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Der Hüter des Strandrechts

Als bei diesem Herbstthing Peter Matthißen, der Landvogt, Lorens den Hahn zum drittenmal fragte, ob er sich nicht endlich ganz für die See bedanken wollte, antwortete dieser mit einem unwillkürlichen Seufzer:

»Das Reißen fragt nicht nach dem Wollen. An jedem Nebeltag schließt es mich krumm; das paßt sich nicht für einen Grönlandkommandeur.«

»So komme ich morgen abend zu dir,« sagte Peter Matthißen; »ich habe lange auf dich gewartet.«

Als der Landvogt am anderen Abend kam, hatte Inge blankgeputzte Öllämpchen in Stube und Pesel entzündet, in dem vielarmigen Deckenleuchter und auf dem Tisch aber brannten Kerzen, die Lorens aus London mitgebracht hatte. Es sah schmuck und festlich aus, und als Peter Matthißen eintrat und sich behaglich die Hände rieb in der warmen Stube – denn draußen wehte ein fliegender Südwest – da mußte Lorens unwillkürlich an seinen ersten Besuch bei des Landvogts Vater, dem glücklichen Matthis, denken, und er lächelte still vor sich hin. Ja, er hatte erreicht, was er damals als Junge geträumt hatte. Sein Haus war eins der ersten auf der Insel, und an seine Frau reichte keine andere heran. Sein Auge leuchtete auf, als sie nun hereinkam, um den Gast zu begrüßen und den Wein einzuschenken, den Gondel mit des Vaters silbernen Krügen zugleich von draußen brachte. Während Gondel die Pfeifen stopfte und noch einmal ringsum die Lichter putzte, sprach Inge ein paar ruhige Worte zu Peter Matthißen über den Sturm draußen, die Ernte vom Jahr – und fragte ihn nach Frau und Kindern. Dabei aber war ihr Wesen so voll ruhiger Würde, daß der Landvogt ihr mit Ehrerbietung antwortete und auch seinerseits ein paar rasche Fragen über Gemeindeangelegenheiten an sie richtete.

»Ihr Frauen wißt besser darüber Bescheid als die Männer, die sich draußen herumtreiben,« sagte er lächelnd, und ein Widerschein seines Lächelns ging auch über ihr Gesicht.

»Lorens will sich nun für die See bedanken, da ist es gut, wenn er sich in Gemeindefragen einarbeitet,« antwortete sie freundlich und ging dann mit Gondel hinaus; »gute Verrichtung!«

»Ja, Lorens, deine Frau hat recht,« sagte der Landvogt lebhaft. »Ich komme nicht ohne Grund zu dir. Mir machen die Sylter noch graue Haare, wenn ich nicht einen Helfer hier finde.«

Soeben hatte Lorens Hahn noch in behaglicher Freude seiner Frau und Tochter nachgeblickt, nun wurde sein Blick kühl und prüfend, sein Gesicht verschlossen.

»Es wäre wohl gut, wenn du Sylt ganz abgeben könntest,« meinte er zurückhaltend und sog an seiner Pfeife, aber Peter Matthißen wehrte sogleich ab.

»Dänemark hat kein Geld, um euch Syltern wieder einen eigenen Vogt zu geben« – und wird es so lange nicht haben, bis mein Ältester ausstudiert haben wird, setzte er in Gedanken hinzu. »Nein, nein, den eigenen Vogt laßt nur schwimmen, den fischt ihr doch nicht. Für alles andere kann ich auch wohl aufkommen, nur – der Strand!«

Über Lorens Hahns Gesicht ging ein Wolkenschatten.

