Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Isabella.

Der Balkon des grünen Saales gewährte eine reizende Fernsicht, häufig genossen von der siebenzehnjährigen Gräfin Isabella, des Schloßherrn einziger Tochter. Auch gegenwärtig weilt sie dort und blickt sinnend in den tiefen Frieden der ländlich stillen Umgebung. Von dem Frauengeschlechte ihrer Zeit bildet sie eine merkwürdige Ausnahme, und von den Zügellosigkeiten ihres Standes macht sie keinen Gebrauch. Sie ist Philosophin und religiös ungläubig, aber ein Charakter von gediegenem Stolze. Hiezu kommt ein seltenes Feingefühl, das ihr keine praktischen Anwendungen von zeitgemäßer Bildung gestattet. Feingefühl und Charakterstärke bieten allerdings keine zuverlässigen Stützen gegen schmählichen Fall, sobald heftige Stürme entscheidender Prüfungen sich erheben. Was nicht wurzelt in der Grundfeste religiösen Glaubens und was nicht gebunden ist an die eherne Mauer der Gottesfurcht, hat keine Beständigkeit und nur so lange Dauer, als keine Leidenschaften aus der Tiefe des menschlichen Herzens versuchend emporsteigen. Schlug einmal für Isabella diese gefährliche Stunde, dann mochten Stolz und natürliche Vorzüge vom Untergang nicht retten. Auch sie mochte versinken im Strudel fast allgemeiner Sittenverwilderung und eine Beute der herrschenden Richtung werden.

Immerhin gewährten große Anlagen bisher genügenden Halt. Ekel erfüllte sie gegen das zügellose Treiben der höchsten Stände. Um ihrer vollendeten Schönheit willen der Mittelpunkt allgemeiner Huldigungen, wo immer sie in Gesellschaften sich zeigte, blieb sie kalt und stolz, unempfindlich für jede Hingebung schwärmerischer Anbeter. Sie duldete keine Annäherung und strafte jede anstößige Freiheit durch schneidige Satyre oder beschämende Verachtung. Während ihre körperliche Formvollendung alle jungen Herzen entzündete, und selbst das Alter Bewunderung ihr nicht versagen konnte, blieb sie empfindungslos, wie ein Gebilde ohne Herz.

Der junge und sehr reiche Herzog von Chatel, dessen Schloß zwei Stunden von Rovere entfernt lag, glaubte zwar, einiger Aufmerksamkeit sich rühmen zu können; denn Isabella ließ sich bisweilen herab, mit ihm näher zu verkehren, sogar seine Schmeicheleien anzuhören. Allein die herzogliche Familie stand seit langer Zeit mit dem Grafen Rovere in engen Beziehungen, und Henry war ein Busenfreund Chatel's. Mithin konnte die Ausnahme für den jungen Herzog Gründen entspringen, welche für ein zartes Verhältnis ohne Bedeutung waren.

Dagegen wünschte Isabella's Vater im Stillen eine eheliche Verbindung seiner Tochter mit einem der reichsten Grundbesitzer Frankreichs. Nicht Chatel's persönliche Eigenschaften, die sich über das Maß des Gewöhnlichen kaum erhoben, veranlaßten diesen väterlichen Wunsch, sondern Chatel's Reichtum und die Möglichkeit, durch eine enge Familienverbindung den zurückgehenden gräflichen Finanzen etwas aufzuhelfen. In letzter Zeit mochten Rovere's Geldverlegenheiten sogar einen bedenklichen Charakter angenommen haben. Er hatte mit Baron Valfort Unterhandlungen angeknüpft, ein altes Erbstück seines Hauses, nämlich einen Wald in der Vendee, zu verkaufen.

Von diesen geheimen Verlegenheiten und Absichten des Vaters hatte Isabella keine Ahnung. Fast täglich fuhr der Herzog von seinem Schlosse herüber; sie empfing ihn, wie eine Person, die gleichsam zur Familie gehört.

In ein weißes Morgengewand gehüllt, den Arm auf die Brüstung des Balkons gestützt, steht Isabella auf der luftigen Höhe und blickt sinnend in das Weite. Noch weißer, als das Morgenkleid, ist ihre Gesichtsfarbe. Kein Hauch jugendlicher Röte unterbricht den feinen Schmelz dieses merkwürdigen, lilienfarbigen Gesichtes. Wie aus dem feinsten karrarischen Marmor ist es geschnitten und zwar in der edelsten Form einer wunderbaren Schönheit. Die stolze Kälte mildern einigermaßen zwei glänzende, von langen Wimpern überschattete Augen. Eine Fülle tiefschwarzer Haare schmückt ihr Haupt und fällt in malerischem Flusse um Nacken und Schultern, Ihre Gestalt ist schlank und kräftig, unberührt von entnervenden Einflüssen.

Fräulein Julie, Isabella's Kammerzofe, sitzt bei einer Stickarbeit, von der sie zuweilen nach der schweigsamen Gebieterin aufsieht.

Plötzlich macht Isabella eine heftige Bewegung. Sie blickt scharf nach einem Punkte der Gartenanlagen, wo ihre Mutter an der Seite eines Mannes in trautem Verkehr lustwandelt. Keine Glut innerer Bewegung rötet Isabella's Wangen, aber das große Auge blitzt jäh auf und ein schmerzliches Empfinden zuckt um ihren Mund. – – Der Mann, an der Seite ihrer Mutter, ist Pichat, ein vielgenannter Philosoph, seit fünfzehn Jahren Hofmeister von Isabella's Brüdern. Die tonangebende freigeistige Richtung hatte Pichat einen bedeutenden Einfluß in der Familie angewiesen. Mit Gräfin Rovere stand er seit einigen Jahren in sehr nahen Beziehungen, die vom Grafen Wilhelm stillschweigend gebilligt wurden. Widerspruch hätte gegen die Mode verstoßen und Entrüstung wäre lächerlich gewesen. Gleiche Duldsamkeit bewies die Gräfin dem Gatten. – So bestand ein Verhältnis ohne Anstoß, weil es zum guten Ton gehörte, den jedermann herkömmlich und zeitgemäß fand. Cantu, Bd. XII. S. 964. Die einzige Isabella vermochte es nicht, mit diesem Modeton sich zu versöhnen. Derselbe klang ihrem weiblichen Empfinden häßlich, gemein, schlecht und empörte ihr Innerstes. Mit dem Ausdrucke des Ekels wandte sie sich ab und sank, leise stöhnend, auf den Sessel hinter ihr.

Die Zofe sah noch den lichten Strahl hervorbrechen aus den Augen ihrer Gebieterin, bevor die Lider niederfielen, und sie nun da saß, bewegungslos, wie eine blendend weiße Statue. Bekannt mit den Eigenarten der Gräfin, unterbrach Julie das Schweigen nicht und arbeitete fort.

