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VI.

Die blinde Großmutter hat's doch gesehen!

Valentin wandelte tagsüber wie im Traume und vermied seine Großmutter, bereitwilliger noch als sonst dem Ruf der Köchin folgend, welche ihm einen Auftrag erteilte, der ihn lang vom Hause fernhielt. Als er endlich heimkam, sagte die Großmutter: »Es muß schon spät sein, führ' mich in die Kammer, und dir wird die Ruh' auch gut tun, armer Bub'!«

Wäre die Großmutter nicht blind gewesen, sie hätte sich über Valentins verlegenes Aussehen gewundert. Mit größter Sorgfalt geleitete er sie über die schmale Treppe in ihre Schlafkammer, kniete neben dem Bett auf den Boden, stützte seine Ellbogen auf den Stuhlsitz und verrichtete fast gedankenlos das gebräuchliche Nachtgebet. Er kam nicht einmal zum klaren Bewußtsein, als er die Worte sprach: »Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel!«

Dann ging er in die Nebenstube, wo sein Lager stand und warf sich mit seinen Kleidern aufs Bett. Es verstrich kaum eine Viertelstunde, als er die gleichmäßigen Atemzüge der schlafenden Großmutter vernahm. Über seine Augen kam jedoch kein Schlummer. Deutlich drang der Glockenschlag durch die lautlose Nacht zu ihm herüber, und immer ungeduldiger harrte der Knabe des spät aufgehenden Mondes.

Endlich erhellte sich die Kammer, aber er zögerte, durch die Stube der Großmutter zu schleichen. Ihm war's, als ob sie sich bewegt und seinen Namen gerufen habe. Da flüsterte der Versucher: »Das ist gerade recht, schleich' hinaus, und hört sie dich, dann sag': Hier bin ich, du hast mich gerufen!«

Gedacht, getan. Der Mondschein beleuchtete auch das Lager der Großmutter, und ihr altes, liebes Gesicht erschien dabei so bleich wie im Tode. Da zögerte der Knabe; doch sein Versucher flüsterte: »Sie warten am Ufer, geh'!«

Und Valentin ging. Geräuschlos verließ er das Haus und trat in den Zauberkreis einer Vollmondsnacht. Als nun aber die Turmuhr Mitternacht schlug, überkam ihn doch ein Grauen; ihm war's, des Vaters seliger Geist schwebe durch den Mondschein über dem See, – und so schrak er zusammen beim Anblick zweier Gestalten. Da rief ihm Günter entgegen: » Valentin, wo bleibst so lang?« Nun eilten sie zum Landungsplätze und bestiegen das Boot. »Mach' das Schiff los!« rief Oskar ungeduldig. Valentin löste es vom Pfahle und schlug mit beiden Rudern in die mondbeleuchtete Flut, daß es in dem aufspritzenden Wasser schimmerte.

Da saßen sich die Knaben gegenüber, gleichsam in das Märchenreich versetzt. Die Nacht ist nicht für alle Wesen zum Schlummer geschaffen, seltsame Stimmen klangen durch die Stille. Ein Rauschen ging durch die Binsen, Frösche und Unken quakten, das Käuzchen rief kläglich dazwischen, ein Schrei tönte durch die Luft, der schwarzweiße Fischervogel schwirrte wie ein Pfeil hernieder, im Wasser plätscherte es, und hoch empor mit seiner Beute und hinüber zum Land entfloh der Räuber.

Wie im Takte klang der Ruderschlag, und das Boot schwamm durch die leicht gekräuselte, glänzende Wasserstraße. Alles ringsumher schien in Gold und Silber verwandelt: der Kiel des Nachens, die beiden Ruder, die Tropfen, die davon herabspritzten.

So fuhren sie eine Zeitlang umher und dann hielten sie. Zwei junge Herzen pochten voll Entzücken, denn was sie erlebten, übertraf ihre Erwartung. Einer aber, Valentin, konnte zu keinem ungestörten Genusse gelangen. Immer aufs neue schaute er zum Hügel und zum verlassenen Häuschen empor, wenn es der Mond recht hell beleuchtete, war's ihm, als ob es brenne. Dann plötzlich überkam ihn die Angst: »Ich hab' die Tür offen gelassen! Wenn ein Dieb sich hineinschliche und die Großmutter ermordete! Oder wenn sie vielleicht aufgewacht wäre, nach mir gerufen und mich dann in meinem leeren Bette gesucht hätte!«

Die Angst schnürte ihm das Herz zu. Er vernahm nichts mehr vom Geplauder seiner Genossen, sondern wandte plötzlich das Boot heimwärts, obgleich Oskar und Günter noch lange nicht genug hatten an der Mondscheinfahrt. Da schlug es 2 Uhr, und sie erschraken über die späte Stunde.

