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Heimkehr

Walther hatte den Pfarrer Gut nach Faulheim zurückbegleitet. Dieser würdige Geistliche kam täglich, seinen tiefgebeugten Freund zu trösten und durch innige Theilnahme das harte Geschick zu erleichtern. Beata kehrte eben vom Friedhofe zurück, ganz in Trauer, und die Schönheit ihres lilienweißen Angesichtes bildete einen rührenden Gegensatz zu dem Ausdrucke tiefen Schmerzes. Dicht hinter ihr fuhr eine Kutsche in den Hof. Unter dem Eingange des Hauses blieb sie ahnungsvoll stehen. Der Kutscher öffnete den Schlag. Ein bleicher, kranker junger Mann wurde sichtbar, und langsam entstieg er dem Wagen. Beata stieß einen leisen Schrei aus und stand im nächsten Augenblicke an Heinrichs Seite. Mit einem matten Lächeln reichte er ihr die Hand.

»Sei gegrüßt, Beata!« sprach er kaum hörbar.

Sie vermochte kein Wort hervorzubringen, so mächtig erschütterte sie der mitleiderregende Zustand Heinrichs.

Schweigend gingen sie nebeneinander in das Haus. Im Gange blieb er stehen.

»Ist der Vater zu Hause?«

Sie nickte bejahend; denn sie fühlte, daß beim ersten Wort ihre Thränen hervorbrechen würden.

Er ging langsam und zögernd weiter. Sie begleitete ihn, nach Fassung ringend, und in der Meinung, er begebe sich nach seinem Zimmer. Als er jedoch seine Schritte nach den Gemächern des Vaters lenkte, überkam sie große Angst.

»Lieber Heinrich, Du bist von der Reise sehr angegriffen, – ich meine, Du solltest vorher etwas ruhen.«

Er blieb stehen und blickte sie mit großen, eigentümlich aufleuchtenden Augen an.

»Ausruhen? Nein, – für mich giebt es keine Ruhe, bis ich den Vater gesprochen, seine Verzeihung erlangt habe.«

»Dann ist es nothwendjg, auf Deine Ankunft den Vater vorzubereiten; denn er ist sehr nervenleidend, und von Kummer gebeugt.«

Er begriff den verschwiegenen Zweck der nothwendigen Vorbereitung und nickte beistimmend mit dem Haupte. Sie ging voran, und er folgte bis zum Vorzimmer, wo er harrend stehen blieb. Ohne ein Wort zu verstehen, vernahm er Beatas Stimme in flehendem Tone.

»Nein, ich will ihn nicht sehen!« rief der Vater mit Heftigkeit. »Fort mit ihm, – fort mit dem Abtrünnigen, – fort mit dem Sargnagel seiner Mutter!«

Der unglückliche junge Mann wandte sich um und ging nach seinem Zimmer. Dort fand ihn Beata, auf dem Sopha sitzend und vor sich hinstarrend.

»Der Vater kann Dich für den Augenblick nicht empfangen, lieber Heinrich, – er ist eben wieder sehr aufgeregt. Vorläufig erhole Dich von der Reise. Ich will sogleich nach der Küche, für Deine Erquickung zu sorgen.«

»Ich bitte allerdings um eine Erquickung, die aber nicht in Speise und Trank besteht, sondern in etwas Anderem. Setze Dich neben mich, Beata, und erzähle mir von den letzten Stunden unserer lieben Mutter.«

Beata vermochte jetzt nicht mehr, ihre Gefühle zu beherrschen. Sie weinte heftig. Auch ihm bebten krampfhaft die Lippen, ein namenloser Schmerz zuckte durch seine Mienen, aber keine lindernde Thräne fiel aus seinen Augen. Er saß neben ihr und harrte, bis sie ruhig geworden.

