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Lettres de cachet.

Das innere Kämpfen verbreitete einen Schatten über Valfort's Wesen, der in hohem Grade den getreuen Pierre beunruhigte.

»Sie hat's ihm angetan!« klagte er seinem Freunde David. »Wir kamen hierher, einen Wald zu kaufen, und mein armer junger Herr verliert dabei seinen Kopf und sein Herz. Ja, – es hat ihn ergriffen an Leib und Seele! Hat ihn verwandelt, behext. Wäre ich Herrgott, es dürfte keine so ergreifende Schönheit mehr geben. Alle Mädchen müßten häßlich sein; denn häßliche Fräulein sind keine Diebe, sie stehlen keine Herzen.«

David's schalkhaftes Mienenspiel kam in lebhafte Bewegung.

»Sehr gut, – einverstanden!« sagte er. »Deine Göttlichkeit würde etwas recht Hübsches fertig bringen. Nämlich, – häßliche Mädchen fänden keine Männer zur Ehe, somit kämen wir bald zum Ende der ganzen Pfuscherei. Schade, daß mein ehrlicher Pierre bei der Schöpfung nicht dabei gewesen! Die Menschheit hätte längst aufgehört, sich zu plagen und zu quälen. Der letzte unseres Geschlechtes wäre gestorben an Abscheu und Ekel gegen die häßlichen Frauen.«

»Nun ja, – mein Schuß ging über das Ziel!« gestand Pierre. »Die Schönheit der Gräfin könnte meinethalben noch ergreifender sein, hätte sie nur an meinem guten Herrn sich nicht vergriffen.«

»Das hat sie nicht, – im Gegenteil, sie hat einen ausgezeichneten Griff getan,« behauptete David. »Einen Mann von mehr Stattlichkeit und Würdigkeit, als Baron Paul von Valfort, gibt es gar nicht mehr.«

»Das steht fest!« bestätigte Pierre ohne Zögern. »Weil aber mein Baron fühlt, daß für ihn die schöne Gräfin nicht paßt, daher sein Gram, sein geheimes Herzeleid.«

»Hat er das gesagt, – sie passe nicht für ihn?«

»Nein! Dennoch weiß ich's. Man hat seine Augen, – macht seine Beobachtungen, – kennt seinen Herrn, fängt da und dort etwas auf, wenn's von ungefähr – so hervorbricht. Vorgestern, – bei der geistlichen Lesung über die Eitelkeiten der Welt war's – da sagte mein Baron zu sich selber: »Was nicht zusammenklingt mit Gottes allerhöchstem Willen, stiftet Zwietracht und Streit im Leben. Selbst die Ehe, das innigste Verhältnis, bringt Unheil, wenn die geistigen Richtungen der Vermählten weit auseinander gehen.« – So hätte mein Baron nicht gesagt, wenn die Gräfin eine gute Christin wäre.«

»Was nicht ist, kann noch werden,« entgegnete David. »Glaube mir, Freund Pierre, die Liebe ist allmächtig! Am Bande der Liebe wird Dein frommer Herr, ohne viel Schwierigkeit, sein hübsches Gemahl in die Kirche und von da in den Himmel führen.«

»Es möchte auch umgekehrt sein,« versetzte Pierre. »Man hat Beispiele. Was haben die hübschen Weiber mit dem weisen König Salomon getan? Haben sie ihn nicht aus der Kirche in das Heidentum geführt? Von Gott zu den Götzen? Wenn so etwas dem weisesten Manne passieren konnte, was möchte meinem Baron begegnen, der jetzt schon Kopf und Herz an die ergreifende Schönheit verloren hat?«

Zwei Tage nach dem Ballfeste in der Abtei erschien Pierre in heiterster Stimmung beim Torwächter.

