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Der Steuermann

Viermal fuhr Lorens der Hahn als zweiter Steuermann auf dem »Koning Salomon«, zweimal als Harpunier. Dann bedankte sich Engelbert Jans für die See, kaufte sich bei Blankenese ein kleines Haus und sah sich von nun an den »Koning Salomon« nur noch vom Sülberg aus mit dem Kieker an, wenn er im Frühjahr schmuck die Elbe hinabfuhr und im Herbst schmierig wieder heimkam. Mit seinem Nachfolger aber konnte Lorens sich nicht recht stellen. Der war raffig aufs Geld, schonte nicht Schiff noch Volk, nur um eine Pinte Robbentran mehr heimzubringen, und hielt den Kajütswächter an, den flacheren Löffel zu nehmen, wenn es galt, die Ranzion auszuteilen; er sparte und knauserte, daß es schon nicht mehr schön war.

Im Herbst ging Lorens von Bord mit der festen Absicht, nicht wieder mit dem alten Filz zu fahren, obgleich es ihm leid war, David Worms zu verlassen. Als er dann zum Petritage – »ganz zufällig« – nach Föhr kam und dem glücklichen Matthis vor die Füße lief, fragte er ihn bautz vor den Kopf, ob er ihn wohl als ersten Steuermann nehmen möchte. Matthis Peters kniff ein Auge zu:

»Willst wohl bei mir in die Lehre gehen? He – he – bist mir lang schon zu klug geworden, mein Jüngelchen.«

Das »Jüngelchen« stand ruhig vor ihm – ein hochgewachsener Mann, mager, sehnig, wie die meisten Grönlandfahrer, mit einem Paar heller, scharfer Augen, die tief unterm breiten Stirndach lagen, mit starker gerader Nase und schmalen, festgeschlossenen Lippen. Allerdings sah der ganze Mann mehr nach Befehlen als Gehorchen aus, aber als Bestmann brauchte er das Gehorchen ja auch nicht mehr zu üben.

»Hm – hm –« machte der glückliche Matthis und faßte die große Nase des andern schärfer ins Auge. »Eine gute Gallion ziert das Schiff; sagt man nicht so auf Sylt?«

»Ich meine,« gab Lorens ruhig zurück; »eine ehrliche Frage ist wohl eine ehrliche Antwort wert. Ich hörte, daß Euer erster Steuermann krank wurde und wohl nicht mehr zugange kommen wird. Wenn Ihr aber lieber einen Eurer Söhne –«

Matthis Peters winkte hastig ab.

»Min Jongs sin Straetfahrer Anmerkung: fahren um Gibraltar ins Mittelmeer. worden,« sagte er mit leiser Bitterkeit, ins Niederdeutsche sollend, das zu dieser Zeit schon auf Föhr neben dem Friesischen hochkam. »Grönland ist ihnen zu kalt und der Fisch zu schmutzig. Na – laß sie, jeder muß seinen eigenen Kurs wählen.« Er schnob heftig durch die Finger, dann schloß er plötzlich: »Als erster Steuermann wollt Ihr fahren, Hahn? Kommt am achten April zu Andrees Pieters; hier mustere ich mein Schiffsvolk nicht an.« –

Zwei Sommer hindurch fuhr Lorens glücklich mit dem glücklichen Matthis, und indem er Augen und Ohren aufsperrte, lernte er mehr bei ihm, als Matthis selbst zu lehren hatte. Denn vieles von dem, was Matthis Kenntnisse nannte, war einfach Erfahrung und Instinkt, das beides Matthis nicht einem andern hätte übermitteln können. Lorens aber, in dem sich Greth Skrabbels allezeit reger Verstand mit Jens Grethens bedachtsamer Überlegung paarte, suchte nach Ursachen, wenn er Wirkungen sah; fand er aber die Ursachen, so verknüpfte er sie untereinander und strickte sich endlich ein Netz daraus, in dem er wirklich vollwertige Kenntnisse fischte. Zufälligkeiten warf er über Bord. Ereignisse aber, die regelmäßig wiederkehrten, wurden ihm zu Kennungen wie die Landmarken und Seetonnen. Weshalb hatte Matthis Peters Glück, wenn er im Frühjahr gegen Alt-Grönland und Jan Mayen Kurs nahm und im Sommer auf Spitzbergen fuhr? Einfach, weil der Fisch so lief. Und weshalb lief der Fisch so? Weil seine Aasgründe um diese Zeit an diesen Orten am besten waren. Das Wasser muß dunkelgrün sein, dann enthält es das beste Walfischfutter. Lorens der Steuermann fischte sich einen Eimer voll von diesem Wasser und griff hinein und fühlte, daß er voll war von glibberigen, glamserigen, qualligen runden Dingern, die er in der Hand zerdrücken konnte. War aber das Wasser bläulich, dann lief es ihm klar durch die Finger, und niemals hielt sich der Eiländische Fisch ohne Not darin auf.