»Nun erzähle, Beata, – Alles, – gewissenhaft Alles! Verschweige mir nichts.«

»Nach der Abreise des Vaters, blieb die Mutter unruhig und bangvoll. ›Ein fürchterliches Unglück stürzt über mich herein,‹ klagte sie. ›Heinrich wurde abtrünnig am Glauben, und ich trage alle Verantwortung, – ich verschulde das ewige Verderben meines Kindes.‹ – Ich tröstete nach bestem Können, und sie schien sich zu fassen. In aller Frühe des folgenden Morgens verlangte sie, zu beichten. Herr Gut spendete ihr die heiligen Sakramente. Dann erschien sie gefaßt und stark genug, das Schrecklichste zu ertragen. Gegen Abend änderte sich ihr Zustand. Sie schrack oft zusammen, bebte an allen Gliedern, und ihre Augen hatten einen ergreifend wehmüthigen Ausdruck. Sie legte sich zur gewöhnlichen Zeit des Schlafengehens nicht nieder, sie wollte den Vater erwarten. Kurz vor elf Uhr kam er. Als der Wagen in den Hof rollte, waren Spannung und Angst der Mutter auf das Höchste gestiegen. Sie saß auf dem Sopha und zitterte am ganzen Leibe, die Augen in starrer Erwartung auf die Thüre gerichtet. Der Vater trat ein, in dem bleichen Angesichte schweren Kummer. Sein Bericht war überflüssig; denn er trug die Unglücksbotschaft in den Zügen. Kaum erblickte ihn die Mutter, als sie einen jähen Schrei ausstieß. ›O Gott, mein Kind, – mein verlorenes Kind!‹ rief sie aus, beide Hände zum Himmel hebend. ›O du barmherziger Gott, rette mein armes Kind!‹ – – Der Vater tröstete und sie hörte scheinbar ergeben zu. Plötzlich sank sie um und war – todt!«

Beata schwieg und bezwang mit seltener Selbstbeherrschung ihre Thränen; denn Heinrichs Aussehen und Haltung flößten ihr große Besorgniß ein. Er war mit fast unheimlicher Aufmerksamkeit der Erzählung gefolgt und dann schweigend gesessen. Jetzt erhob er sich und griff nach dem Hute.

»Wohin willst Du, Heinrich?«

»Zum Grabe!«

»Ich bitte, genieße doch zuvor etwas!«

»Mein einziges Bedürfniß ist jetzt das Grab der Mutter.«

Er ging hinaus mit gedehnten Schritten; sie geleitete ihn.

»Der Kirchhof ist entlegen, – willst Du nicht den Wagen nehmen?«

»Das hält zu lange auf, – ich habe Eile.«

»Wäre doch nur Walther da, damit er Dich begleiten könnte!«

»Sei beruhigt, Beata, bald bin ich zurück.«

Er ging rasch über den Hof und verschwand durch eine Seitenpforte.

Beata stieg in das obere Stockwerk und blickte durch ein Fenster, wo man den Weg nach dem Friedhofe übersehen konnte. Dort ging er, hastig, zuweilen taumelnd, wie ein Berauschter. Eine große Unruhe überkam die Späherin. Sein Gang wurde langsamer. Mit Aufbietung aller Kräfte schien er sich weiter zu schleppen. Beata eilte hinab und ließ den Kutscher rufen.

»Jakob, spannen Sie augenblicklich den Wagen an und fahren Sie nach dem Friedhofe. Ich eile dahin voraus. Aber unverzüglich.«

»Sogleich, gnädiges Fräulein!« sagte der Mann, nicht wenig betroffen über Beatas drängende Angst.

Sie hastete nach ihrem Zimmer, warf ein Tuch um die Schultern und schlug den Weg nach dem Friedhofe ein.

Dort war Heinrich inzwischen angelangt. Er trat zum Begräbnißplatze der Familie und stand vor dem frischaufgeworfenen Hügel über der leiblichen Hülle seiner inniggeliebten Mutter. Die Merkmale eines unbeschreiblichen Wehes zuckten über sein Gesicht. Die Lippen zitterten und alle Glieder bebten, wie im Schüttelfrost.