»Muchel Carstensen ist alt.«

»Wohl, wohl, er tut, was er kann, und der Sohn läuft wohl auch einmal für ihn –«

Der Landvogt brach ab und beobachtete das Gesicht seines Wirtes, aber das war kalt und gleichgültig. Bedächtig nahm er einen Schluck Wein, drehte und wendete den schönen Krug bewundernd hin und her und fing dann wieder an:

»Carsten Muchels. macht sich Hoffnung auf die Strandvogtei, wenn der Vater stirbt, und wenn ich keinen Beweis gegen ihn habe, muß er sie wohl auch bekommen.«

»Soll ich meinen Nachbarn auf die Finger passen?« fragte Lorens spöttisch, aber er war innerlich, erregter, als er sich merken ließ. Jener Weihnachtsabend stand wieder vor ihm, an dem er dem Nachbarn Manne Tettens blutige Hand auf den Tisch geworfen hatte. Noch heute nagte der Gedanke an ihm, daß er den Mord hätte verhindern können, wenn er nicht mit seinem Kinde gespielt und nicht erst den Strandvogt gefragt hätte, ehe er sich auf den Weg machte.

»Gerade das ist es, was ich von dir wünsche,« sagte Peter Matthißen ruhig und tat, als sähe er nicht, wie Lorens betroffen aufhorchte. »Ich habe die Angelegenheit mit dem Justizrat Meley in Tondern oft und oft besprochen. Ich will, dich zum Strandinspektor von Sylt machen. Du sollst die Vögte inspizieren und auch das erste Wort in allen Dingen haben, die die Dünenländereien betreffen. Es liegt alles bereit. Sobald du ja sagst, geht mein Gesuch an die deutsche Kanzlei nach Kopenhagen, und der Justizrat wird es befürworten.«

»Weshalb hängt das von meinem Ja ab?« fragte Lorens mißtrauisch.

»Weil ich einen Strandinspektor anstellen muß, wenn mir einer bewilligt wird, und weil ich keinem Sylter sonst genug traue, um ihn hier an den Strand zu setzen. Ein Sylter muß es aber sein, und du hast noch unter meinem Vater gefahren. Oder kannst du mir einen anderen nennen?«

Lorens sann nach – nicht über einen anderen; er wußte viel zu genau, daß nur er selbst diesen Posten würde ausfüllen können. Aber das Angebot kam ihm überraschend, und er brauchte Zeit, um sich über seine eigenen Gedanken klar zu werden.

»Wie begründest du dein Gesuch?« fragte er endlich. Der Landvogt zuckte lässig die Achseln.

»Mit der Wahrheit; wenn man sie aussprechen kann, ist sie immer die sicherste Handhabe. Der Sylter Strand bringt zu wenig ein. In den letzten Jahren müssen einige kostbare Schiffe hier aufgelaufen sein, und was meldet Muchel Carstensen? Ein paar Schiffsgeräte und etwas Wrackholz.«

»Rantum muß wieder einen Vogt bekommen, der Distrikt ist zu groß.«

»Aber die Vögte müssen eine Faust über sich spüren, sonst taugen sie nichts,« rief Peter Matthißen ärgerlich. »Carsten Muchels ist gut genug, wenn ihm einer auf die Finger paßt. Wenn er Alleinherr ist, wirtschaftet er genau so gut in die eigene Tasche, wie der Vater tat und der Rantumer tun wird; wenn du es nicht seihst bist. Ich will dich aber nicht nach Rantum setzen; ich will, daß du den ganzen Strand unter dir haben sollst von Hörnum Odde bis Listland hinauf. Laß die Vögte die Arbeit tun, aber paß du den Vögten auf, das ist's, was ich von dir will. Ich bin ehrlich, so sei du es auch; willst du, oder willst du nicht?«

Lorens stand auf, denn die Lichter brannten trübe. Er griff nach der Schere, um sie zu putzen, aber in Wahrheit wollte er sein Gesicht vor seinem Gast verbergen. Ob ich will? dachte er düster; ich habe keine Wahl. Vor meiner Seele steht einer mit handlosem Armstumpf, der zwingt mich an den Strand. Laut aber sprach er wie gleichgültig:

»Morgen, ehe dein Schiff geht, will ich dir Antwort bringen.« –

Ehe das neue Jahr anbrach, hatte Lorens Petersen Hahn seine Bestallung als Inspektor des gesamten Strand- und Dünengeländes von Sylt in Händen, und von da ab trieb es ihn hinaus bei gutem und schlechtem Wetter, bei schlechtestem aber am meisten. Wenn die See rief, wenn der Strand raste und die Dünen kochten, lief er mit langen Schritten durch den wilden Wirbel und spähte nach allen Seiten, wie die Möwen taten, die dicht über ihn dahinstrichen. Wurde sein Reißen auch nicht besser auf diesen Wegen, so wurde es doch nicht schlimmer, als wenn er hinterm Ofen gesessen hätte. Inge rieb ihn mit fliegendem Öl und strickte ihm wollene Rumpfwärmer. Ihm aber war wohl, wenn er draußen umherlaufen konnte. Drinnen plagten ihn oft die Gesichter derer, die er nicht vergessen konnte. Sie verzogen sich zu widerlichen Fratzen, wenn Merret ihm schön tat, oder Inge ihn in ihre warme Gemütlichkeit locken wollte. Aber sie winkten ihm freundlich zu, wenn er Strandläufer und unberechtigte Berger mit fester Faust packte. –

Es war im Frühling, und die Seefahrer hatten schon sämtlich die Insel verlassen, als Lorens eines Morgens eine völlig ausgeraubte Strandleiche fand. Er machte kein Aufhebens davon und ließ den Toten noch am selben Tage auf dem Rantumer Kirchhof begraben. Aber heimlich ballte er die Fäuste und schwur sich selbst zu, den Räuber zu fassen, und sollte er alle Nächte hindurch den Strand absuchen. Es war aber unruhiges Wetter, vorzeitig warm, und der Wind sprang im Westen hin und wieder. So kam viel Strandgut an, und er hatte alle Ursache, viel unterwegs zu sein.

Eines Abends spät kam er von Hörnum zurück, als er in der Rantumer Gegend eine gebückte Gestalt bemerkte, die augenscheinlich den Strand absuchte. Ohne Besinnen warf er sich glatt zu Boden, hob nur wenig den Kopf und äugte vorsichtig hinüber. Die Gestalt bewegte sich genau in gleicher Art wie vorhin unbekümmert auf ihn zu; ganz entschieden hatte sie ihn noch nicht gesehen, wohl, weil der Himmel im Süden so dunkel war. Ein Frühlingsgewitter stand schwer hinter Hörnumsand, und von Zeit zu Zeit flog ein blaues Licht über die See.

Lorens zog die Mütze tief in die Stirn und drückte das Gesicht in den Sand. So blieb er unbeweglich liegen und lauschte angestrengt. Nicht lange, so vernahm er einen halblauten, freudigen Ausruf. Dann kamen schlürfende Schritte näher.

»Es muß ein alter Mensch sein,« dachte Lorens bei sich; »alt und dökerig. Sonst hätte er auch mit der Feldbestellung genug zu tun und liefe abends nicht mehr an den Strand.«.

Indem er noch so kalkulierte, fühlte er die Spitze eines Stockes in seiner Seite.

»Sobald du mich mit der Hand berührst, packe ich zu,« dachte er zornig und machte sich kampfbereit. Aber der Räuber faßte nicht zu, und statt dessen hörte er das Knacken und Rascheln eines Pelzrockes, wie es klang, wenn die Frauen in der Kirche hinknieten.

»Was schöne Stiefel,« murmelte eine Stimme, bei deren heiserem Klang es ihm kalt über den Rücken lief. »Und noch heil von Kopf zu Füßen. Nun aber erstmal – Vater unser, der du bist im Himmel, geheiliget werde dein Name – ob er wohl einen Geldgurt hat wie der andere? – Dein Reich komme, dein Wille geschehe – ja, dein Wille ist gut, ich dachte nicht, daß ich sobald schon wieder einen finden könnte – wie im Himmel, also auch auf Erden – hatte ich doch den ganzen Tag die Unruhe in den Gliedern! Unser täglich Brot gib uns heute – sollst an den Strand gehen, dachte ich – wie gut – und nun aber schnell: und vergib uns unsere Schuld –

Wie betäubt hörte Lorens auf diese krächzende, alte Stimme. Es war doch nicht möglich – es konnte doch nicht sein? Ach, er wußte nur zu gut, daß es doch möglich fein konnte – aber als er nun fühlte, daß die knochigen Hände ihn packten und umdrehen wollten, widerstrebte er und drückte das Gesicht noch fester in den Sand,

»Jee – noch warm,« klang die alte Stimme mißtrauisch über ihm, »und was schwer!«

Dann packte das Weib noch einmal an, rutschte aber aus und schlug ziemlich heftig zu Boden. Erschreckt fuhr Lorens auf.