Da klangen leichte Sporntritte durch den Saal. Der Inhaber eines französischen Regimentes, Oberst Emil von Rovere, trat auf den Balkon. Dieser Oberst, ein Knabe von etwa neun Jahren, trug die glänzende Uniform des hohen Ranges, in dem er geboren worden. – Kinder in Soldatenröcken, mit Säbeln an den Seiten und Helmen auf den Köpfen, gewähren einen unschuldigen Anblick, weil diese Kriegsmänner spielen und nicht morden. Lächerlich wird jedoch der bewaffnete Knabe, wenn er als wirklicher Soldat, sogar in der Würde eines Regimentsinhabers auftritt, wie der kindliche Graf Emil. Schon der sprachlose Säugling hatte das Recht, zu kommandieren und von der Wiege aus sein Regiment gegen den Feind zu führen. Und doch ist ein kommandierender Säugling nicht lächerlicher, als ein absoluter König. Cantu, Bd. XII. S. 963.

Oberst Emil machte soldatischem Anstand Ehre. Stramm stand er da, in eingedrillter Haltung, und sagte zum Morgengruße der Schwester die gelernten üblichen Artigkeiten.

Die Frauen hatten sich von ihren Sitzen erhoben. Isabella behandelte ernst, nach dem unnatürlichen Zeremoniell ihrer Zeit, den hohen Offizier. Nicht ganz mit Unrecht hat der Engländer Carlyle das vorige Jahrhundert »eine einzige große Lüge« genannt. Diese Lüge herrschte nicht allein in der Philosophie und Politik, sondern auch in den Umgangsformen. Die Geselligkeit bestand in dem mechanischen Hersagen einer Reihe eingelernter Phrasen. Selbst die Naivetät der Kinderwelt verschonte diese Unnatur nicht. Sogar den Eltern gegenüber durfte nicht die einfache Empfindung Wort und Geberde diktieren, sondern nur das hergebrachte unerbittliche Zeremoniell. Dr. J. H. Müller, Zeitschrift der deutschen Kulturgeschichte, N. F. III. S. 453 ff.

Isabella's guter Geschmack äußerte sich zugleich in ihrer gründlichen Verachtung des gesellschaftlichen Zopfstiles. Sie folgte dem Zwange des Zeremoniells nur bis zum Schlusse der gegenseitigen Begrüßung. Dann gehorchte sie den Eingebungen ihres Selbst. Sie nahm den hübschen Knaben bei der Hand, beugte sich nieder und drückte ihm einen schwesterlichen Kuß auf die vollen Kindeswangen.

»Haben Sie Mama schon gegrüßt, Emil?«

»Ich fand Mama nicht im Kabinett.«

»Mama ist im Garten. Sie finden dieselbe beim Apollo. Eilen Sie, mein Ritter, ihr den Morgengruß zu bringen.«

Der Oberst salutierte und folgte gehorsam der Weisung.

Die Sendung des Knaben nach dem Apollo hatte offenbar einen weit ernsteren Zweck als die Erfüllung einer Förmlichkeit.

»Unser Emil ist noch ganz Kind,« hob die Gräfin an. »Wie lieb die Unschuld ist, wie erhaben und voll Würde! Wo sie erscheint, muß sich das Böse verhüllen, selbst die Schamlosigkeit flüchten. Auch nicht der verkommenste Mensch wird ohne inneren Vorwurf die hehre Kindesunschuld betrachten.«

»Wenn er das Empfinden meiner gnädigen Gräfin teilt,« erwiderte Julie. »Vielleicht hat jedoch Verkommenheit das Verständnis für die Hoheit der Unschuld verloren, weshalb sie für die Eindrücke dieser idealen Macht unempfänglich ist.«

»Sie könnten Recht haben!« versetzte nach kurzer Pause die Gräfin. »Ein Blinder sieht ja auch den Glanz des Lichtes nicht, und blind für den Glanz der Unschuld mag wohl die Verkommenheit sein. Hat sich gar die Verkommenheit zur Mode, zum guten Ton emporgeschwungen, – wie groß mag die Blindheit aller Modischen sein? – O armes Frankreich!«

»Sie vergessen, meine Gnädigste, daß Frankreich für ganz Europa tonangebend ist. Unsere Philosophen sind angesehen an allen Fürstenhöfen, sogar in Rußland und Preußen. Französische Hofmeister erziehen alle europäischen Prinzen. Französische Sitte und Bildung beherrschen die ganze Welt.«

»Desto größer die Verantwortung unserer Nation, wenn ihre Philosophie falsch, ihre Sitten und Bildung verderblich wirken.«

»Ich dächte, gerade meine Gnädigste dürfte stolz auf philosophische Bildung sein, weil dieselbe von Engherzigkeiten einer veralteten Richtung befreit und den Geist zur Höhe des Zeitbewußtseins emporhebt.«

»Phrasen, – Julie, – Phrasen! Betrachten Sie nüchternen Blickes die Höhe unseres Zeitbewußtseins, – was finden Sie? Sittliche Abgründe, in deren Tiefen die häßlichsten Leidenschaften schamlos umgehen. Sie finden äußerlich fein gebildete Menschen, mit toten Herzen, – ja, tot und kalt für das warme Leben idealer Tugendgrößen alter Zeiten! Abgetan ist freilich der naive Glaube des Christentums. Der Himmel hat sich der Erde verschlossen. Entthront ist der heilige Gott. Wo seine väterliche Fürsorge den armen Menschen ehedem liebevoll geleitet, da herrscht jetzt der blinde Zufall, das herzlose Schicksal, das fürchterliche Fatum. Wir beten nicht mehr zum allmächtigen Vater im Himmel, weil uns der Glaube fehlt, – und der Glaube fehlt uns, weil man uns gelehrt hat, philosophisch zu denken. Was haben wir dabei gewonnen? Verloren haben wir! – Alles verloren, was adelt und den Durst des Menschenherzens stillen kann.«

»Die Gemütsstimmung meiner Gnädigen sollte doch eine Richtung endlich verlassen, die an die gläubige Vergangenheit anklingt und der Tageshelle der Gegenwart keineswegs entspricht,« sagte die Zofe.

»Tageshelle? – Wo finde ich sie? Nacht, – Werke der Nacht umgeben mich!« versetzte erregt Isabella. »O du heilige Glaubenszeit, mit deiner Tugendgröße, mit deinem Abscheu vor dem Bösen, mit deinen Herzen keusch und rein! War es auch nur Täuschung oder Schwärmerei, wie unsere Philosophen behaupten, – immerhin! Groß war die Zeit des Glaubens! – Und jetzt? Die eisige Luft des Verneinens schlägt alles in unfruchtbare Erstarrung. Erkennt man den Baum an seinen Früchten, – welche Früchte reifen am Baum der Philosophie, der Wissenschaft, der zeitgemäßen Bildung? Sodomsäpfel! – O pfui, – mir ekelt!« rief sie mit einem Blicke des Abscheues nach dem Apollo.