»O Mutter, – oh – oh!« fuhr es in krampfhaften Stößen über seine Lippen. »O meine liebe Mutter, – Verzeihung! Deine Hand, – Deine vergebende Hand!«

Zermalmt von Schmerz und Reue, sank er in die Kniee und bohrte die Rechte in den Grund, als könne er hinabreichen in das Grab, die Mutterhand zu erfassen.

»Hier bin ich, Mutter, – o liebe Mutter, – hier bin ich, Dein reuiges Kind! Deine Hand, – oh, – oh, – Vergebung!«

Da wurde es schwarz vor seinen Augen und er sank bewußtlos auf das Grab hin.

Fast zu gleicher Zeit erschien Beata am Thore des Friedhofes. Sie sah den Hinsinkenden und stürzte heran. Nach einiger Anstrengung gelang es ihr, den Oberkörper des Ohnmächtigen aufzurichten. Mit ihrem Tuche rieb sie dessen Schläfe, während ihre strömenden Thränen auf das Angesicht des jungen Mannes herab flossen.

»Jesus, Maria, – unser armer junger Herr!« rief der herbeieilende Kutscher. »Seien Sie ganz ruhig, gnädiges Fräulein, und zittern Sie nicht! Es ist nur eine Ohnmacht, die bald vorüber geht.«

Der starke Mann hob den Bewußtlosen empor und trug ihn nach der Kutsche. Langsam fuhr der Wagen zurück. Heinrich war immer noch bewußtlos. Sein Haupt ruhte an Beatas Brust und ihre Arme hielten ihn umschlungen. Sie weinte in sich hinein und beobachtete unverwandt seine Züge. Dann öffnete er die Augen, sah mit verwirrten Blicken umher und richtete sich auf.

»Wie geht es Dir, lieber Heinrich? Wie fühlst Du Dich?«

Er nickte ihr zu und versuchte, zu lächeln.

»Es war nur eine Schwäche, liebe Beata! Nun ist mir gut.«

Der Wagen hielt. Auf Walthers und Beatas Arm gestützt, gelangte der völlig gebrochene junge Mann nach seinem Schlafzimmer. Mit Hilfe seines Bruders entkleidete er sich, und dann lag er unbeweglich und wortlos im Bette.

Der Spruch des Hausarztes lautete: »Vollständige Erschöpfung der geistigen und leiblichen Kräfte.«

»Halten Sie den Zustand meines Bruders für bedenklich?« forschte Walther.

»Vorläufig gerade nicht!« antwortete der Arzt. »Eine bestimmte Krankheit hat sich noch nicht entwickelt. Vor allen Dingen ist Ruhe, absolute Ruhe nothwendig. Die geringste Aufregung könnte tödtliche Folgen haben.«

Beata hatte die Verordnungen des Arztes nicht abgewartet, sondern zu einem Hausmittel gegriffen, das ihr kluger Sinn anrieth. Sie ging nach der Küche und bestellte eine kräftige Fleischbrühe mit Eigelb. Jetzt trat sie mit der Tasse vor Heinrichs Bett. Bei dem leisen Tritte Beatas öffnete er die Augen.

»Hier bringe ich Dir einen ganz vortrefflichen Labetrank, mein Heinrich!«

Er bewegte verneinend das Haupt.

»Du giebst mir einen Korb?« sprach sie lächelnd, während ihr das Herz blutete; denn sie meinte, herzliche Freundlichkeit sei für den Kranken heilsamer, als düsterer Ernst. »Das geht nicht, Heinrich! Wenn Du nicht meine ausgezeichnete Fleischbrühe trinken willst Dir zu Liebe, dann trinke sie mir zu Liebe.«

Er sah mit großen Augen in das schöne Angesicht mit dem holden Lächeln und ergab sich, wie ein folgsames Kind, ihrem Willen. Er trank in Pausen und auf ihr Zureden die Tasse leer, ohne seinen Blick von ihr zu wenden und mit einer Miene, die zu sagen schien: »Bist Du so mit mir zufrieden?«