Lorens lernte, daß der Eiländische oder Westeisfisch niemals nach Island ging noch nach dem Nordkap, der Nordkaper hingegen nie nach Grönland; der folgte nicht dem dunkelgrünen Wasser, sondern den Heringen, wie auch der Finfisch tat. Wo sich aber Finfische in Mengen fanden, wurden keine Walfische mehr gespürt. Deshalb und wegen des festen und trockenen Speckes jagte Matthis Peters nur in ganz mageren Jahren dem Finfisch nach.

Alles hat seine Gründe, dachte Lorens oft, man muß sie nur finden, und seine Baken versetzen, wenn die Tiefen sich ändern. Denn die Tiefen änderten sich oft. Behauptete Matthis Peters doch sogar, daß in meist allen fahrbaren Seen von Europa die Ströme vontage doppelt so schnell liefen als vor fünfzig Jahren. Das gab natürlich auch stark veränderte Bedingungen für den Fisch. –

Im dritten Sommer, als Lorens mit Matthis Peters fuhr, hatten sie einen an Bord, der hieß Gottfried Köhler. Er stammte irgendwoher tief aus dem Binnenlande, war wochenlang gewandert, um nach Hamburg zu kommen, und hatte sich bei Andrees Pieters gemeldet, um als Schiffsbarbier auf einem Grönlandfahrer Heuer zu nehmen. Lorens hatte ihn selbst angemustert, obgleich ihm der Mann auf Anhieb nicht angenehm gewesen war. Aber im letzten Augenblick vor der Ausreise hatte der Schiffsbarbier vom »Jonas im Walfisch« – so hieß Matthis Peters Schiff – Fieber bekommen und zwar so stark, daß er unklug redete und sie ihn schleunigst von Bord schaffen mußten. In aller Eile war Lorens zu Andrees Pieters gelaufen. Da war niemand mehr als dieser Mann, dieser Gottfried Köhler mit den schwarzen Augenbrauen über der Nase.

»Gotts du Dünner, wat'n smartes Beest,« rief der Kommandeur, als Lorens ihn anschleppte, »wenn sich da das Schiffsvolk man nicht vor vergrault, Steuermann.«

»Lassen Sie sich durch mein dunkles Haar nicht abschrecken, Herr Kapitän,« sagte Gottfried Köhler. »Ich weiß wohl, daß die Nordländer im allgemeinen von blonderer Komplexion sind als wir daheim. Aber mein Lebtag hat meine Sehnsucht nach der See gestanden –«

»Halt's Maul!« sagte Matthis Peters langsam und nachdrücklich; er war ganz erschüttert von dem Wortschwall des neuen Ankömmlings. »Papiere?«

»Oh, meine Papiere sind in schönster Ordnung,« antwortete Gottfried Köhler empfindlich. »Ich bitte zu bemerken, daß ich nicht bin, was man so gemeinhin unter Schiffsbarbier versteht. Ich habe, in Breslau die Arzneikunde studiert, nur die Sehnsucht nach der See –«

»Halt's Maul!« sagte nun auch Lorens der Steuermann, und da er dem »swarten Beest« dabei gleichzeitig den entsprechenden Puff in die Rippen verabfolgte, fühlte sich dieses mehr als zuvor bewogen, der Aufforderung nachzukommen. »Jee, Kommandeur, da war sonst keiner.«

Einen Augenblick zögerte Matthis Peters noch, dann zuckte er unmutig die Achseln.