»Weil der Geschmack meiner gnädigen Gräfin sich abzuwenden droht von dem, was die Gegenwart hübsch und reizend findet.«

»Was findet die Gegenwart hübsch und reizend?«

Die Zofe lächelte bei der Frage. Sie schwankte einige Augenblicke, dann sagte sie:

»Herzog Chatel, Marquis Charet, ganz Paris, kurz die ganze Welt, welche das Glück hat, meine Gebieterin zu kennen, rühmen laut die Schönheit.«

»Eine sehr einfältige Antwort, Julie!« sprach ungehalten die Gräfin. »Sähe die Welt auch das an mir, was unschön ist, fehlerhaft, verkehrt, namentlich mein leeres, ödes Herz, – die Welt müßte ein anderes Urteil fällen!«

Sie schwieg, über dem Angesichte des siebenzehnjährigen Edelfräuleins erschien etwas, noch seltener als seine wundervolle Schönheit, – ein sehr tiefer Ernst.

»Öde und Leerheit quälen meine Gnädigste ohne alle Berechtigung,« schwatzte die Zofe gedankenlos weiter. »Auf Ihren bloßen Wink entstehen Feste, Bälle, Konzerte, Schauspiele und alles, was erfreuen kann.«

»Man wird recht müde von all dem und innerlich noch leerer,« sagte Isabella.

»Der Ball vorgestern war feenhaft.«

»Ich habe mich entsetzlich gelangweilt und gar nicht getanzt.«

»Zum größten Leidwesen der Kavaliere.«

»Diese endlos plappernden Männlein zu ärgern, ist eigentlich noch meine einzige Freude.«

»Herzog Chatel war trostlos über die Grausamkeit meiner Gnädigsten.«

»Schade, daß ich seine Trostlosigkeit zu meiner Unterhaltung nicht bemerkte.«

»Sämtliche Kavaliere bemerkten dagegen die Gleichgültigkeit meiner Gnädigsten.«

»Wahr, – gegen dieses schwatzhafte, arge Männergeschlecht überfällt mich oft ein gewaltiger Zorn. Sie ja sind die Erfinder und Träger unseres philosophischen Zeitalters, in dem es nur Stoff gibt, aber keine Idee, nur Fleisch und Nerven, aber keinen Geist. Wie oft quälte ich mich, Freude zu finden in diesem herrlichen Zeitalter, Sättigung meiner rätselhaften Sehnsucht, – es gelingt mir nicht! Hunger und Durst peinigen, bei allem scheinbaren Überfluß. Nirgends wird meinem Herzen Genüge, täglich wird es ärmer, unbefriedigter, trostloser. Die ganze Welt möchte ich anspeien und in das Nichts zurückkehren, aus dem unsere Philosophie das All entstehen läßt.«

»Sehr begreiflich!« belehrte die Zofe. »Meine Herrin schließt sich täglich mehr von der Welt innerlich ab. Eine volle, freudige Hingebung würde ohne Zweifel diese trübe Stimmung heilen.«

»Mich hingeben? In den Sumpf hinabsteigen? Mir solch einen Rat? – Sie sollten sich schämen!«

»Von heiterer Gesittung rede ich, von frohem Lebensgenuß, – nicht von Sumpf.«

»Das ist eben der Sumpf, – freilich ein gefirnißter, elegant mit Blumen überstreuter Sumpf, – aber doch ein Sumpf. Hätte uns die Philosophie einen persönlichen Gott gelassen, ich würde ihm danken für mein klares Auge, das kultivierte Sumpfland unserer Zeit zu erkennen.«

»Weltverachtung also?«

»Ja!« antwortete fest die Gräfin.

»Es ist doch schrecklich!«

»In einer Welt leben zu müssen, die man nur verachten kann,« ergänzte Isabella.

»Die Welt bewundert meine Gebieterin, – Bewunderer zu verachten, ist undankbar.«

»Wenn sie Dank verdienen, – nicht aber, wenn die Bewunderung der Bewunderer schmutzige Füße, ein böses Herz und einen arglistigen Kopf hat.«

»Solch ein Ungeheuer findet gnädige Gräfin an ritterlichen Huldigungen?«

»Ja, – solch ein Ungeheuer!« antwortete kopfnickend die ernste Isabella.

»Ich bedauere die armen Kavaliere und deren verlorene Liebesmühe,« scherzte Julie. »Man sollte sie belehren, daß sie vergeblich um Gnade flehen und jede Huldigung pure Verschwendung sei. – – Nächste Woche gibt Monseigneur Armand in der Abtei einen Ball. Wir gehen doch hin?«

»Nein!«

»O ich Arme! Und warum nicht, meine Ungnädige?«

»Weil mir von allen Männern diese geputzten Mönche im Frack am widerlichsten erscheinen und die Ballmusik im Oratorium wie eine Gottlosigkeit klingt.«

Julie betrachtete mit großen Augen die Gräfin.

»Ich fürchte, dies hat die Familienchronik verschuldet,« sprach sie.

»Allerdings die Familienchronik, welche die Klöster in stiller Größe und die Mönche in Arbeit, Gebet und Entsagung zeigt,« versetzte Isabella. »Wie zeigt uns der Augenschein die Klöster und Mönche des philosophischen Zeitalters? Bei Saitenspiel und Liebesliedern, bei Tanz und Gelagen. Das ernste Chorgebet verstummte, – nur ein einziger steinalter Pater schleicht um Mitternacht, wie aus dem Grabe erstanden, nach dem verödeten Stiftschor, die Horen zu beten. Ihn allein, den würdigen Bonaventura, achte ich; denn er stimmt mit mir zusammen in der Verachtung unserer hübschen Welt. Beherrscht ihn auch der Wahn religiösen Aberglaubens, – immerhin! Den Mut hat er, kein Philosoph zu sein, zu atmen und zu streben in der Sphäre seiner Überzeugung und dem Zeitalter zu trotzen. Wie oft bewunderte ich die schlichte Einfalt dieses Mannes, die Strenge seiner Lebensweise, die Reinheit seines Herzens! Sind dies Früchte seines religiösen Standpunktes, dann möchte ich ihn beneiden um seinen Aberglauben. Ein echter Mönch, – ein verspäteter Geist des untergegangenen Mittelalters!«

»Ihre Bewunderung für den greisen Bonaventura bestätigt meine Befürchtung bezüglich der Familienchronik,« sagte die Zofe. »Ich bitte, künftig diese Lektüre zu unterlassen.«