Walther beobachtete den Vorgang und dachte: »Meines Bruders bester Arzt ist Beata.«

Herr Ottfried hatte von Allem nicht das Mindeste wahrgenommen. Seit dem Begräbnisse seiner Gattin war er nicht aus seinen Gemächern herausgekommen. Von Schmerz gebeugt, saß er theilnahmslos im Sessel, oder ging in ernstem Sinnen Stunden lang durch die Zimmer. Nicht der vorübergehende Verlust seiner Gattin, die er bald wieder zu sehen hoffte, bereitete den bittersten Schmerz, sondern das namenlose Unglück, seinen Sohn durch den Unglauben für dieses und jenes Leben verloren zu haben. Von Kindheit gewöhnt, im Geiste des Glaubens das Leben zu regeln, und auch Leiden und Trübsale im Lichte des Glaubens zu betrachten, fehlte ihm jetzt keineswegs der religiöse Trost über den nur flüchtigen Verlust seines lieben Weibes. Aber vor dem schauerlichen Abgrunde, in den mit Grauen und Entsetzen der Gläubige hinabsah, fand der Schmerz des Vaters keine Linderung, für den hinabgestürzten Sohn keine Hoffnung. Dazu kam die Schmach des Abtrünnigen, welche auf die ganze Familie zurückfiel, und in diesem Punkte war Ottfrieds Ehrgefühl sehr empfindlich. Er meinte, der Vater eines solchen Sohnes dürfe sich vor der Welt nicht mehr sehen lassen. Daher kam es, daß Edel seine Zimmer nicht verließ und der vorher so rührige Mann alles Interesse für Thätigkeit verloren hatte. – Da erschien Beata und berichtete, was geschehen. Anfänglich hörte er zu mit abweisendem Ernst, bis der Vorgang am Grabe warme Theilnahme in seine Züge lockte.

»Du solltest nur sehen, Vater, welch' ein tiefer Reueschmerz seinem Gesichte eingegraben ist! Heinrich ist ein anderer geworden. Der Tod der Mutter hat ihn gerettet.«

»Wenn dies möglich wäre!« sprach er, mit einem belebenden Hoffnungsstrahl in den abgehärmten Zügen.

»Zweifle nicht, Vater! Sein bloser Anblick würde Dich sofort überzeugen. Aber Du darfst ihn vorläufig nicht sehen, – es würde ihn zu sehr aufregen, und der Arzt sagte, die geringste Aufregung könne den Tod bringen.«

Am folgenden Tage bestätigte Pfarrer Gut die Ansicht Beatas. Der Geistliche hatte den Kranken besucht, und äußerte nun dem ängstlich forschenden Vater seine Meinung.

»Preisen wir Gottes Barmherzigkeit, lieber Freund!« sagte der Pfarrer. »Die reuige Rückkehr des verlorenen Sohnes in die offenen Arme seines himmlischen und irdischen Vaters steht fest. Als ich wegging, flüsterte er mit kaum hörbarer Stimme: ich hoffe, bald Ihren geistlichen Beistand ansprechen zu können, – für jetzt bin ich noch zu elend.«

Edels Freude war unbeschreiblich. Er vertraute der Menschenkenntniß des ergrauten Seelsorgers und zweifelte nicht an der Rettung seines Sohnes.

Dagegen erweckte Heinrichs körperlicher Zustand große Besorgnisse. Die bedenkliche Schwäche währte seit mehreren Tagen fort, und die langen Nächte brachten keinen Schlaf. Selbst der Arzt kam schließlich mit seiner Diagnosis in Verlegenheit, weil er von den furchtbaren Stürmen keine Ahnung hatte, welche diesen kräftigen Geist erschüttert und dann zermalmt hatten. Aus Beata's Hand genoß er Speise und Trank, aber nicht aus Bedürfniß, sondern zur Beruhigung der ängstlich besorgten Wärterin. Mit seinen Blicken verfolgte er jede ihrer Bewegungen, und während er des Tages regungslos lag, wurde er am späten Abend unruhig, bis sich Beata nach ihrem Schlafzimmer zurückgezogen.