»Gewonnen Freund!« begann er, vergnügt die Hände reibend. »Mein edler Herr hat's glücklich überstanden. Kopf und Herz gehören wieder ihm. Mit dem schönen Fräulein geht er nicht mehr im Garten spazieren. Und was er nicht getan, seit wir hier sind, das hat er gestern und heute getan. »Käme nur der Graf!« hat er gesagt. »Mir wird der Aufenthalt lästig hier. Fort möchte ich aus dem ungesunden Dunstkreise dieser Gegend.« – So hat er gesagt, – ungeduldig, – ärgerlich, – mit einem hellen Feuer in den Augen. – – Merkst Du was, David?«

Der Torwächter rückte an seiner Filzmütze und kratzte hinter dem Ohr.

»Wie kam's?« frug er zurück.

»Weiß nicht! Aber durchgehauen hat sich mein Baron. Betrachte ihn nur! Immer sah er stattlich aus, – jetzt aber hat er etwas Heldenmäßiges an sich. Er gleicht auf's Haar dem weltberühmten Ritter St. Georg, der in heißer Schlacht den Teufel überwunden hat.«

»So, – der den Teufel überwunden hat!« versetzte David niedergeschlagen. »Ich kann's bestätigen, – muß zugeben, – als er heute durch's Tor ritt, schaute er so frei und stolz und trotzig in die Welt, als habe er Fesseln von Eisen zersprengt. – Was mag dies bedeuten?«

»Seine Freiheit bedeutet's!« antwortete Pierre triumphierend. »Ich meine, ganz Frankreich wäre mir geschenkt, seit ich meinen guten Herrn dieser trübseligen Gefangenschaft ledig weiß.«

Die Torglocke wurde geläutet. David trat zu einer schmalen Öffnung im Torflügel und spähte hinaus. Thomas Gilbert stand vor dem Tore.

»Schon wieder da?« fuhr ihn der übel gelaunte David an. »Sie wissen doch, daß Sie nicht eingelassen werden.«

»Um Vergebung, Herr David! Tut mir leid, Sie oft zu belästigen, – Verzeihung!« bat der Seidenweber. »Wie geht es meiner Braut?«

»Wie es ihr im Augenblick geht, weiß ich nicht. Im allgemeinen ist sie in sehr ausgezeichneter Lage, – wenn sie gerade nicht steht oder sitzt.«

»O könnte ich sie nur ein einzigesmal sehen, – nur von Ferne sehen, – meine Madelon!«

»Den hat's auch ergriffen!« murmelte Pierre. »Sommersprossen, – Runzeln, – Pocken über alle ergreifenden Schönheiten! Nicht jeder ist ein Held, wie mein Baron, der sich tapfer heraushaut!«

»Habe keine Ruhe Tag und Nacht, denke immer an meine Madelon, – fürchte und ängstige mich um sie.«

»Die Unruhe hat wirklich in Ihrem Gesichte Quartier gemacht, – Sie sehen recht übernächtig aus. Warum dies, mein Sohn?« erwiderte David im Tone des Mitgefühls. »Man soll sich um kein Ding Sorge machen, das keine Sorgen verdient. Wer legt eine kalte Natter an seinen warmen Busen, weil die Natter ein so hübsch geflecktes, geschmeidiges, zungengewandtes Ding ist? Wäre dies kein törichtes Sorgen und Bemühen? Keine weggeworfene Liebe?«

»Aber, Herr David, – meine Madelon und eine Natter?«

»Aber, Herr Gilbert, ein gutmütiger Junge und so ein hübsches Mädchen?«

»Sie erschrecken mich! Was sollen Ihre Worte bedeuten?«

»Die Wahrheit, mein Sohn, die nackte Wahrheit! Ihrer Madelon ist es so wohl hier, wie einer kalten Natter am warmen Busen; – oder, weil Ihnen das Bild mißfällt, – so wohl wie einem Fisch im Wasser. Wozu demnach Ihr Sorgen und Grämen? Weil es der Madelon ausgezeichnet gefällt hier? Weil die Madelon zwitschert, wie der Vogel beim Hanfsamen? Wünschen Sie etwa, daß die Madelon nicht zunehme an ihrem Leibe, sondern abmagere? Daß sie nicht lache, sondern weine? Darum unterlassen Sie gefälligst Besuche, die keinen Zweck haben.«