»Meinen einzigen Genuß in dieser Öde? Nein!« erwiderte Isabella. »Die Chronik berichtet von Männern und Frauen, die uns alle beschämen. Starke Arme, sausende Schwerter, geschwungen zur Abwehr des Unrechtes, zum Schutze der Schwachen, zur Strafe des Frevels, – wie anziehend das ist, neben den lächerlichen Taten unserer ewig duellierenden Paradedegen! Dennoch erscheint die ungestüme Tapferkeit des Rittertums klein, neben dem Heldensinn der Entsagung in armen Zellen, wo die gläubige Seele nach dem Höchsten ringt, nach Bewältigung niederer Triebe, und nach Vereinigung mit dem heiligen Gott. Stelle daneben unsere tanzenden Mönche, unsere philosophischen, lebenslustigen Prälaten! – Betrachte das mittelalterliche Volk, wie es sich auf Erden in Verbannung glaubt, in der Fremde weiß, und wie es alle irdische Mühsal dazu ausbeutet, ewige Schätze zu sammeln und nach der seligen Heimat des Jenseits zu gelangen. Halte dagegen unsere gärende, unzufriedene, genußsüchtige, ungläubige und verzweifelte Volksmasse, verkommen und entartet, wie alle und alles um uns her! Offen gestanden, aus der Chronik weht ein kerngesunder, lebensfrischer, von Idealen getragener Geist. Man liest, versetzt sich zurück in jene Zeit und atmet auf. – Holen Sie die Chronik und lesen Sie mir vor!«

Mit Widerstreben gehorchte die Zofe.

Bevor Julie mit dem Folianten zurückkehrte, betraten Graf Henry und Philosoph Pichat den Balkon. Beide grüßten förmlich die Gräfin, welche einen Blick der Verachtung aus ihren lichten Augen nach dem Philosophen warf.

»Wir bekommen Wechsel in das ewige Einerlei,« sagte Henry. »Papa und Baron Valfort haben geschrieben.«

»Wer ist Baron Valfort?« frug Isabella gleichgültig.

»Der Käufer unseres Waldes in der Vendee.«

»Ah, – richtig!« sagte sie. »Wenn ich nicht irre, stand Papa mit jener Familie vor vielen Jahren in engerem Verkehr.«

Pichat nickte dienstfertig mit dem Kopfe. Die einfallende Rede Henry's hinderte ihn, eine Kunde von besonderer Wichtigkeit mitzuteilen, die sich in seinen Mienen spiegelte.

»Papa und Baron Valfort sind alte Jugendfreunde,« sagte Henry. »In den Wildnissen der Vendee trieben sie bei Sturm und Wetter, durch Büsche und Sümpfe sich herum, – ein merkwürdiges Vergnügen! – Papa wird also in vier bis sechs Tagen hier eintreffen und einen tüchtigen Advokaten, zur Beseitigung einiger Schwierigkeiten beim Waldverkaufe, mitbringen. Der Advokat ist Deputierter von Arras und heißt Robespierre. Baron Valfort schickt seinen Sohn Paul, weil er selber unwohl ist. Denken Sie, Fräulein Schwester, – einen Edelmann aus der Vendee und einen Deputierten des dritten Standes, – welche unerhört fremde Elemente in unseren Kreisen! Valfort's Brief hat acht Tage Verspätung, – sohin kann Herr Paul jeden Augenblick uns überraschen.«

»Das Parlament in Versailles scheint,« –

»Um Vergebung, Fräulein Schwester, – Nationalversammlung heißt jetzt das Ding in Versailles,« unterbrach Henry mit einem spöttischen Lächeln die Gräfin.

»Die Nationalversammlung scheint mit wichtigen Arbeiten keineswegs überbürdet, da sie ihre Glieder zu Privatangelegenheiten heimschicken kann.«

»So steht die Sache doch nicht,« versetzte Henry. »Die beiden Deputierten haben nur für zehn Tage Urlaub. Zugleich sei für Robespierre's angegriffene Gesundheit die Luftveränderung heilsam, wie Papa schreibt. Überhaupt scheint Papa für den Advokaten bedeutende Sympathie zu haben. Er rühmt dessen Kenntnisse und bescheidenes, sinnendes Wesen.«

»Dank für die Kunde, Herr Bruder!« sprach Isabella, mit einem Blick auf die Zofe, die zum Vorlesen aus einem dicken, in Schweinsleder gebundenen und mit Messingklappen geschmückten Folianten bereit saß.

Henry bemerkte und verstand den Blick Isabella's.

»Schon wieder die langweilige, häßliche Chronik!« sagte er.

»Die Chronik ist unschuldig und hübsch gegen das, was ich schuldig und häßlich finde,« erwiderte sie, den Philosophen scharf ansehend.

Henry begriff den Sinn der Worte und lächelte.

» De gustibus non est disputandum,« versetzte kalt und mit gelehrter Miene Pichat. »Über Geschmacksachen soll man nicht streiten. Töricht wäre es mithin, einem Menschen zu grollen wegen seines Geschmackes. Ansichten und Geschmack sind eben Folgen des Nervensystems, das niemand sich selber gegeben hat.«

»Unsere Familienchronik teilt Ihre Meinung keineswegs, Herr Pichat!« entgegnete Isabella. »Geschmack sei ein Kind des Willens, – schlechter Geschmack sei Brief und Siegel für schlechten Willen, meint sie. Und der Wille sei schlecht, wenn er dem heiligen Willen Gottes, wie ihn die Zehngebote lehren, widerstrebe. Deshalb, meint die Chronik, sei männiglich schlecht, der gottlos sei.«

»Ich kann dem gnädigen Fräulein das Zeugnis geben, den mittelalterlichen Standpunkt der Chronik erfaßt zu haben,« sprach mit Selbstgefühl der Philosoph. »Wir aber stehen nicht in mittelalterlicher Finsternis, sondern im hellen Vernunftlichte des achtzehnten Jahrhunderts, das von gut und böse andere Begriffe hat, als die Zehngebote des Judengottes.«

»Sehr wahr, mein Herr!« entgegnete Isabella mit einem Blicke stolzer Verachtung. »Da uns die Philosophen befreit haben vom heiligen Gott und dessen Geboten, so ist es jedermann gestattet, seine Schandtaten und schlechten Gewohnheiten für Tugenden auszugeben.«

»So verhält es sich wirklich, gnädige Gräfin!« erwiderte Pichat, seine Wut unter der Maske lächelnden Gleichmutes verbergend. »Gut und böse sind heute dehnbare Begriffe, die jeder nach seiner individuellen Vernunft gestalten mag. Darum haben heute strenge Sittenrichter keine Berechtigung mehr. Tot ist der heilige Gott, ausgelöscht sein Höllenfeuer, sein Himmel verschlossen. Wer dennoch sein Urteil bestimmen ließe durch religiöse Fabeln, der könnte sich nur lächerlich machen, – wenn nicht Jugend und Verstandesschwäche ihn entschuldigen.«

Hochauf richtete sich Isabella und betrachtete mit unbeschreiblicher Verachtung den Menschen.