»Ruhe, Beata, – ruhe!« flüsterte er. »Walther wacht.«

Am sechsten Tage endlich sank er in einen tiefen und langen Schlaf, aus dem er, wunderbar gestärkt, erwachte. Sein erster Blick fiel auf Beata, die am Fuße des Bettes stand.

»Wie befindest Du Dich, lieber Heinrich?«

»Sehr wohl, Kind! Du hast doch nicht die Nacht hindurch gewacht?«

»Nein, – ich war Dir gehorsam. Walther wachte, nun schläft er.«

»Wie lange habe ich geschlafen?«

»Seit gestern morgen bis jetzt, – Du Langschläfer!« scherzte sie.

»Hast Du nichts zu essen? Mich hungert sehr.«

Sie klatschte in die Hände vor Freude, flog nach der Küche hinab und kehrte mit Speisen zurück, die er vollständig aufaß.

Nun machte die Genesung rasche Fortschritte. Ueber dem Geiste des jungen Mannes blieb jedoch ein düsterer Schatten liegen. Einige Tage später hatte er eine lange Unterredung mit dem Geistlichen, der sich nach dem Zimmer des Vaters begab.

»Heute bringe ich Ihnen eine große Freudenbotschaft, mein trauter Freund! Heinrich will morgen die heiligen Sakramente empfangen und bittet um Ihre väterliche Verzeihung.«

»Von ganzem Herzen sei ihm Alles verziehen!« sprach Herr Ottfried. »O wie drängt es mich, in meine Arme ihn zu schließen!«

»Noch nicht, – später!« rieth der kluge Greis. »Sie selber sind sehr aufgeregt, und für den Genesenden könnte das erschütternde Begegnen schlimme Folgen haben. Wir müssen vorsichtig sein.«

Während der Pfarrer das väterliche Verzeihen überbrachte, sank Herr Ottfried in die Kniee und dankte Gott für die reuige Heimkehr seines verloren gewesenen Sohnes.

Der religiöse Trost und die Aussöhnung mit Gott verscheuchten von dem Geiste des jungen Mannes jene trüben Schatten. Er wurde heiter und konnte zwei Tage später das Bett verlassen. Zuweilen lächelte er stille vor sich hin, wie Jemand, der seine Lieben durch eine besondere Freude zu überraschen gedenkt.

Walther war fast beständig bei ihm, unterhielt sich mit ihm über angenehme Dinge, namentlich über Beata's Vorzüge, weil er bemerkte, daß Heinrich für diesen Gegenstand das lebendigste Interesse besaß. Auch die Tagesereignisse wurden in den Kreis der Unterhaltung gezogen, und häufig las Walther aus Zeitungen vor.

