslein! Holunderbüsche und Goldregen verbreiten Duft und Farbenglanz, und die Vögel singen von allen Zweigen. Das ist erquickend für die Alte, und was ihr der eine Sinn versagt, ersetzt Valentin durch sein Geplauder.

Dicht am Ufer steht eine Bank, sie setzen sich, und die Blinde fragt: «Wo sind wir jetzt?«

»Gerad' der Roseninsel gegenüber!« antwortete Valentin.

»Wörth,« verbessert die Alte und fährt in ihrer Rede fort: »Zu meinen Zeiten hat die Insel Wörth geheißen. Ich bin oftmals über die Brücke hinübergegangen.«

Valentin rief: »Es ist aber keine Brücke da, man darf nur mit Eintrittskarten hinüber und muß sie beim Rentamt in Starnberg holen!«

»Weiß schon,« sagte zustimmend die Alte. »Zu meinen Zeiten hat die Insel noch dem Kugelmüller gehört, und der hat dort Bier ausgeschenkt. Am Feste Peter und Paul zur Kirchenzeit, wo das Haus leer gestanden, ist Feuer ausgebrochen und hat alles bis auf den Grund niedergebrannt. Aber der Kugelmüller wird wohl dabei gut weggekommen sein, denn unser König Max hat ihm die Insel abgekauft und hat ihr den Namen »Roseninsel« gegeben.«

Nun rief der Knabe: »Das ist auch ihr richtiger Name, Großmutter! Ich habe mit dem Vetter viel Fremde im Boot hinübergeführt und bin mit ihnen hineingekommen. Denkt Euch, alle Sorten von Rosen gibt's da! Sie wachsen sogar an den Bäumen hinauf und hängen wie Kränze an der Schloßtür. Das Sommerhaus hat Säulen aus Rosen, und um sein spitzes Dach ist ein Kranz davon gewunden. O, Großmutter, wenn Ihr's nur auch sehen könntet!«

»Seh's ja deutlich mit deinen Augen, guter Bub'! Aber der See und die Berge sind sich gleich geblieben. Gelt, das glitzert! Ich merk's am Sonnenschein, der in mein Gesicht brennt.«

»Ja, Großmutter, stellenweis; aber dann wieder hat der See dunkle Flecken.«

Da nickte die Alte und sagte: »Wirst sehen, das gute Wetter dauert nicht mehr lang. Mich reißt's auch in den Füßen; beides sind schlechte Wetterzeichen. Gewiß ist das Gebirg' ganz nah'?«

»Ja, Großmutter, man erkennt beinahe jede Felswand.«

Weil nun der Knabe so treu an der Großmutter hing, ihr bei der Arbeit half, ihr vorlas und sie sorgsam umherführte, widerstand er jedem verlockenden Zuruf seiner Kameraden, mit ihnen zu spielen, und antwortete: »Hab' nicht Zeit, muß bei meiner Großmutter bleiben!«

Da spotteten sie: »Laßt ihn, er hängt lieber am Rockzipfel der Alten!« Ein anderer rief: »O, wir sind ihm zu gering, er will oben hinaus und studieren; darum guckt er immer in seine Bücher, sogar auf dem Weg!«

Ein dritter rief ihm zu, wenn er solches tat: «Valentin, fall' nit hin!« und bald schrieen diesen Spottnamen ihm alle Buben nach.

Da wallte die Zornesglut in ihm auf; er ballte die Fäuste, aber er bezwang sich und dachte an die schönen Geschichten und ihre guten Lehren in seinen Preisbüchern. Für was standen sie dort, wenn man es ihnen nicht nachmachte?

Einmal trat die Versuchung verlockend an ihn heran. Fischmeisters Georg sagte: »Fahr' mit nach Leoni hinüber! Der König ist im Schloß Berg, schau', die blauweiße Fahne flattert auf dem Turm, und sein kleines Dampfschiff kommt eben einher; vielleicht fährt er auf die Roseninsel, und wir kriegen ihn zu sehen.«

Valentins Wangen glühten in freudiger Erregung, und er fragte: »Rudert uns dein Vater hinüber?« Da lachte dieser und rief: «Was brauch' ich meinen Vater dazu, das können wir zwei so gut wie er!« Jetzt erlosch das Freudenfeuer in Valentins Gesicht, er wandte sich ab und sagte: »Fahr' allein!«

Dann ging er eilig davon, weil er sich zu bekennen schämte: »Die Großmutter hat's verboten.« Höhnend schaute ihm Georg nach und erzählte den anderen, der Valentin hatte nicht so viel Mut, wie in seinem kleinen Finger stecke.

Ein andermal forderte ihn Mesners Joseph zum abendlichen Gebetläuten auf. Sie wollten mitsammen tüchtig die Stränge ziehen, daß der Klang weithin über den See töne. Wie gern wäre Valentin dabei gewesen, das war nichts Verbotenes! Aber er entgegnete mit finsterer Miene: »Ich hab' meiner Großmutter versprochen, heimzukommen, sie wartet!« – Dieser antwortete: »Was schadet's ihr denn? Meine Mutter und Großmutter warten oft auf mich und sind noch nie davon krank geworden; komm'!«

Aber Valentin rief zornig: »Laß mich!« und fort lief er, dieses Mal im stillen vor sich hin weinend. Ein Knabe, der ihm begegnete, sah ihn weinen und erzählte es den anderen. Da lachten und höhnten alle aufs neue: »Er hat keinen Mut, er kann nur ein finsteres Gesicht machen, das ist alles, wir wollen ihm morgen nach der Schule aufpassen und ihm einen Spott antun!« - »Ich bin dabei!« rief Bergbauers Bonifaz, einer der größeren Knaben. »Mich wird der Hasenfuß erst recht fürchten! Paßt einmal auf!«


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