»Freuet euch, ihr Verbrecher!« sprach sie. »Freuet euch, ihr Missetäter, ihr Ehrlosen, ihr Frevler und Schänder guter Sitten, – freuet euch! Edel seid ihr und ehrenhaft vor dem philosophischen Urteil gereiften Alters.«

»Unanständig wäre es und ein schwerer Verstoß gegen Galanterie, der schönsten Dame Frankreichs nicht das letzte Wort zu lassen,« sprach der Philosoph mit einer tiefen Verbeugung. »Da meine Gnädigste für mittelalterlichen Geist Sympathie hat, so dürfen Sie mit Vergnügen der Ankunft des Barons Paul von Valfort entgegensehen. Das verkörperte Mittelalter wird in den nächsten Tagen Rovere in Staunen setzen.«

»Wie meinen Sie das?« frug Henry.

»Ihre Frage beweist, Herr Graf, daß Sie niemals die Vendee besuchten, niemals über jenes merkwürdige Land Eingehendes lasen,« antwortete Pichat. »Für die Vendee gibt es kein Zeitalter der Vernunft, keinen Fortschritt der Bildung, keine Philosophie. Die Bewohner jenes wunderlichen Landes hängen mit zäher Starrheit an Sitten, Gebräuchen, Einrichtungen und Anschauungen ihrer Väter. Sie alle, Volk und Adel, sind streng gläubig, ungeheuer bigott. Einziges Gesetz in der Vendee, für Bauer und Edelmann, ist der religiöse Glaube. Neue Gesetze finden dort niemals Eingang, weil dieselben am Althergebrachten rütteln würden. Deshalb erfreut sich die Vendee bedeutender Freiheiten und Rechte. Selbst Ludwig XIV. wagte es nicht, durch Neuerungen den stolzen Trotz der Vendee zu reizen. Adel, Klerus und Bauern leben in brüderlicher Vertrautheit zusammen. Von feudalem Druck wissen die Bauern nichts. Dagegen gehört es nicht zu den Seltenheiten, einen Baron bei ländlicher Arbeit zu finden. Orden und Auszeichnungen des Königs nehmen die stolzen Edelleute niemals an. Geschieht es ausnahmsweise dennoch, dann wird der Dekorierte weidlich geneckt und sein Ordensband als »Halfter« verspottet. Kurz, – Adel und Bauern bewahren hartnäckig und stolz ihre Unabhängigkeit. Die Pfarrer sind arm, ungeheuer sittenstreng, ihr Ansehen ist groß und heilig ihr Wort. Um die ganze Vendee läuft, so weit sie nicht vom Meere eingeschlossen wird, eine himmelhohe Mauer, welche das Eindringen moderner Bildung verhindert und sie abschließt gegen jeden Lufthauch der neuen Zeit. Wachsmuth, Bd. II. S. 148 f. – Cantu, Bd. XIII. S. 121. – Deshalb sagte ich, unsere gnädige Gräfin wird in Baron Valfort das Mittelalter verkörpert finden.«

»Sie erwecken in der Tat mein Interesse für den nahen Besuch,« entgegnete sie.

»Paul von Valfort hat noch ein ganz besonderes Interesse für uns,« fuhr Pichat fort. »Hören Sie eine merkwürdige Geschichte! – – Vor sechzehn Jahren weilte der gnädigste Herr Graf in der Vendee, dem Jagdvergnügen zu leben. Eines Abends war im Schlosse Valfort eine heitere Gesellschaft beisammen; der berühmte Philosoph Diderot beehrte dieselbe mit seiner Gegenwart. Bald kam die Unterhaltung auf die geistigen Errungenschaften der Zeit, von Diderot in beredter Weise gefeiert. Der strenggläubige Baron Valfort trat in die Schranken für den Christengott und seine Religion, wurde aber durch Diderot's scharfe Geisteswaffen tödlich verwundet. Die übrigen Edelleute der Vendee eilten dem Baron zu Hilfe, brachen scharfe Lanzen mit dem Philosophen und reizten hiedurch den Gelehrten zu wuchtigen Streichen. Da wurde er plötzlich von einem Feinde überfallen, vor dem selbst der Geistesriese die Waffen strecken mußte. Nämlich ein bildschöner Knabe, von etwa sechs Jahren, eben unser Paul, dessen Ankunft wir erwarten, hatte bisher an der Wand gestanden und fortwährend Diderot beobachtet. Mit einem Male trat er an den Philosophen heran, ganz in der Haltung eines gewappneten Kämpen. Diderot sah das hübsche Kind und wollte ihm liebkosend den Lockenkopf streicheln. Der Kleine wich aber zurück, mit stolzabwehrender Handbewegung, und mit dem heiligen Zorn eines Engels in Blick und Mienen. Die ganze Gesellschaft war aufmerksam geworden. Die lebhafte Unterhaltung wich tiefer Stille. – »Nun, mein Kind, bist Du mir nicht gut?« frug Diderot seinen zürnenden Cherub. – »Nein, Dir bin ich nicht gut!« antwortete der Kleine. – »Warum bist Du mir nicht gut?« – »Weil Du immerfort lügst, und wer lügt, der ist ein Kind des Teufels!« lautete die Antwort des kindlichen Barons. Diderot wurde sichtlich betroffen. – Ein strafender Blick des Vaters scheuchte den Knaben hinweg. Auch der Gelehrte verließ den Kampfplatz und gab der Unterhaltung eine andere Wendung. – »Ein gewecktes Kind, – ein prächtiger Knabe!« sagte Graf Rovere zu Baron Valfort. »Geben Sie dem Kleinen einen tüchtigen Lehrer.« – »Gewiß, – einen ausgezeichneten Lehrer, – einen Jesuiten!« antwortete Valfort. – »Baron, dies können Sie vor der gesunden Vernunft niemals verantworten!« rief der gnädige Graf entrüstet. »Sie werden doch solche Anlagen nicht verkrüppeln lassen durch Einflüsse des Aberglaubens? Ich mache Ihnen einen Vorschlag! Mein Henry hat ungefähr das Alter Ihres Paul. Herr Diderot gab mir zum Lehrer meines Henry den Philosophen Pichat. Lassen Sie Paul nach Rovere gehen und zusammen mit Henry, unter Leitung und im Unterricht Pichat's aufwachsen.« – – »Danke bestens, mein lieber Graf!« versetzte der Baron. »Kein Philosoph soll mein Kind verderben.« – »Die Philosophie verdirbt nicht, sie erleuchtet und bildet,« sagte der Graf. – – »Sie kennen meine religiösen Grundsätze – in diesen wird Paul erzogen,« entgegnete Valfort. – – »Mein Gott, soll es denn niemals Licht werden in der Vendee?« rief schmerzlich Graf Rovere aus. – – »Das Licht soll bleiben in der Vendee, das Licht vom Himmel, der Sohn Gottes und seine Lehren,« antwortete sehr ernst der Baron. »Streiten wir nicht, mein Freund! Sie lassen Ihren Henry erziehen im Geiste der Philosophie und des Unglaubens, – ich lasse meinen Paul erziehen im Geiste des Christentums. Sind beide Bäume herangewachsen, dann lassen Sie uns sehen, welche Früchte sie bringen.« – – »Ohne Zweifel hat der Baron seinen Entschluß durchgeführt und sendet uns einen Jesuitenzögling,« schloß Pichat hämisch lächelnd.