Wie schön klang der Ruderschlag! Die Studenten hätten gern dazu gesungen, aber Valentin sagte flehend: »Der Nachtwächter hört's, und wir werden verraten. Halb 3 Uhr war's, als sie landeten, stillschweigend den Hügel emporstiegen, einander zum Abschied die Hände reichten und Oskar flüsterte: »Morgen bekommst du die >Wunder des Meeres<. Du hast's verdient!«

Valentin seufzte, ihm war's, als ob er etwas ganz anderes verdient hätte, und des Buches verlockender Reiz entschwand. Nachdem seine Befürchtung sich als unbegründet erwiesen und er die Großmutter schlafend gefunden hatte, ging er zu Bette. Aber kein Schlummer überzog seine Augen. Da vernahm er fast stöhnend der Blinden Ruf nach ihm. sogleich sprang er zu ihrem Lager und fragte: »Was ist's, Großmutter, fehlt Euch etwas?«

Jetzt erwachte sie, erhob sich im Bette, tastete mit beiden Händen umher, bis sie den Enkel fand, und sagte: »Gott sei Dank, Valentin, daß du da bist. Ich hab' so ängstlich von dir geträumt. Morgen erzähl' ich's dir. Jetzt geh' wieder in dein Bett und schlaf' weiter!«

Bald lagen beide im tiefsten Schlummer. Valentins gesunde Natur holte das Versäumte reichlich nach. Es bedurfte heute des Weckrufs der Großmutter: »Valentin, es hat schon das erstemal zur Kirche geläutet. Steh' auf, 's ist Sonntag!«

Nun sprang er mit beiden Füßen zugleich aus dem Bette, wusch sich so kräftig, als ob es gelte, sich von jeder Schuld zu reinigen, kleidete sich sonntäglich, führte dann seine blinde Großmutter zur Kirche und kniete andächtig betend neben ihr.

Nach dem Gottesdienste winkten Oskar und Günter ihm zu. Er verstand gar wohl, was es zu bedeuten habe, deshalb übergab er die Großmutter dem Bonifaz und bat, daheim auf seine Rückkehr zu warten, es gäbe etwas Neues. Valentin dachte nämlich an sein Buch und freute sich auf die Überraschung des Kameraden.

Sein Ausbleiben dauerte eine lange Weile, Boni war ungeduldig geworden und fortgegangen.

Die Alte saß gesenkten Hauptes im Lehnstuhle und fuhr bei Valentins raschem Eintritt erschrocken empor, indem sie fragte: »Bist du 's, Kind? Glaub' fast, ich hab' wieder geträumt! Der dumme Traum von heut' nacht will mir gar nicht aus dem Sinn. Horch' einmal, was ich geträumt hab'!«

Der Knabe entgegnete fröhlich: »Recht so, Großmutter! Erzählt mir Euren Traum, hernach erzähle ich Euch meine Neuigkeit,« und er setzte sich auf die Eckbank neben dem Tisch, der Alten gegenüber.

Die Großmutter begann: »Mir ist's gewesen, als ob ich wieder deutlich sehen könnt', und du bist vor mir leibhaftig gestanden wie dein Vater selig als Bub'. Da ist's in meinem Traum Nacht geworden, finster und still. Ich hab' nichts von dir gesehen, aber gemeint, du seiest nebenan in der Kammer. Auf einmal hör' ich schleichende Tritte, hör' die Stiege krachen, hör' die Haustür gehen und dann Mitternacht schlagen; zwölfmal hab' ich gezählt, alles nur im Traum, und dabei hab' ich gebetet: Alle guten Geister, lobet Gott den Herrn! Denn ich hab' mich schier gefürchtet und denken müssen, dein Vater sei ja auch dabei. Und wie ich so denk' im Schlaf, hör' ich rufen: » Wo bleibst so lang, Valentin?« und dann ist mir der Angstschweiß ausgebrochen, wie eben jetzt.«

Die Alte schwieg, wischte sich die Stirne mit der Schürze, Valentin aber zitterte, und seine Schuld preßte ihm die Brust zusammen. War's wirklich ein Traum oder hatte die Großmutter doch gewacht?