»'n Aap fürs Schiffsvolk,« brummte er; »aber wir müssen ja froh sein, daß wir die Listen abschließen können.«

Lorens nahm die Papiere und ging in die Kajüte hinunter, um den Schiffsbarbier ordnungsgemäß in die Listen einzutragen. Gottfried Köhler aber suchte sich ein stilles Fleckchen, holte aus seinem Bündel ein dickes Buch mit gelblichen Blättern hervor und schrieb darin auf, daß er nun mit dem »Jonas im Walfisch« ausreisen würde – in die See stechen, nannte er das – und dann kam noch irgend etwas danach, das beinah aussah wie »ungehobeltes Seevolk«.

Von Anfang an ahnte Lorens, daß er mit diesem Gottfried Köhler nichts als Ärger und Schererei haben würde. So kam es auch. Sie waren noch kaum hinter Neuwerk, da fütterte der Schiffsbarbier schon die Fische, und als sie hinter Helgoland lagen, in Lee, an einem Ostertage, der die See mit Butter schmierte, daß sie glatt war wie die Binnenalster, da kam dieser verdeubelte Studiosus – denn so nannte sich der Schiffsbarbier – wahrhaftig zu ihm, Lorens Petersen Hahn, dem ersten Steuermann, um ihm mitzuteilen, daß er seine schwere Seekrankheit glücklich überstanden hätte und sich von nun an wohl als seefest betrachten dürfte.

Lorens sagte nichts darauf, nicht einmal: Halts Maul! Er sah den Unglücksmenschen nur an, aber mit einem Blick, der diesen doch veranlaßte, sich mit höflicher Entschuldigung zurückzuziehen.

»Wat's denn dat für'n dwatsches Dirt?« fragte Jan Ölk, der soeben als Lotse an Bord gekommen war und sich in dieser nobligten Gesellschaft doch auch hochdeutsch ausdrücken wollte. Aber Lorens antwortete auch ihm nicht; zu mächtig fraß der Arger in ihm.

Danach aber ging fürs erste alles besser, als Lorens gefürchtet hatte. Gottfried Köhler gewohnte sich wirklich so halbwegs ein. Die Spuckerei horte auf und er tat ordentlich seinen Dienst wie die andern Leute. An schönen Tagen saß er sogar mehr als nötig an Deck und kuckte auf die See hinaus, so daß Lorens mehr als einmal der Richtung seines Blickes folgte, um festzustellen, ob etwa ein Fisch Gottfried Köhler zu Ehren auf den 56. Grad heruntergekommen wäre. Es zeigte sich aber nichts als ein paar Robben, die im Rübentanz sprangen. Einmal stolperte Lorens sogar über ein Paar Beine an ungehöriger Stelle, und als er sich zornig nach dem Eigentümer umsah, stand Gottfried Köhler neben ihm auf und sagte höflich:

»Verzeihung, Herr Steuermann, ich hatte mich vergessen, es ist so schön –«

»Schön?« wiederholte Lorens verblüfft.

Gottfried Köhler lächelte überlegen.

»Das Farbenspiel von Meer und Himmel, Herr Steuermann. Sie sind es gewöhnt, dies himmlische Blau, dies Gold der untergehenden Sonne –« und da Lorens ihn nur verbiestert anstarrte, fuhr er verschämt fort: »Ich vergaß mich, Herr Steuermann – ich träumte – ich dachte an mein weißgewaschenes Seelchen –«

Da machte der Herr Steuermann, daß er weiterkam.

Bisher aber war doch alles noch so einigermaßen gegangen. Dann jedoch kamen sie ins Eis, und da erklärte Gottfried Köhler dem Kommandeur, daß er mit diesem geringen Quantum Schlaf nicht auskommen könnte – »denn ich bin ein studierter Mann!«

Matthis Peters betrachtete den Schiffsbarbier in Ruhe von oben bis unten.

»Hättest auf Vorrat schlafen sollen, mein Jüngelchen,« antwortete er gelassen. »Gewöhne dich nur daran; kommen wir an den Fisch, gibt es noch weniger Schlaf.«

Es war aber ein leises Grollen in seiner Stimme, so daß selbst Gottfried Köhler nichts weiter zu sagen wagte.

Und sie kamen an den Fisch. Der Ruf: »Waal – Waal!« der alle andern mit Leben erfüllte, der dem ganzen schläfrigen Schiffsvolk das Jagdfieber durch die Adern trieb, der wurde dem Binnenländer bald zur Qual. Er schlief mit dem Hackmesser in der Hand ein, er schlief in der Schaluppe am Riemen. Er war glücklich, wenn der Fisch fortlief, ehe sie ihn festmachen konnten, und freute sich wie unklug, wenn irgend etwas den Kommandeur veranlaßte, die Schaluppen erst gar nicht streichen zu lassen; noch unkluger aber war es von ihm, diese Freude ganz unverhohlen zu zeigen. Das Schiffsvolk murrte.