»Mutter –!«

Die Alte saß auf dem Sande und starrte ihn mit offenem Munde an. Lorens hob sie auf.

»Kommt, Mutter, ich bringe Euch heim. Was habt Ihr hier am Strande zu suchen?«

»Was geht es dich an?«

»Ich bin der Strandinspektor und passe allen Leuten auf die Finger, auch der eigenen Mutter!«

»Eeh –?«

»Wie könnt Ihr nur so etwas tun?« rief Lorens außer sich. »Es ist nicht nur gegen das Gesetz, es ist doch auch Sünde!«

Die Alte kicherte und schüttelte den Kopf.

»Nicht, wenn man das Vaterunser vorher spricht, Lorens,« sagte sie geheimnisvoll. »Maren Taken hat es mich gelehrt. Damit erlöst man den Toten. Dann hat er nichts mehr dagegen, wenn man seine Sachen nimmt. Und kein Lebender merkt es.«

»Auch ich nicht?« fragte Lorens bitter.

»Jee, du warst nicht tot, daher kam es,« antwortete seine Mutter gleichmütig, und ihn packte das Grauen, daß ihre Finger auch vor der Leiche des Sohnes nicht zurückgeschreckt hätten. Er sah auf ihre Hände, die knochig und verkrümmt an ihr herunterhingen, und da wieder ein blauer Schein über See und Himmel flog, sah er auch ihren gierigen Blick. Gleich darauf donnerte es stärker als vorher.

»Kommt heim, das Wetter zieht auf,« sagte er kurz, und dann sprach er nicht mehr, bis sie in Rantum an seinem väterlichen Hause angekommen waren. Die Schwägerin sah gerade aus der Tür und rief die Kinder herein.

»Gut, daß Ihr kommt, Mutter, das Wetter wird schlimm. Warte es lieber auch hier ab, Lorens.«

Er schüttelte den Kopf, aber als die alte Frau mit den Kindern zusammen ins Haus kröpelte, hielt er die Hand der jungen fest.

»Ich traf Mutter am Strande; was tut sie da?

»Am Strande?« wiederholte die junge Frau erstaunt. »Sie läuft in den Dünen herum nach Eiern, stundenlang. ist zu verwundern. Wenn ich erst so alt bin, werde ich nicht mehr so beinig sein. Oha, bin ich müde!«

»Du solltest mehr auf Mutter aufpassen.«

»Auch noch? Ich habe genug zu tun mit dem Vieh und den Kindern. Mutter findet auch allein wieder nach Hause.«

Lorens sagte nichts mehr, aber als er nachts mit Inge allein war, bekam sein Schiff ein Leck, und er mußte ihr alles erzählen, was er mit seiner Mutter erlebt hatte.

»Was soll ich nur tun, Inge? Töhl sagt, sie könnte Mutter nicht aufpassen, und Mutter selbst sieht nicht ein, daß sie unrecht tut. Man müßte Maren Taken, die Hexe, fassen, daß sie alten Leuten nicht solchen Unfug beibringt.«

Inge fuhr hoch.

»Um Gott, Lorens, laß dich nicht mit Maren ein! Sie kann mehr als Brotbacken.«

»Was weißt du von ihr?«

Inge antwortete nicht, und als er nach ihr tastete, fühlte er, daß ihr Gesicht naß war.

»Weinst du, Inge? Was ist mit dir?«

Denn Inge hatte sich über ihn geworfen und schluchzte, daß ihr ganzer Körper schüttelte.

»Hast du dich auch mit ihr eingelassen?«

»Nur einmal, Lorens, bei den Raben! Dann niemals wieder.«

»Wie war das?«

Da erzählte Inge ihm, wie sie vorm Jahr zu Maren Taken gekommen war.