Nun fuhr die Blinde in ihrer Erzählung fort: »Ich denk' in meiner Angst: Der Vater holt seinen Buben, er zieht ihn zu sich hinab in den See, und ich ruf': »Herr Gott, hab' Mitleid mit einem armen Weibe! Und ich schrei' im Traum so laut, daß ich von meinem eigenen Geschrei erwache. Jetzt hab' ich gehorcht und gehorcht auf deinen Atemzug; aber du bist im ersten Schlaf gelegen, wo man nicht so leicht erwacht; ich bet' also ein Vaterunser und schlaf' darüber ein. Doch der Traum fängt von neuem an. Mir ist's, als hört' ich rufen: » Mach' das Schiff los!«

Die Großmutter schwieg, und Valentin unterdrückte mühsam ein Stöhnen; denn: »Valentin, wo bleibst so lang?« und »Mach' das Schiff los!« hatten Günter und Oskar gerufen. Er rutschte von der Bank herab auf die Kniee, erhob seine gefalteten Hände, richtete die Augen in banger Erwartung auf die Großmutter, und Träne um Träne rann über seine Backen.

Die Alte fuhr fort: »Da war mir's, als ob ich mit meinem eigenen toten Sohne um sein lebendiges Kind ringen müßte. Ich konnte mich aber nicht regen, ich lag wie festgebunden und rufe wieder laut: Valentin! und erwach' zum zweiten Male.

Wieder horch' ich und vernehm' keinen Atemzug, und jetzt nützt alles Beten nichts mehr, die Angst ist übermächtig. Da denk' ich: Stehst auf, gehst hinein in seine Kammer und fühlst, ob er in seinem Bett liegt!«

»Großmutter, seid Ihr aufgestanden!?« schrie Valentin mit Herzensangst.

Sie schüttelte langsam den Kopf und erwiderte: »Nein, Bub, nein! Ich hab' zu mir selbst gesagt: schäm' dich, so mißtrauisch und argwöhnisch zu sein! Wohin käm's bei deiner Blindheit, wenn du nimmer vertrauen wolltest auf solch einen braven, guten, gehorsamen Buben, der mir nie ein Leid getan hat, der« –

»Großmutter! Großmutter!« tönte es jetzt immer näher, und auf seinen Knieen rutschte der Knabe herbei, bis er sein in Tränen gebadetes Gesicht in ihrem Schoße barg.

»Was ist dir nur, Kind?« fragte sie erschrocken, und er schrie förmlich: »Alles ist so, wie Ihr's geträumt habt, Großmutter, nur das vom Vater nicht! Ich bin mit dem Oskar und Günter auf dem See um Mitternacht beim Mondschein gefahren! Ich bin nicht in meinem Bett gelegen! Verzeiht mir nur dies einzige Mal, sonst bricht mir das Herz vor Reue und Scham!«

Die Alte schwieg. Ihre Hände zitterten auf dem Haupte des Knaben, und dieser weinte nun laut. Dazwischen tickte die Schwarzwälder Uhr und erzählte der Blinden eine ähnliche Geschichte aus der Kindheit des toten Vaters, wie er auch einmal ungehorsam gewesen war und dann reuig vor ihr gekniet hatte. »Ich hab's ihm verziehen, und doppelt brav ist er hernach geworden!« flüsterte sie.

Der Knabe hatte diese Worte vernommen und auf sich bezogen. Er richtete sich empor und rief: »Ja, Großmutter, seid barmherzig und verzeiht mir! Gewiß, ich will dann doppelt brav werden.«

»Ich verzeih' dir, Kind!« sagte die Alte mit bewegter Stimme. Dann fügte sie sanft und milde hinzu: »Ich hätt' nicht so eigennützig sein und dir etwas verbieten sollen, was andere deines Alters tun und was kein Unrecht ist. Valentin, künftig rudere in Gottes Namen in den See hinaus, aber denk' an deine Großmutter und daß du ihr einziges Augenlicht bist. Dein Schutzengel sei mit dir. Amen! – Und jetzt, Bub', erzähl' mir alles aufrichtig.«

Der Knabe atmete wieder, von Schmerz befreit, auf, er zog den Fußschemel heran und berichtete von der Mondscheinfahrt. Zum Schluß brachte er sein Buch und wollte gleich etwas daraus vorlesen. Aber die Blinde schüttelte verneinend ihr Haupt und sprach: »Es ist und bleibt ein Sündenlohn.« Valentin schaute ganz erschrocken drein, dachte nach und dann legte er traurig das Buch beiseite.