»Der schwarze Teufel verhext uns noch den Fisch,« brummte einer, und niemand widersprach.

Es kam nun so, daß sie einen schönen Fisch binnen hatten und nach guter Mahlzeit eben unter Deck kriechen wollten, als vom Krähennest her wieder der jauchzende Ruf flog:

»Waal – Waal –« und gleich danach das scharfe Kommando:

»Fall – fall – over all!«

Die Leiber der todmüden Leute strafften sich, die Fäuste griffen nach den gewohnten Geräten, nur Gottfried Köhler blieb sitzen, tief im Schlaf versunken. Lorens stieß ihn hart mit dem Fuß.

»Fall – fall – over all!«

Der Schläfer fuhr hoch.

»Laßt mich weiter schlafen!«

»Bist wohl unklug, Mann,« antwortete Lorens ruhig. »Deine Schaluppe wird gestrichen. Mach fort, daß du an deinen Platz kommst.«

Da sprang Gottfried Köhler auf und schlug nach ihm. Matthis Peters legte ihm schwer die Hand auf die Schulter.

»Wahr den Steuermann!«

»Steuermann hin – Steuermann her –« schrie Gottfried Köhler außer sich. »Schinder seid ihr, Menschenschinder! Ja, du auch, du Hund, du gemeiner –« und er griff nach einem Beil, das ihm in Reichweite lag.

Er wollte auf den Kommandeur eindringen, aber ehe er nur die Hand heben konnte, war er schon gefesselt und log im Roof, über ihm scholl noch einmal der Schrei:

»Fall – fall – over all!« Dann setzte das gewohnte Getriebe ein, und in doppelter Eile folgten die Schaluppen dem Fisch.

Sie bekamen ihn ein, und in den nächsten Tagen flenßten sie ihn und machten ihn ab. Gottfried Köhler wieder mitten unter ihnen, denn sie konnten das Paar Hände nicht entbehren. Aber es war kein Leben, keine Freude am Werk diesmal zu spüren. Es lag wie ein Druck über dem ganzen Volk vom Kommandeur bis zum Hund hinunter. Wenn die Strafe auch aufgeschoben war – aufgehoben konnte sie doch nicht werden, einfach um der Disziplin willen nicht. Das Schlimme aber war, daß Gottfried Köhler nicht einmal Reue zeigte, sondern im Gegenteil tat, als wäre er im Recht. Wenn ihn der Schlaf ankam, legte er sein Hackmesser einfach beiseite, ging unter Deck und schlief einen Stremel. Einmal hatte ihn der Kommandeur noch gewarnt:

»Wahr dich, Gottfried Köhler!«

Aber der Aufsässige hatte nur den Kopf zurückgeworfen und tat nach wie vor. Das Schiffsvolk spielte blind und taub. Viele von ihnen waren schon öfters mit Matthis Peters gefahren und wußten, daß er manches durchgehen ließ, wenn er gerade im Glück war. Und er war augenblicklich stark im Glück: sechs Fische hatten sie schon binnen, und die beste Zeit stand noch bevor. Trotzdem war ihnen allen ganz klar, daß er Gottfried Köhler schwer bestrafen mußte, sobald nur erst die dringendste Arbeit getan war; ein Waschweib war der glückliche Matthis denn doch nicht. So kümmerte sich niemand mehr darum, ob der Barbier so oder so tat; sie mieden ihn alle wie einen Gezeichneten. Er aber verstand sie nicht und glaubte, dem ungehobelten Seevolk durch sein männliches Auftreten, wie er es bei sich nannte, gewaltig imponiert zu haben.

Als der Fisch in den Fässern steckte und das Deck einigermaßen klar war, ließ der Kommandeur den Barbier in die Kajüte rufen. Da saß er mit allen Offizieren zusammen in dem schmucken Raum, der Lorens einst so lockend erschienen war; nun war er ihm längst vertraut, aber er saß immer noch gern am weißgedeckten Tisch. Die Männer hatten gleichgültige Gesichter, ruhig, kalt, so daß Gottfried Köhler den Eindruck gewann, daß man sein Vergehen wohl nicht schwer nehme. Matthis Peters selbst eröffnete sofort das Verhör.