»Könnte ich sie nur ein einzigesmal sehen, bester Herr David! Wäre dies nicht möglich mit Ihrem Beistande?«

»Nicht möglich! Mein Arm ist viel zu kurz, um in die hohen Regionen hinauf zu reichen, in denen sich Madelon bewegt. Ich sehe die Hochgestellte nur von Ferne.«

»Wann haben Sie Madelon zuletzt gesehen, Herr David?«

»Gestern, mein Sohn!«

»Was tat sie gerade, wie sah sie aus?«

»Ihr Tun beschränkte sich auf die Tätigkeit ihrer Füße; ihr Aussehen war das Aussehen einer lustigen Person, die gerne aus den silbernen Schüsseln der Schloßküche Süßigkeiten nascht.«

»Herr David, – um Vergebung, – darf ich mir eine ganz vertraute Frage erlauben?«

»Nur zu, mein Sohn!«

»Wissen Sie nicht, ob Madelon doch zuweilen in die Nähe des Grafen Henry kommt?«

»Wie, mein Herr, Sie denken Arges von Ihrer Braut?«

»Durchaus nicht, – aber Sie wissen ja« –

»Ich weiß, daß Graf Henry wütend auf Sie ist,« unterbrach ihn der Torhüter. »Was will der Mensch?« hat er gesagt. »Warum hockt und lungert er beständig vor dem Schloßtor? Ich werde ihn peitschen lassen! Sagt's ihm, David, – peitschen lass' ich ihn, wenn er nicht weg bleibt.« – So hat der Graf gedroht. Sie wissen doch, große Herren verstehen das Peitschen, – Ihr Rücken wird von dieser Kunst keinen Gebrauch machen wollen.«

Vom Schlosse herüber schallte Hufschlag. David schaute um. Ein Reiter verließ eben die Einfahrt.

»Fort, mein Sohn, der Graf kommt! Laufen Sie geschwind bei Seite!«

Er zog den Schieber vor die Öffnung.

Gilbert befolgte keineswegs die Mahnung des wohlmeinenden David. Er blieb harrend stehen. Der leidende, kummervolle Ausdruck seines Gesichtes wurde entschlossen, finster, boshaft. Die Arme vor der Brust verschränkt, stand er da und sah auf das Tor. Ein Flügel öffnete sich. Graf Henry ritt über die Schwelle. Thomas blieb unbeweglich stehen, zog nicht den Hut und seine Augen funkelten drohend nach dem Grafen.

»Was soll das, Mensch? Weshalb grüßen Sie nicht?«

Der Seidenweber antwortete mit einem Lächeln der Verachtung.

»Bist Du blödsinnig, Kerl? Mir trotzen auf eigenem Grund und Boden? War dies der Zweck Deines häufigen Kommens, – mich zu beschimpfen? Schurke, – ich werde Dich hängen lassen!«

»Wenn der Schurke soll gehängt werden,« entgegnete Thomas mit verhaltener Wut, »dann muß sich Graf Henry von Rovere selber hängen lassen.«

Die Reitpeitsche pfiff durch die Luft und fuhr auf Gilbert's Rücken nieder. Das Gesicht des Geschlagenen wurde leichenblaß, aber seine herausfordernde Haltung änderte er nicht.

»Graf Henry von Rovere, ich bestätige Ihnen den Empfang der Peitschenhiebe, – mit Zinsen werden sie hoffentlich bald zurückerstattet, – die Hiebe« sprach er, sprühenden Haß in den Augen.

Die Lippen ingrimmig zusammenkneifend, sah Rovere auf den Arbeiter nieder, kaum fähig, seine Wut zu bemeistern. Jetzt öffneten sich die Lippen; kaum hörbare, zischende Laute kamen hervor.

»Freche, – gemeine, – niederträchtige Ausgeburt, – Hefe des Pöbels!«

»Wer ist Pöbel?« frug Thomas scharf. »Etwa das unterdrückte, gequälte, geschundene Volk, – oder die Unterdrücker, Quäler und Schinder dieses Volkes? Wer ist Pöbel, Graf?«

Henry lachte höhnisch.