»Da steht wieder ein hübscher Bericht, der ein grelles Schlaglicht auf unsere neudeutschen Zustände wirft,« sagte Walther, nachdem er in die eben eingelaufene Zeitung einen Blick geworfen. »Höre einmal! – Elberfeld, 18. November. Die Früchte moderner socialer und religiöser Zustände werden durch nachfolgenden Bericht des hiesigen evangelischen Gefängnißpredigers charakterisirt. Derselbe schreibt uns über seine Erfahrungen in dem hiesigen Arresthause: – ›Wenn Sie von einer Zelle zur anderen gehen, so finden Sie fast lauter junge Leute, ja viele noch Knaben bis zu dreizehn Jahren herab, darin. Und fragen Sie alle Beamten, die mit diesen Burschen zu thun haben, so werden Sie einstimmig das Urtheil hören: »Je jünger, desto schlimmer sind sie.« Knaben von 12-13 Jahren zeigen sogar bei ihrer Aufnahme in das Gefängniß, die doch selbst für rohere Gemüther nicht ohne schmerzlichen Eindruck zu bleiben pflegt, nicht die geringste Betrübniß. Lachend und frech geben sie ihre Antworten bei der Prüfung, die der Berichterstatter mit ihnen vornimmt, so daß derselbe schon oft tief beklagt hat, daß solche Buben, die bei ähnlicher Frechheit in jeder Schule draußen exemplarisch gezüchtigt worden wären, hier im Gefängnisse, wo sie die Strenge des Gesetzes kennen lernen sollen, nicht die einzige Strafe empfangen dürfen, welche in solchem Alter ganz allein einen nachhaltigen und heilsamen Eindruck zu machen im Stande ist. Und nicht nur in den Strafzellen finden wir die Jugendlichen, sondern auch sehr vielfach in den Krankenzellen, wo sie wegen häßlicher Krankheiten verweilen müssen. War doch im vorigen Jahre die Zahl der eingelieferten kranken jungen Leute so groß, daß seitens der Arresthaus-Verwaltung eine Eingabe gemacht werden mußte, dahin gehend, daß die Leute erst in Krankenhäusern untergebracht werden möchten, bevor sie in's Gefängniß gesandt werden. Welch' einen trüben Blick in das Leben unserer Jugend muß man da wieder thun! Die meisten dieser Jugendlichen empfinden ihre Gefängnißstrafe gar nicht als eine Schmach und Schande, sondern sie sehen ihren Aufenthalt im Gefängniß vielfach so an, als wären sie auf einige Zeit aus dem Aelternhause in Pension gegeben. »Es ist hier nicht so schlimm, wie ich dachte,« schreibt ein Sohn an seinen Vater; »ich will denken, ich wäre beim Militär.« Und der Vater schreibt an den Sohn: »Nimm's Dir nur nicht sehr zu Herzen, lieber Sohn. Du hast ja nur ein Jahr, und die Zeit geht um.« Eine Mutter schreibt an ihre wegen Diebstahls und noch eines schlimmeren Verbrechens wegen sitzende Tochter: »Wie schade, daß Du nicht zur nächsten Kirmeß da bist; aber tröste Dich, die Mai-Kirmeß sollst Du desto lustiger mitmachen; denn Dein Schatz hat wieder flott Geld.« Die Arresthaus-Verwaltung sorgt zwar für die Pflege der Religion; aber was nützt es, so lange nicht die Quelle d. h. die von oben herab protegirte Bekämpfung des christlichen Lebens in Staat und Kirche verstopft ist.‹ – – Welch' einen Ausblick öffnen solche Dinge?« rief Walther. »Nimmt man dazu die stehenden Berichte über Selbstmorde, Straßenräubereien, Kirchenschändungen, sowie das schauerliche fast allgemeine Anwachsen des religiösen Unglaubens, der Empfindungslosigkeit für sittliches Ehrgefühl und christlichen Sinn, dann muß auch dem Kurzsichtigen die Ueberzeugung sich aufdrängen: – unsere neudeutsche Cultur rast nach dem Abgrunde.«

Heinrich nickte beistimmend.

»Stehen die Franzosen mit ihren diabolischen Tollheiten, die Italiener mit ihrem Satanismus und die Russen mit ihrem Nihilismus noch tiefer, als wir, so bietet dies keinen Trost,« fuhr Walther fort. »Bald werden Frivolität und Gottlosigkeit der Nationen bei jener Grenzmarke angelangt sein, welche in seiner Weltordnung der heilige und gerechte Gott als äußersten Punkt gesteckt hat, – und dann folgt der Zusammensturz und das Strafgericht.«

Heinrich schritt nachdenkend durch das Zimmer. Jetzt blieb er vor dem Bruder stehen.