»Bekennst du dich schuldig des Aufruhrs und der Meuterei?«

»Durchaus nicht, Herr Kommandeur,« entgegnete der Studiosus zungenfertig. »Ich vertrat nur mein Menschenrecht. Denn der Schlaf ist von Gott dem Menschen gegeben, damit er sich darin stärke für seine Arbeit. Ihr aber mordet den Schlaf und mordet damit auch den Menschen –«

Matthis Peters hob gelassen die Hand.

»Sprecht, Lorens Petersen Hahn, was hat der Mann nach unserm Recht und Gesetz verwirkt?«

Lorens sah mit Unbehagen auf den jungen Menschen. Er konnte die Erinnerung daran nicht los werden, daß er selbst es gewesen war, der ihn an Bord gebracht hatte.

»Ein Wort zuvor, Herr Kommandeur,« sagte er aus dieser Erinnerung heraus gegen allen Brauch. »Es war meine Schuld, daß ich einen unbefahrenen Mann an Bord brachte. Er wird Abbitte tun, wenn er sein Unrecht einsieht. – Du sagst, du willst Arzt werden und kranke Menschen heilen,« wandte er sich an den Studiosus. »Dann wird es auch bei deiner Arbeit Nächte geben, in denen es heißt: Fall – fall – over all! Denn die Krankheit fällt den Menschen wohl auch unversehens an und fragt nicht danach, ob der Arzt müde ist.«

Lorens sprach langsam – bedachtsam – er wunderte sich selbst, daß die andern ihn ruhig ausreden ließen. Als er aber merkte, daß Gottfried Köhler den Kopf sinken ließ, als machte ihn der Vergleich mit dem eigenen Beruf betroffen, nützte er den Augenblick, indem er gegen ihn schloß:

»So wirst du Abbitte leisten und Reue tun nach dem Brauch.«

Der Studiosus hob schnell den Kopf.

»Gehe ich dann straffrei aus?«

»Das ist unmöglich um des Beispieles willen für die andern, aber der Herr Kommandeur wird dann Gnade vor Recht gehen lassen.«

Matthis Peters nickte bestätigend.

»Drei Tage an den Mast und jeden Tag fünfzig –«

»– Prügel?« schrie Gottfried Köhler auf. »Prügel? Nie – niemals! Dann lieber kielholen, wie das Schiffsvolk sagt, daß meine Strafe sein wird.«

Matthis Peters schwoll die Zornader an der Schläfe, aber er blieb äußerlich kalt.

»Wie du willst,« sagte er hart. Dann legte er die Hand auf die große Bibel und tat den Spruch: »Kielholen, bis er Abbitte leistet; dann drei Tage an den Mast und fünfzig Stück täglich.«

Der Spruch wurde am gleichen Abend noch ausgeführt. Aber als Gottfried Köhler zum erstenmal unterm Kiel durch wieder an Deck geholt wurde, war sein Gesicht blutüberströmt, und ein tiefes Loch am Hinterkopf zeigte, daß die Gewichte an seinen Füßen nicht schwer genug gewesen waren; so hatte er sich am Schiffskiel die Gehirnschale eingestoßen. Als er vor den Kommandeur gebracht wurde, um Abbitte zu leisten, riß er noch einmal die Augen auf.

»Wahr dich, glücklicher Matthis! Mein weißgewaschenes Seelchen wird mit deinem Glück davonfliegen.«

Dann fiel er um und war tot.

Sie lagen damals so nahe der Südbay von Spitzbergen, daß sie zur Linken den Berg sahen, den man Bienenkorb nennt, daran ein anderer, Teufelshuck. Der war mit Nebel bedeckt und der Wind ging darüber hin, daß es aussah, als rauchte er. In der Mitte des Hafens, recht vor diesen beiden Bergen, liegt eine Insel, das Tote-Mannes-Eiland. Dorthin riemten sie am andern Morgen den toten Mann, und da der Boden harter Fels ist, in den man nicht eindringen kann, ist es Sitte, daß man den Toten nur mit Steinen bedeckt, damit ihn die Vögel nicht fressen. Die Luft ist aber so, daß dortzulande nichts verwest, und es würden von Sommer zu Sommer zu viel Tote dort angesammelt werden, wenn nicht im Winter Füchse und Bären vom Lande herüber kämen und die Toten des Sommers fräßen.