»Wirklich interessant!« sprach Isabella. »Bin sehr gespannt, das Gegenstück unserer philosophisch gebildeten Kavaliere kennen zu lernen.«

»Jedenfalls wird er seinen Rosenkranz mitbringen, und auch das Weihwasser nicht vergessen, zum Schutze gegen philosophische Teufel,« rief lachend der Graf.

»Und ich wünsche,« sagte Pichat, »Streitlust und Kampfesmut des Knaben möchten in dem jungen Manne nicht erstorben sein, damit uns scharfe Geistesturniere ergötzen.«

Er verbeugte sich und verließ mit Henry den Balkon.

»Julie, – wie meinen Sie? Sollte es möglich sein, daß ein poetischer Lebenshauch aus der Vendee in unsere dürre Alltäglichkeit hereinweht?« frug sie lebhaft.

»Nach den Schilderungen Pichat's halte ich dies für unmöglich, meine Gnädige! Die Vendee ist ein schreckliches Land, von großen Wäldern und Sümpfen durchzogen, in denen rohe Menschen wohnen, – Menschen, die noch an Ammenmärchen glauben und das Wort Philosophie nicht einmal aussprechen können.«

»Hübsch war's aber doch, wie der dralle, bildschöne Knabe Paul die philosophische Größe Diderot zum Schweigen brachte. Ich sehe ihn vor mir, den lieben Kleinen, mit den runden Wangen, dem Lockenkopf, den zürnenden Kindesaugen, – wie er stramm vor dem Antichristen steht und mutvoll seinen Gott verteidigt. Ein herrliches Kind! Werden die sechzehn Jahre seinen Mut, seine Gaben, seine Schönheit zur männlichen Reife entwickelt haben? Julie, – ich bin sehr gespannt, Paul von Valfort kennen zu lernen!«

»Die hohen Erwartungen meiner Gnädigen werden eine empfindliche Niederlage erleiden,« sagte die Zofe. »Verdienten bisher die elegantesten und galantesten Kavaliere nicht die mindeste Beachtung, wie sollte ein Baron, der aus den finsteren Wäldern der Vendee hervorkommt, hochgespannte Erwartungen befriedigen können?«

»Eleganz, Galanterie und Philosophie bilden noch keinen Mann, – mithin könnte Paul dennoch, ohne all dies, ein vollendeter Mann sein. Ich selber finde sonderbar, daß ein Mensch, von dessen Existenz ich bisher nichts wußte, mich so lebhaft interessieren kann.«

»Das verschulden zwei Umstände: – meiner Gnädigen gegenwärtige Stimmung und die poetische Figur des Knaben im Schlosse Valfort.«

»Mag sein! – Hat nicht Graf Henry gesagt, der Baron könne jeden Augenblick eintreffen?«

»Ja! Der Brief habe Verspätung, – kein Wunder! Poststraßen gibt es ja nicht in der Vendee, auch keine Städte, sondern nur alte, schauerliche Burgen, Dörfer und Weiler, – ein ganz abscheuliches Land!«

»Ich muß unverzüglich meiner Unwissenheit über die Vendee zu Leibe gehen,« sagte Isabella.

»Soll ich den betreffenden Band der Enzyklopädie herüberholen?«

»Darin steht nichts von der Vendee, als Satyren und Lügen über die religiösen Schwärmer; denn Diderot hat den Artikel geschrieben und Diderot lügt immerfort, – der kleine Paul hat es ja gesagt,« rief lachend die Gräfin. »Wir müssen aus einer klaren Quelle schöpfen, diese ist David, der meinen Vater nach der Vendee zu begleiten pflegte. Augenblicklich an's Werk! Man weiß ja nicht, wie nahe Pauls Ankunft ist. Also keine Verzögerung; – ein großes Tuch über den Morgenanzug genügt.«

Sie erhob sich rasch und eilte fort. Die Zofe klappte den Folianten zu.

»Köstlich, – ganz erstaunlich! Alles Männliche flößt ihr Langweile ein, fordert höchstens ihren Mutwillen, ihren Spott heraus. Da wird ein Krautjunker aus der Vendee angemeldet, und sie flattert auf, wie ein Schmetterling, von der Frühlingssonne aus seinem Gehäuse zu frohem Leben erweckt. Armer Schmetterling, – du suchst eingebildete Blumen und findest einen – Krautkopf!«

Isabella hatte den grünen Saal durchschritten und ein Vorzimmer betreten, dessen gegenüberliegende Türe sich in demselben Augenblick öffnete. Ein junger Mann, in der reichen Tracht der höchsten Stände, erschien unter dem Eingang. Er trug einen hellbraunen Sammtrock, kurze Beinkleider derselben Farbe, weiße Seidenstrümpfe und Schuhe mit goldenen Schnallen. Der Sammtrock hatte umgeschlagene goldgestickte Ärmel, mit hervorstehender Hemdekrause von Brabanter Spitzen. Handbreite Goldstickereien liefen an den Brustteilen des Rockes bis zu den Knieen hinab. Eine sehr lange weiße Atlasweste, deren Schöße über die Lenden hinabfielen, war mit Goldstickereien überladen. Durch die linke Seitentasche des Rockes lugte kokett der funkelnde Griff eines zierlichen Degens hervor. Kostbare Busenstreifen schlossen sich an die weiße Halsbinde und verschwanden unterhalb der Brust unter der Weste. Auf dem Kopfe trug er einen dreieckigen Hut mit Goldverbrämung und am Hinterkopf ein Haarzöpfchen, dessen Ende ein seidenes Band schmückte. Das Haupthaar duftete sehr stark nach Wohlgerüchen und war zu beiden Seiten aufgerollt. Der Gesichtsausdruck des jungen Mannes verriet keine bedeutende Geistesgaben, aber desto mehr Spuren zeitgemäßer Genußsucht. Beim Anblicke der Gräfin zog er den Hut, verbeugte sich mit der Förmlichkeit des feinsten Anstandes, und das müde Augenpaar belebte ein glitzerndes Funkeln.