»Das echte Schlagwort haben Sie vergessen, – die Menschenrechte!« rief er. »Was die Menschenrechte des Pöbels wert sind, kann Ihnen Madelon sagen.«

»Und was die gesetzlichen Rechte und Privilegien der Feudalen wert sind, sagt Ihr Raub eines wehrlosen Mädchens,« versetzte Thomas. »Haben Sie noch einen Funken Schamgefühl und Ehre im Leibe, dann geben Sie meine Braut heraus.«

»Ich bedauere, im Punkte der Ehre Ihren Geschmack nicht zu teilen,« entgegnete spöttisch der Graf. »Madelon's Dienste gefallen mir ganz vorzüglich, – mit Ihrer Erlaubnis! Und Sie werden Gelegenheit finden, über die Menschenrechte des Pöbels und die Privilegien der Feudalen mit Muße nachdenken zu können.«

Er spornte das Pferd und ritt den Hügel hinab. An der Stelle, wo die Straßen nach Limoges und Chatel sich kreuzten, hielt er unentschlossen.

»Der Schuft bringt mich um einen genußreichen Tag,« sprach er vor sich hin. »Höchst ärgerlich, Roberts feinem Angebot entsagen zu müssen! Von Entsagung bin ich kein Liebhaber; Entsagung ist die widerwärtigste Pille des Lebens. – Dennoch gibt es Fälle, in denen philosophisches Denken Entsagung gebietet, – Thomas Gilbert ist ein solcher Fall. Der Schurke muß absolut verschwinden. Der Lump wäre imstande, einen Skandal zu machen. Fände ihn Isabella vor dem Tore, er würde auskramen, – und der Skandal wäre da. Nein, – ich will kein Schlachtopfer der schneidigen Zunge meiner Schwester werden. Denn meine Schwester ist bei aller Philosophie und bei allem Liebreiz dennoch eine Fromme. Ginge Madelon Duval in durchsichtigem Kostüm an Chatels Arm vor den Augen des sehr empfindlichen Fräuleins von Rovere über die Bühne, – mit Chatels Hoffnungen wäre es vorbei. Ich aber wünsche mir just gerade so einen steinreichen, genußfreundlichen Schwager wie eben Herzog Robert von Chatel. Mithin muß diese pöbelhafte Kanaille, Thomas Gilbert geheißen, naturnotwendig verschwinden. – – Roberts Feinheiten sollen mir deshalb nicht entgehen. Mein Pferd ist ausgezeichnet, sein Reiter noch ausgezeichneter, – also zuerst nach Limoges, dann nach Chatel.«

Mit diesem Entschlusse galoppierte er auf der Straße nach Limoges dahin.

Zwei Stunden später betrat Graf Henry von Rovere das Kabinett des höchsten Polizeibeamten der Provinz, der ihn mit ausgesuchter Höflichkeit empfing.

»Ein Rovere schenkt mir die Ehre! Ich bin glücklich, Herr Graf, und zähle diese Stunde zu den schönsten meines Lebens!«

»Sie befinden sich doch wohl, Herr Direktor?«

»So wohl als ein Sechziger wünschen kann, – körperlich nämlich! Dagegen lastet die gegenwärtige Situation Frankreichs drückend auf dem Gemüte eines Beamten, der nicht ohne Lebenserfahrung und auch nicht ohne Nachrichten über die gärende Stimmung des Volkes ist.«

Der Graf lächelte.

»Der Hof hält die Lage für ernst und schwierig, keineswegs für gefährlich,« sagte er. »Die kopflose Masse zu täuschen, die Glieder des erbärmlichen dritten Standes in der Nationalversammlung zu spalten, wird keine besondere Schwierigkeiten bieten. Der Pöbel schreit nach Menschenrechten, – unsere Kanonen werden ihm Gehorsam predigen.«

Der Polizeidirektor nickte beistimmend. Auch er war Philosoph, ein Glied des privilegierten Adelstandes und dachte vom Volke ebenso verächtlich wie Rovere.