»Weißt Du auch,« sprach er, »welche Ursachen, neben schlechter häuslicher Erziehung, ganz besonders das Verderbniß verschulden? Die verstaatlichten, konfessionslosen Volksschulen und die höheren Bildungsanstalten, namentlich die Hochschulen. Von dort verbreitet sich eine geistige Pest über das Volksleben. Ich spreche aus eigener Erfahrung. Nicht einmal die christliche Erziehung meiner Jugend wäre stark genug gewesen, mich dem Verderben zu entreißen, hätte dies nicht etwas ganz Außerordentliches gethan.«

Walther sah den Bruder forschend an.

»Wovon sprichst Du?«

»Von einer Thatsache, an die ich bisher nur mit Schrecken denken konnte. Merkwürdigerweise ist nun diese Empfindung vollständig gewichen. Seitdem ich durch die sakramentale Gnade mit Gott ausgesöhnt bin, fühle ich mich frei von einer grauenerregenden Umklammerung, – ohne Zagen kann ich jetzt davon sprechen!«

Umständlich erzählte er dem staunenden Bruder das Ereigniß am Sterbeabend der Mutter bei Professor Dr. Uebel.

»Das ist ja wahrhaft erschütternd!« sagte Walther.

»Für mich war es noch weit mehr,« versicherte der junge Gelehrte. »Der babylonische Thurmbau einer hochfahrenden und zugleich verthierenden Wissenschaft brach mit einem Schlage zusammen, und ich lag geistig zerrissen und zerschmettert unter seinen Trümmern. Konnte ich mich dennoch wieder aufraffen zu neuem Leben, so verdanke ich dies Gottes Barmherzigkeit.«

»Darf ich dem Vater hievon Mittheilung machen?«

»Ja!«

Am folgenden Morgen fand Walther den Bruder vollständig angekleidet.

»Ist Vater noch nicht ausgegangen?«

»Nein, – eben komme ich von ihm. Er brennt vor Verlangen, dich endlich umarmen zu dürfen.«

»Begleite mich zu ihm.«

Beide Brüder gingen nach der Wohnung ihres Vaters. Mit einem freudigen Aufschrei eilte Herr Ottfried dem wiedergefundenen Sohne entgegen, breitete die Arme aus und schloß ihn fest an seine Brust.

»Lieber Vater, Dank für Dein großmüthiges Verzeihen! Ich werde eifrig bemüht sein, durch Wohlverhalten die traurige Vergangenheit zu sühnen.«

»Vergessen und begraben sei das Vergangene!« unterbrach ihn der entzückte Vater. »Reden wir nicht mehr davon. Wie unaussprechlich glücklich bin ich, meinen lieben Heinrich wieder zu besitzen!«

»Dagegen ist nothwendig, zur vollständigen Klärung der Situation, von meiner Zukunft zu sprechen,« erwiederte Dr. Edel. »Ich kenne Deinen alten Herzenswunsch, lieber Vater, und erfülle ihn. Ich werde das ehrenhafte Haus unseres Geschlechtes nicht mehr verlassen. In Deiner Schule werde ich mich zum tüchtigen Landwirthe heranbilden und redlich bemüht sein, das weiter zu führen, was uns die Vorfahren überliefert haben.«

Diese unerwartete Erklärung brachte über Herrn Ottfried einen Jubelsturm, der aller Beschreibung spottet. In seiner fast wahnsinnigen Freude umarmte und küßte er seinen Sohn, und vermischte die Versicherungen seines namenlosen Glückes mit Lobeserhebungen und den zärtlichsten Benennungen, so daß Walther über den Zustand seines Vaters in Sorgen gerieth.

»Fasse Dich, lieber Vater!« mahnte er. »Ein Uebermaß der Freuden kann ebenso schädlich wirken, wie ein Uebermaß der Leiden.«

»Ganz richtig, mein christlicher Denker!« rief Herr Ottfried. »Du weißt aber, was der glückliche Vater im Evangelium gethan hat vor Freude, über die Rückkehr seines verloren gewesenen Sohnes. Auch ich möchte ein großes Gastmahl herrichten und die ganze Welt dazu einladen, damit sie Zeuge sei meines Glückes.«



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