Isabella unterwarf sich dem Zwange des Begegnens mit kaum verhehlter Überwindung.

»Wie alltäglich, gehorche ich der süßen Pflicht, nach dem Befinden meiner Gnädigsten zu forschen und derselben mit dem Morgengruße zugleich die zärtlichsten Gefühle meines Herzens darzubringen,« sprach der zierliche Kavalier.

»Und ich vollziehe hiermit die auferlegte Pflicht des Dankes, Herr Herzog! Zugleich muß ich bedauern, zum Empfange des hohen Besuches nicht gerüstet zu sein, und bitte um Erlaubnis, mich zurückziehen zu dürfen.«

»Niemals werde ich eine solche Grausamkeit an mir begehen,« versetzte Herzog Chatel, auf dessen Kopf und Herz Isabella's Schönheit einen überwältigenden Eindruck hervorbrachte. »Darf ich die kühne Behauptung wagen, Juno, die keusche Juno, sei nicht reizender gekleidet in ihrer Götterpracht, als Sie, meine Angebetete, in diesem weißen Morgengewande, dem sinnigen Ausdruck Ihres erhabenen Wesens?«

Das Geschwätz forderte die satyrische Laune der Gräfin heraus.

»In der Tat eine kühne Behauptung, erlauchter Herzog, – dazu eine ganz neue Redensart des neuesten Galanteriebuches! Auch finde ich die Redensart bedenklich; denn sie verweist eine Person, auf welche sie angewendet wird, in das Reich der Mythen und Fabeln.«

»Um Vergebung!« belehrte Chatel. »Der Vergleich mit Juno soll nur eine hohe Frauengestalt von kräftig blühender, göttergleicher Schönheit bezeichnen.«

»Dann ist die Redensart eine starke Zumutung, weil es das Gegenteil von Frauenhoheit wäre, an derselben Geschmack zu finden.«

Die Zofe betrachtete das lange Gesicht des Herzogs und vermochte kaum, ein andrängendes Lachen zu unterdrücken.

»Wie grausam Sie heute wieder sind!« klagte Chatel. »Wüßte ich nur den Schlüssel zu einem Herzen, in das ich eingehen möchte, wie in die Seligkeiten des Himmels!«

»Zu klein ist mein Herz für Ihre Größe, und einen Schlüssel zu meinem Herzen gibt es überhaupt nicht. Dagegen erwartet Sie mein Bruder. Ich habe die Ehre, den Herrn später zu sehen, für den Augenblick aber mich zu empfehlen.«

Sie verbeugte sich und verschwand.

Chatel's schmachtender Blick geleitete Isabella, bis ihm die Türe den Gegenstand seiner Gefühlsschwärmerei entzog.

»Wenn sie nicht das schönste Mädchen in Frankreich ist, dann will ich keinen Champagner mehr trinken und die Sonne für ein Talglicht ansehen,« sprach er. »Welch ein Wuchs, – welche Büste, – welche Augen, – welche Gesichtsbildung! Und ihr Mund, mit den lebensfrischen Lippen, wie schelmisch der heute lächelt! – Wenn ich die Ursache dieses Lächelns wäre? Meine Herzogskrone gäbe ich darum, – oder doch wenigstens eine Perle dieser Krone. – – Aber nein, ich bin nicht die Ursache dieses Lächelns! Sie hat etwas ganz besonderes heute; denn auch die Sonnenaugen glänzten ungewöhnlich. Was mag sie nur haben? Was konnte sie in eine so heitere, fast erregte Stimmung versetzen? Was mag sie anziehen, – interessieren, sympathisieren? Das muß ich erforschen, – Henry wird es ja wissen.«

Er stellte sich vor den Spiegel, der seine ganze Gestalt wiedergab, betrachtete sich von allen Seiten, prüfte besorgt die welkenden Züge, machte sich selber eine Verbeugung und schritt nach den Gemächern des Grafen Henry.

In ein weites, langes Tuch gehüllt, nahte Isabella mit ihrer Zofe dem Häuschen am Tore, das kaum sichtbar hinter Buschwerk verborgen lag. Wenn die Gräfin unter dem Schatten der Bäume lustwandelte, die in drei Reihen vom Schlosse nach dem Tore hinstanden, pflegte sie einige freundliche Worte an David zu richten, sogar mit ihm sich zu unterhalten. Schon als Kind benützte sie jeden unbewachten Augenblick, der Hofmeisterin zu entschlüpfen und nach dem Häuschen am Schloßtor zu laufen, wo für sie jederzeit hübsche Bilder, Blumen oder süße Früchte bereit lagen. Das Kind war David's Augapfel gewesen, für das Fräulein empfand er eine unbegrenzte Verehrung. Ihm war sie nicht allein das schönste Mädchen in Frankreich, sondern auch die Krone ihres Geschlechtes, geziert mit den kostbarsten Perlen edler Weiblichkeit. Bei der Beobachtungsgabe und dem natürlichen Scharfsinn des Torwächters wurzelte diese Anschauung keineswegs in blinder Neigung, sondern in gereiftem Urteil, und in der prüfenden Würdigung ihres Wesens.

Als er jetzt die Gräfin herankommen sah, trat er sogleich vor sein Häuschen, nahm die Kopfbedeckung ab und harrte, ob sie ihn etwa einer Anrede würdige. Da sie rasch nahte, bog er tief den Rücken und sein Gesicht glänzte vor Freude.

»Guten Morgen, David! Wie steht's Befinden?«

»Sie wissen ja, gnädigstes Fräulein, – immer bin ich in solchen Augenblicken der Glücklichste aller Menschen!«

»Ich wollte Sie etwas fragen, David! Nicht wahr, Sie begleiteten meinen Vater in früheren Jahren zuweilen nach der Vendee?«

»Regelmäßig, Gnädigste! Ohne David gab es keine Jagden in der Vendee. Ich war damals ein flinker Bursch von achtzehn Jahren und kein schlechter Schütze.«

»Erinnern Sie sich etwa noch der Familie Valfort?«

»Gewiß, – sehr genau! Gar oft waren wir dort im Schlosse, einem alten, trotzigen Bau, fest und verlässig, wie seine Bewohner. Baron Valfort ist ein gerader, biederer Herr, ein echter Edelmann. Überhaupt ist das Menschengeschlecht in der Vendee ein grundverschiedenes von dem unserigen. Dort gibt es keine Stutzer, keine Haarbeutel, keine Siebenachtelsfräcke, nicht einmal Philosophen, wohl aber strenggläubige Christen und ehrliche Leute. Jeder Edelmann ist ein König, jeder Bauer ein Edelmann, und jeder Geistliche ein Prophet, der etwas gilt in seiner Heimat.«