»Der philosophische König von Preußen, Friedrich II., pflegte zu sagen: »Man muß die Kanaille Raison lehren, – die Kanaille muß Ordre parieren!« Vollkommen einverstanden. Die stramme preußische Zucht dürfte den Franzosen nützlich sein. Dennoch könnte für uns ein Umstand verhängnisvoll werden.«

»Sie meinen, Herr Direktor?«

»Wenn das Militär mit dem Pöbel fraternisieren würde.«

»Unmöglich, – absolut unmöglich!« versetzte Rovere. »Sämtliche Offiziersstellen sind besetzt mit Adeligen. Niemals wird ein Edelmann sein Wappen durch Verbrüderung mit dem gemeinen Pöbel beschmutzen.«

»Auch meine Hoffnung!« entgegnete der Beamte.

»Dürfte ich Sie um eine kleine Gefälligkeit bitten, Herr Direktor?« frug einlenkend Rovere.

»Jede mögliche Erfüllung Ihres Wunsches wird mir Vergnügen machen, Herr Graf, – natürlich!«

»Es handelt sich um einen lettre de cachet,« erklärte Henry.

Bei dem Worte verwandelte sich die zuvorkommende Freundlichkeit des Beamten in Betroffenheit.

»Herr Graf, in diesem Augenblick einen lettre de cachet? Öl in das Feuer? Vielleicht ein Feuerbrand in ein Pulvermagazin? – Herr Graf, bei aller Bereitwilligkeit, mein ganzes Vermögen Ihnen zur Verfügung zu stellen, zweifle ich doch, ob der gewünschte Dienst möglich sein dürfte.«

Die Bedenken des Polizeidirektors waren begründet; denn die lettres de cachet oder geheime Verhaftbefehle gehörten zu den nichtswürdigsten Erfindungen des königlichen Absolutismus. Diese geheimen Verhaftsbefehle waren im Namen des Königs ausgestellt, mit der Signatur eines Ministers und mit dem kleinen königlichen Siegel versehen. Der Raum für den Namen des Opfers, das aus dem Wege geräumt werden sollte, war frei gelassen. Die höchsten Polizeibehörden besaßen fertige Exemplare solcher geheimen Verhaftbefehle zum beliebigen Gebrauche, nur der Name des zu Verhaftenden war einzutragen.

Diese lettres de cachet vernichteten jede persönliche Sicherheit. Hatte jemand einen hochstehenden, einflußreichen Feind, so konnte er ohne Prozeß, ohne jeglichen Rechtsgrund, kraft eines solchen geheimen Verhaftbefehles in das Gefängnis geworfen oder in die Verbannung geschickt werden. Niemals erfuhr er die Ursache seiner Mißhandlung.

Durch einen solchen lettre de cachet konnte ein eifersüchtiger Gatte seinen Nebenbuhler, ein Vater seinen Sohn, ein hochgeborener Schurke sein schuldloses Opfer beseitigen. Und diese himmelschreienden Ungerechtigkeiten geschahen im Namen des Königs! Eine schmachvollere Entwürdigung von Szepter und Krone ist kaum möglich, und nichts zeichnet die Tyrannei des absoluten Königtums schlagender, als die lettres de cachet. Cantu, Bd. XII. S. 960.

Graf Henry sah das Achselzucken, die bedauernden Kopf- und Armbewegungen des Polizeidirektors und lächelte vornehm.