»Als ich mir dann wirklich mit dem Schmier das Gesicht bestrichen hatte und das Vaterunser dazu sprach, da wurde ich immer jünger, und mein Gesicht leuchtete, daß die Stube davon hell wurde. Dann nahm Maren Taken mich an der Hand, und wir gingen über Wolken, und endlich fand ich dich. Du saßest in deiner Kajüte, hattest Bücher und Schreibzeug vor dir, aber die Feder, die du in der Hand hieltest, war halb verbrannt. Oha, ich sah das alles ganz klar, denn von mir ging ein heller Schein aus. Meinst du, daß es schlecht war, Lorens?«

Er schwieg; mit leisem Schauer dachte er an das Gesicht, das er in jener Nacht gehabt hatte, als er mit der Schreibfeder das Licht hatte schneuzen wollen.

»Und dann?« fragte er.

»Dann sagte Maren: Nun sprich zu ihm, und sage ihm, daß er Henrich Eelking verlassen soll. Aber ich dachte nicht an Henrich Eelking, ich dachte nur an dich. Ich hatte solche Sehnsucht gehabt, und nun sah ich dich wieder mitten im Sommer. Ich war so glücklich, oh, wie war ich glücklich, Lorens; meinst du, daß es doch unrecht war? Als ich dir die Hand auf die Schulter legte, sahst du auf, und du warst auch wieder jung, so jung wie ich. Dann aber war alles plötzlich dunkel, und ich lag auf der Erde und fror, als wäre es Winter. Ich schleppte mich noch so hin, weil die Kornernte gerade anfing, und dann wurde ich krank.«

Lorens hob seine schwere Hand und strich ihr unbehilflich über das Gesicht, aber keines Kindes samtweiche Liebkosungen hätten ihr süßer sein können. Nach einer Weile fragte er:

»Und weshalb tat Maren dies für dich?«

»Jee, Lorens –« antwortete Inge niedergeschlagen; »sie wollte es nicht für umsonst tun.«

»Das kann ich mir deuten; was gabst du ihr dafür?«

»Ein Versprechen.«

»Hast du dich gebunden?« fragte er hastig.

»Oha, nein, da ist kein Hexenkram dabei, Lorens, da kannst du dich heilig drauf verlassen. Sie wollte, daß ich Peter Taken zum Strandvogt machen sollte. Aber das konnte ich doch nicht. Da versprach ich ihr, daß ich für Nis ein Wort einlegen würde, wenn wieder ein Strandvogt für Rantum eingesetzt werden sollte. Ich dachte nicht, daß du etwas damit zu tun haben würdest, aber nun liegt das alles wohl bei dir. Bist du böse, Lorens? Es braucht wohl nie wieder ein Strandvogt nach Rantum zu kommen; du machst es gewiß allein besser. Dann bin ich auch nicht an Maren gebunden, glaube mir das nur, Lorens, aber – tu' ihr nichts!«

Sie schluchzte noch einmal leise auf, dann war sie plötzlich eingeschlafen, Aber Lorens lag noch lange wach und grübelte. Am Ende war es nicht einmal das Dümmste, Maren Taken den eigenen Sohn zum Aufpasser zu bestellen; er wollte doch ein Auge auf ihn haben. Endlich schlief er auch ein, aber früh weckte ihn der Gedanke an die eigene Mutter wieder auf. Da war es völlig mit dem Schlaf vorbei. Leise stieg er aus dem Bett, ging aus dem Hause und lief den Strand hinunter. Aber der Seewind machte ihm den Kopf nicht klarer, und ganz zermürbt kam er um Mittag wieder heim.

Inge hatte schon nach ihm ausgeschaut. Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn in die Stube. Draußen wirtschafteten die Mädchen mit Lachen und Schwatzen.