Die Großmutter sagte nach einer Weile: »Über unserem Geplauder hab' ich ganz vergessen, daß du gewiß bei den Professorsleuten etwas zu besorgen hast.«

»Ja, Großmutter!« antwortete Valentin. Dann nahm er das Buch unter den Arm, ging nochmal zur Blinden, reichte ihr die Hand und rief freudig: »Ich komm' aber gleich wieder, damit Euch die Zeit nicht lang wird und Ihr nimmer an den bösen Traum denkt.«

Als Valentin dort anlangte, wies ihn die Köchin mit einem bedeutungsvollen Blicke in des Herrn Stube. Bescheiden klopfte er an und trat ein, bei der Tür stehen bleibend. Oskar und Günter standen dort und wagten nicht, den Kopf zu heben, denn der Vater hatte eben seinen strengen Verweis beendet und sagte nun: »Jetzt bittet den Valentin um Verzeihung, daß ihr ihn verführt habt!«

Der Knabe kam ihnen jedoch zuvor und rief mutig: »Nein, Herr Professor, ich bin schuld, ich hab' das Buch haben wollen, und das Buch hat mich verführt! Darum bringe ich's dem Herrn Oskar zurück!«

»Wack'rer Junge!« sagte der Professor und fügte hinzu: »Dem Oskar gehört das Buch nicht mehr; wenn du es also nicht behalten willst, so gib es mir. Aber ich merk', du hast noch etwas zu sagen; nur frei heraus mit der Sprache!«

»Gnädiger Herr, ich möcht' nur bitten, jagen Sie mich deswegen nicht fort! Ich hab' von Oskar und Günter so viel gelernt, wir sind zusammen so lustig gewesen, und jetzt nimmt's solch ein böses Ende!«

Tränen rannen über Valentins Wangen; er küßte des Professors Hand. Dieser war gerührt von des Knaben Treuherzigkeit und rief lebhaft: »Hoffentlich lernen meine Söhne von dir, wie man ein begangenes Unrecht erkennt und bereut. Seid nunmehr die übrige Zeit recht brav und fröhlich beisammen!« – Valentin war noch nicht fertig. Er blickte fragend empor, bis der Professor sagte: »Was hast noch auf dem Herzen, Valentin?«

Dieser bat: »Darf der Bonifaz nicht auch dabei sein? Er ist mein bester Kamerad und hat so gut für meine Großmutter gesorgt. Herr Professor, er ist viel braver als ich!«

Dieser lächelte und sagte: »Recht so! und vergeßt die alte, blinde Großmutter auch nicht!«

Nun sprangen die Knaben fröhlich in den Sonntagsmorgen hinein, holten den Bonifaz und gingen alle mitsammen zur Blinden, um ihr den guten Ausgang zu erzählen.

Am Nachmittag gab sie ihren vereinten Bitten nach, ließ sich zu ihres Sohnes Boot führen und nach langer, langer Zeit wieder fuhr sie auf dem See, gerudert von ihrem Enkel Valentin.

Nur zu bald kam der Abschied, denn die Ferien gingen zu Ende, und die Professorsfamilie mußte in die Stadt zurückkehren. Valentin erhielt von der Frau Professorin fünf blanke Guldenstücke zum Winterrock für die Großmutter; der Professor aber reichte ihm das verhängnisvolle Buch mit den Worten: »Das ist mein Geschenk, der Lohn für die wackere Kameradschaft.«

Valentins Gesicht glühte vor Freude, als er des Professors Hand küßte und seinen Dank stammelte. Er konnte sich das Vergnügen nicht versagen, einen Blick in das teure Buch zu werfen. Dort, auf dem ersten weißen, ehedem leeren Blatte stand nun, von des Professors eigener Hand geschrieben:

Fahr' kühn hinaus mit deinem Kahn
Auf dieses Lebens Ozean!
Ein guter Wind sei dein Begleiter
Und über dir der Himmel heiter!
Im Sturm und in finst'rer Nacht
Komm dir zu Hilfe Gottes Macht;
Nach seinem Leuchtturm mögst du schauen
Mit unverwandtem Gottvertrauen!

Verschließ' dein Aug' zu keiner Zeit
vor dieses Meeres Herrlichkeit!
Der Wunder gibt's in reicher Fülle
Und Perlen in der Muschel Hülle.
Nur sei und bleib' auf steter Hut
Mit frommem Sinn und starkem Mut,
Daß jenseits du vom Ozeane
Auch sicher landest mit dem Kahne!


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