»Es kostet Sie einen Tropfen Tinte, mein Herr, und die Sache ist abgetan!«

»Unter gewöhnlichen Verhältnissen, Herr Graf! Allein die Zeitverhältnisse sind außerordentliche. Es ist wahr, – Tausende verschwanden durch geheime Verhaftbefehle ohne Lärm. Das königliche Siegel genügte, ohne Prozeß, ohne Verhör, ohne Angabe irgend eines Grundes, hinderliche Personen für immer vom Schauplatze abtreten zu lassen. Wie gesagt, unter gewöhnlichen, gesetzlichen Verhältnissen wäre es für mich schmeichelhaft gewesen, durch einen lettre de cachet Ihnen zu dienen. Mit Vergnügen würde ich Ihren Feind auf gesetzmäßige Weise entfernt haben. Allein gegenwärtig schwankt alles. Der infame Pöbel schreit und lärmt. Zeitungen und Flugblätter hetzen, schimpfen und schüren. Die absolute Majestät des Königs, die Autorität der Gesetze, die Rechtmäßigkeit des Herkommens, alles steht in Frage. Würde nun jemand von Bedeutung durch geheimen Verhaftbefehl aus der Gesellschaft verschwinden, die Wirkung dürfte verhängnisvoll werden. Was früher geschehen konnte ohne Störung, ohne Aufsehen, durch die Macht der gesetzlichen Form, dürfte heute folgenschwere Stürme hervorrufen.«

Wieder lächelte Graf Henry, sein Lächeln begleitete ein ungläubiges Kopfschütteln.

»Die Beseitigung einer bedeutenden Persönlichkeit dürfte wohl Staub aufwirbeln,« sagte er. »Eine gesellschaftliche Null hingegen, ein Seidenweber, mag ohne Nachfrage verduften.«

Der Polizeibeamte sah den Grafen verwundert an.

»Wie, – Erlaucht geruhen, zu verlangen, daß ein Seidenweber, – – ich habe wohl falsch gehört?«

»Allerdings ein Seidenweber, Thomas Gilbert von hier,« bestätigte Rovere.

Der Beamte lachte herzlich.

»Mein Gott, welche Arbeit, um einen Floh zu knicken!« rief lustig der Wächter öffentlicher Sicherheit. »Ich meinte, Erlaucht wollten einen Menschen von Rang und Namen beseitigen. Nun liegt die Sache ganz anders. Freilich, ein Thomas Gilbert, ein Seidenweber, kann verschwinden, ohne daß ein Hahn darnach kräht. – Ich bin glücklich, Ihnen unverweilt dienen zu können.«

Er zog einen lettre de cachet aus der Schublade seines Arbeitstisches hervor und schrieb in den betreffenden leeren Raum: »Thomas Gilbert, Seidenweber in Limoges.« – Er hielt inne.

»Soll ich den Schelm ganz sicher aufheben, Erlaucht?« frug er lächelnd.

»Je sicherer, desto besser!« antwortete Henry.

»In die Strafkolonie nach Cayenne,« schrieb der Direktor in den Verhaftbefehl.

Diese Worte schrieb der Beamte ohne Bedenken, ohne Zaudern über die empörende Ungerechtigkeit. Er ließ den König einen schuldlosen Menschen in die Todesluft Cayennes schicken, weil hiezu das absolute Königtum gesetzlich berechtigt war.

»Darf ich fragen, Herr Graf, wie ein so unbedeutendes Subjekt Ihre Aufmerksamkeit verdienen konnte?«

Rovere berichtete Gilbert's Verhältnis zu Madelon, sowie dessen rohes Benehmen vor dem Schloßtore, verschwieg aber Chatel's Beziehungen zu Gilbert's Braut.

»Ein ganz infamer Mensch, eine giftvolle Kanaille!« rief der Polizeidirektor. »In so unerhörter Weise einem Grafen Rovere begegnen! Der Schurke wäre in der Tat reif für Galgen und Rad!«

»Sie werden begreifen, Herr Direktor, daß ein Seidenweber für einen Rovere kein Gegenstand persönlicher Rache sein kann. Ich wünsche nur Entfernung des Schmutzes vor dem Schloßtor. – Ihrer Güte meinen verbindlichsten Dank! Beglücken Sie mich bald mit der Möglichkeit eines Gegendienstes.«

Die beiden Herren schieden unter vielen Förmlichkeiten und Versicherungen gegenseitiger Wohlgeneigtheit.

Thomas Gilbert kam nicht wieder vor das Schloßtor, nach seiner Braut zu forschen.


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