»Ich habe den ganzen Morgen an Mutter gedacht,« sagte Inge und schlug den Blick zu Boden, als schämte sie sich, ihn an die verflossene Nacht zu erinnern. »Was meinst du, wenn wir sie zu uns nähmen? Ich habe mehr Zeit als Töhl, und den Mädchen sagen wir nur, daß es Töhl zuviel wird.«

So kam Gondel Petersen zu ihrem ältesten Sohn ins Haus. Sie tat es nicht gern, aber er sagte ihr kurz, daß er sie wegen versuchten Strandraubes vor das Petri Paulthing bringen würde, wenn sie nicht täte, wie er wollte. Sie sah aber seinen Augen an, daß er es ernst meinte; da fügte sie sich mürrisch. Inge räumte ihr die Kellerstube ein, in der sie so warm hinter der Küche saß, und tat alles, um ihr das Haus heimisch zu machen. Bei Töhl hatte Gondel tüchtig zupacken müssen, wenn sie der Schwiegertochter nicht in die Dünen entwischen konnte. Inge ließ sie nur arbeiten, soviel sie mochte; wozu waren denn die jungen Mädchen da? Aber sie paßte scharf auf, daß die Alte nicht allein aus dem Hause ging. Da wurde Gondel mucksch, saß im Herdwinkel und rührte sich nicht, so daß sie bald faul und krank wurde.

Inge hatte sich nicht ganz leicht zu diesem Schritt entschlossen. Die schmutzige und zänkische Schwiegermutter war ihr in der Seele zuwider; sie hatte Niggels seinerzeit weniger ungern ins Haus genommen. Aber nun sie selbst die Kleider der Alten sauber halten und in der Kammer hinter ihr drein kramen konnte, nahm das Ungeziefer allmählich ab. Auch hatte Gondel wenig Gelegenheit zum Zanken, da alle freundlich zu ihr waren; und endlich kam noch eines dazu, daß Inge sich ihres Entschlusses, die Alte ins Haus zu nehmen, gar freute: Lorenz blieb mehr daheim. Wohl lief er noch bei jedem Sturm hinaus, und oft nachts noch einmal, wenn er am Tage Spuren von einem Schiffbruch draußen in See gefunden hatte. Aber die quälende Unruhe war doch von ihm genommen; und als mitten in der Ernte ein paar schöne stille Tage einfielen, an denen nur ein sanfter Ostwind vom Festland herüberwehte, half er den Mädchen von früh bis spät im Korn Und blieb auch nachts daheim – »was sollte wohl bei Ostwind auf den Strand kommen?«

An jedem Thingtag klagte Lorens aber dem Landvogt die Ohren voll über den langen Hörnumer Distrikt; und nach einigen Jahren erreichte er wirklich, daß Nis Taken als Strandvogt für Rantum eingesetzt wurde. Das geschah, als König Friedrich in den Herzogtümern eine gleichmäßige Strandordnung einführte, die gewiß nicht zum Schaden der königlichen Kasse diente, aber deren Durchführung eben der strengeren Kontrolle wegen mehr Beamte erforderte. Nis Taken erfüllte alle Hoffnungen, die Lorens in ihn setzte. Er hatte scharfe Augen und Ohren und wußte sie zu brauchen. Lorens zog ihn auch zu seiner Ansicht herüber, daß ein tüchtiger Stockhieb meist wirksamer wäre als ein langes Klageverfahren. Es gab nicht wenige unter denen, die gern strandjen gingen, die des Herrn Strandinspektors Stock auf dem eigenen Rücken oder seine wuchtige Hand am eigenen Kopf zu spüren bekamen; denen verging allmählich der Geschmack an den Lockspeisen, die ihnen der Teufel auf den Strand warf. Die Leute hatten auch nicht mehr soviel Zeit zum Strandlaufen wie früher. Für gutgeschulte Seeleute wurde der Arbeitsmarkt von Jahr zu Jahr besser; was war da natürlicher, als daß die Eltern auf gute Schulung der Söhne schon vor der Schiffsjungenzeit immer mehr Wert legten. Es gab bald viele, die schon im zehnten Lebensjahr fließend lesen und schreiben konnten, was Mutter Gondel bei Lorens noch als Hexenwerk angesehen hatte. Waren aber die Junggäste, die schon regelmäßige Reisen machten, über Winter daheim, so ging das Lernen erst recht von neuem wieder an, denn nun hatten sie unterwegs erst gesehen, wieviel ihnen noch fehlte. So kam es, daß den Syltern die See schließlich wichtiger dünkte als der Strand.