»Hat der Baron viele Kinder?«

»Genau weiß ich das nicht! Aber ich erinnere mich noch sehr gut des hübschen, ernsten Knaben Paul, den ich oft reiten ließ auf meinem Rappen, und der Fragen stellte, die weit über seine Jahre hinausgingen.«

»Welcher Art waren diese Fragen?«

»Seltsamer Art, gnädiges Fräulein! So wollte er einmal wissen, warum die Leute anders seien in Frankreich als in der Vendee? Warum sie keine Rosenkränze hätten und die Hüte nicht abzögen beim Aveläuten? Warum sie nicht beteten und zur Messe gingen? Ob man in Frankreich nichts wisse vom heiligen Gott, der überall sei und alle bösen Reden höre? – Derlei Fragen stellte er, – zuweilen scharfe Kritiken unseres Benehmens.«

»Ein merkwürdiges Kind, – das Sie als jungen Mann bald sehen werden.«

»Kommt er etwa wegen des Waldverkaufes?«

»Vielleicht heute noch. – Und der Familiengeist in Valfort? Ist er nicht düster, lebensscheu, religiös schwärmerisch?«

»Keine Spur, gnädiges Fräulein! Unbefangene Heiterkeit lebt dort, natürlicher Frohsinn, würdiger Ernst. Von philosophischem Geschwätz, das bei uns die Raben von den Bäumen krächzen, hört man dort gar nichts. Die Leute arbeiten fleißig, sogar Edelleute greifen manchmal zu. An Sonntagen gehen sie alle in die Kirche. An Sonntagnachmittagen gibt es im Freien allerlei Kurzweil bei althergebrachten Spielen. Jedermann ist mit sich einig und hat eine klare Lebensbahn vor Augen. Niemand tappt in Zweifeln herum, sondern geht an der Richtschnur der Gebote Gottes seinem Ende froh entgegen, weil der Tod keineswegs in das Nichts der gescheiten Vernunftmenschen führt, sondern in den Himmel der Gläubigen. Wir spotten zwar und lachen über den Aberglauben der Vendee, – wer aber die Leute beobachtet hat, der muß sie achten.«

Der Ruf der Torglocke unterbrach den Berichterstatter. Stampfen und Schnauben von Pferden tönte in den Schloßhof herein.

»Mein Gott, – wenn dies Paul wäre!« sagte Isabella und verschwand mit ihrer Zofe in dem Häuschen.

David schob den Riegel zurück und öffnete das Tor. Isabella stand in athemloser Spannung am Fenster und spähte durch die Zweige. Ein Reiter, so fest und sicher auf dem Rücken des edlen Tieres, als sei er mit demselben verwachsen, ritt in den Hof. Die Tracht des Fremden war ebenso ungewöhnlich, wie sein Äußeres. Er trug ein sehr einfaches, kurzes Obergewand von Wollenstoff, eine Art Kittel, mit einer Öffnung an den Schultern, den Kopf durchzulassen. Um die Hüften hielt das Gewand ein Ledergurt zusammen, zugleich der Träger eines Pallasches, der mehr einem Ritterschwert als einem Degen damaliger Mode glich. Bis zu den Knieen herauf reichten Stulpstiefel, deren Absätze silberne Sporen mit ungewöhnlich großen Rädern schmückten. Die Beinkleider waren von Hirschleder, an den Taschen mit Silberstreifen garniert. Auf dem Kopf saß eine schildlose Filzmütze, mit umgeschlagener Verlängerung, die zum Schutze der Ohren und des Hinterhauptes konnte herabgelassen werden. Einige Federn von Auerhahn und Wasserschnepfe an der Mütze verrieten den Jagdfreund. Rötliches Lockenhaar, ohne modischen Zuschnitt und zopfische Mißhandlung, umrahmte ein edelgeformtes, jugendliches Gesicht mit zwei kühn und scharf blickenden Augen. Eine weitere Mißachtung der Mode war der kräftig heranwachsende Schnurrbart, der sich unter einer sanft gebogenen Nase hinzog; denn glatt rasiert gingen damals die Edelleute. Die ganze Erscheinung machte den Eindruck ländlicher Einfachheit, naturwüchsiger Kraft und männlicher Stattlichkeit.

Dem ersten Reiter folgte ein zweiter, offenbar des ersten Diener. Hinter ihm, auf dem Rücken des Pferdes, türmte sich ein großes Felleisen, ohne Zweifel den Kleidervorrat seines Herrn enthaltend.

»Guten Tag, Freund Torhüter!« grüßte freundlich eine klangvolle Stimme. »Ist der Herr Graf aus Versailles bereits eingetroffen?«

»Noch nicht, mein Herr!« antwortete David, die Mütze in der Hand, menschenkundigen Blickes den Fremden musternd. »Der gnädige Graf Henry ist jedoch zu Hause. Wen darf ich anmelden?«

»Baron Paul von Valfort.«

David verbeugte sich achtungsvoll.

»Dem Herrn Baron möge es gefallen, hier abzusteigen und zu gestatten, daß die Pferde sogleich untergebracht und mit Decken behängt werden; denn sie sind naß vom scharfen Reiten,« sagte David.

»Sehr wohl, mein Freund,« entgegnete Valfort, indem er sich aus dem Sattel schwang. »Pierre,« gebot er seinem Diener, »reibe die Tiere trocken ab und sei vorsichtig bei der Fütterung.«

»Hier, gleich rechts, geht es nach den Stallungen,« belehrte David den Reitknecht. »Darf ich bitten, Herr Baron!«

Beide schritten nach dem Schlosse.

Isabella hatte aus ihrem Versteck den Fremden genau betrachtet und jede seiner Bewegungen beobachtet. Jetzt folgte ihr Blick der stattlichen Gestalt, bis sie unter den Bäumen verschwand.

»Eine ritterliche Erscheinung!« sagte sie.

»Nur etwas gar zu einfach gekleidet für einen Baron,« erwiderte Julie.

»Die Kleidung entspricht Valfort's Wesen, – Hoheit ist immer einfach,« versetzte die Gräfin.

»Aber sein Gesicht ist wirklich hübsch und stattlich sein Wuchs,« gestand die Zofe. »Blitzende Augen, Ernst und Kühnheit in den Zügen, und eine Stirne, so stolz, als wäre sie der Thron einer Gottheit.«

»Du hast nicht übertrieben,« bestätigte Isabella. »Nun, David, wie meinen Sie? Hat sich der kleine Paul in sechzehn Jahren gut ausgewachsen?« frug sie den Zurückkehrenden.

»Wenn ich recht gesehen habe, ist aus ihm ein ganzer Mann geworden, gnädiges Fräulein! Ein ganzer Mann, – das will etwas heißen! Es gehen, fahren und reiten viele durch mein Tor, – Männer finde ich selten darunter, – ganze Männer niemals.«

Sie erhob mit strafendem Lächeln den Finger.


 << zurück weiter >>