König Friedrich IV. starb, und Christian VI. faßte das Ruder. Ein Jahr nach seiner Thronbesteigung gab er eine neue Verordnung in betreff der Enrollierung zu Kriegsdiensten von den Seefahrern der Westseeinseln und Halligen. Dadurch gewannen die Insulaner die Freiheit, unbehindert zur See zu fahren, wann und wohin sie wollten. In dem Falle aber, daß der König sie in Kriegszeiten für seine Flotte brauchen würde, sollten sie die angeforderte Mannschaft selbst wählen. Von allem Landsoldatendienst aber wurden sie durch diese Verordnung befreit. Es war ein kluger Schachzug, den der König mit diesem Erlaß getan hatte. Die Insulaner empfanden das Verständnis für ihre Art, das sich darin aussprach, und noch unter der Regierung Christians VI. kam es dahin, daß einzelne nordfriesische Seeleute in Flensburg, Kopenhagen und Drontheim Heuer nahmen. –

Friedlich zogen die Jahre an Lorens Jens Grethen vorüber und rundeten sich zu Jahrzehnten. Wilde Stürme gingen über die Insel hin, und hohe Fluten richteten manches Unheil an. Der Krieg gegen die Strandräuber flackerte in jedem Notjahr von neuem auf. Aber im Herzen des Lorens Hahn lebte ihm ein fröhlicher Frieden, und auch in seinem Hause herrschte er. Seine Mutter starb, einige Jahre, nachdem er sie zu sich genommen hatte. Seine Töchter heirateten eine nach der andern und gingen aus dem Hause. Und endlich blieb er mit Inge allein, wie sie als junge Eheleute begonnen hatten. Sie wuchsen so eng zusammen, daß sie keiner Worte mehr miteinander bedurften. Einer wußte des andern Gedanken, und wenn sie beisammen saßen, sprachen sie durch Stunden kein Wort, und doch stand jedem des andern Herz offen, und er las darin die Antworten auf seine eigenen Fragen.

Lorens Jens Grethen erlebte noch, daß Matthis Matthißen, der älteste Sohn des Landvogtes von Sylt und Osterlandföhr, in die Sylter Landvogtei einzog, während sein Vater auf Föhr blieb. Aber Lorens erlebte auch noch den furchtbaren Tag, an dem das Schmackschiff des Teide Bohn von Morsum mit neunzig Sylter Seefahrern vor Rantum scheiterte. Vierundachtzig von ihnen ertranken, und durch manchen Tag und manche bittere Nacht war Lorens mit Nis Taken und vielen Helfern mit dem Bergen der angetriebenen Seeleichen beschäftigt. Herzzerreißend war der Anblick der langen Wagenzüge mit toten Männern und weinenden Weibern. Nach diesem Unglück alterte Lorens Jens Grethen schnell. Wohl sah man hier und da noch seine lange, schlenkerige Gestalt auf dem gewohnten Wege nach den Dünen, aber meist blieb er nun still im Hause, lauschte mit freundlichem Gesicht dem Gebabbel der Enkelkinder oder saß mit seiner Pfeife bei Inge in trauter Aussprache ohne Worte. Am 7. März des Jahres 1747 starb er im Frieden mit sich und den Geistern, die ihm bis zuletzt nahe gewesen waren; er hatte ein Alter von achtundsiebzig Jahren erreicht.

Inge, seine Frau, überlebte ihn noch um zwölf Jahre; aber sie merkte kaum, daß er von ihr gegangen war. Sie sprach zu ihm in ihrem Herzen, und er antwortete ihr wie in den letzten Jahren seines Lebens – ohne Worte. Nach ihrem Tode übernahm Inken, die jüngste Tochter, das väterliche Haus. Mit ihren Schwestern öffnete sie den Geldkeller, und sie teilten sich in das Erbe, indem sie sich gegenseitig die Silberlinge in Scheffeln zumaßen.

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