Als sie Gottfried Köhler so beigesetzt hatten zu den andern toten Männern, die schon hier und da unter Steinhaufen lagen, sprach Lorens ein Vaterunser; und die Männer nahmen einen Augenblick die Kappen ab. Bei den Worten: »Und vergib uns unsere Schuld –« wurde seine Stimme schwer von einer unklaren Empfindung, und als die Männer sich wieder bedeckten, brummte einer:

»Er hat uns auch alle belämmert mit seinem weißgewaschenen Seelchen.«

»Wohl, wohl –« antwortete Lorens unwillkürlich; »nur wenn wir alle eine Natur hätten, könnten wir alle in einem Hause wohnen.«

»Hast recht, Steuermann,« gab der Mann zurück; »wer im Binnenlande geboren ist, soll nicht auf den Walfisch fahren.«

Das war Gottfried Köhlers Nachruf. Danach wäre er wohl schnell vergessen worden, wenn: nicht – ja, wenn nicht –

Es waren zuerst nur Kleinigkeiten, die Lorens stutzig machten. Von einem Fisch, den sie an Steuerbord festgemacht hatten, fraßen die Haifische wohl an die fünfzehn Quarteten Speck fort, während sie einem andern nachjagten. Der andere war eben in dem Augenblick, da sie die Schaluppen wieder an Bord hatten, nahe beim Schiff aufgetaucht. Sie hatten sofort wieder vier Schaluppen gestrichen, um ihm nachzusetzen. Zwei Holländer lagen wohl eine gute Meile entfernt am gleichen Feld. Davon kam auch eine Schaluppe angeriemt. Das Schiffsvolk vom »Jonas im Walfisch« wendete große Mühe auf den Fisch, aber er tauchte fort und kam dann recht vor des Holländers Boot wieder auf, so daß der Holländer die Harpune werfen und an ihm festraken konnte. Das war so recht das Brot vorm Munde weggerissen und schmerzte sie nicht wenig, und als sie dann zum Schiff zurückkamen, merkten sie, was die Haifische inzwischen getan hatten.

Danach empfand Lorens bald mit Schrecken, daß der glückliche Matthis anfing unsicher zu werden: Er vertraute seinem guten Glück nicht mehr so fest wie bisher, wagte nicht recht etwas, sondern segelte nur so zwischen Wasser und Wind hin. Dann wieder wollte er durch doppeltes Zupacken gut machen, was er etwa versäumt hatte und kam endlich gerade dadurch von der Brandung in den Malstrom.

Wann das Eis hart zu treiben ankommt und man ist in der Gegend von Spitzbergen, so segeln die Schiffe gern in die Hafenbaien oder Reviere. Die sichersten sind der Behaltene Hafen, die Süd- und die Nordbay. Der Wind empfängt einen etwas unfreundlich, wenn man darein segelt und braust über die dürren Berge mit vielen kleinen Wirbeln, aber vor dem Druck des Eises ist man hierinnen ziemlich sicher; so liegen manchmal bis zu dreißig Schiffen in den Revieren beieinander.

Nun begab sich, daß das Eis zu treiben begann, als sie eben den siebenten Fisch in den Fässern hatten. In andern Jahren wäre da Matthis Peters als erster in die Nordbai gelaufen, von der er nicht eben weit entfernt war. Sein Glück hatte er nicht zum wenigsten dem Umstand zu danken gehabt, daß er es immer in Ruhe genossen hatte nach dem alten Wort: Einer zur Zeit ist guter Fang. In diesem Jahr aber sah er nicht die Fische an, die er binnen hatte, sondern nur die, die ihm entlaufen waren. So schmerzte ihn immer noch das Stück Brot, das ihm der Holländer vorm Munde weggerissen hatte, und er meinte, er dürfte nicht in Ruhe und Sicherheit ein paar Tage aufliegen.

So ließ er alle Segel setzen, um aus dem treibenden Eis hinauszukommen. Am ersten Tage ging es auch noch gut; am zweiten aber schlossen sich die Flarden und Schotsen schon enger um den »Jonas im Walfisch«, und dann kamen sie an ein großes Feld, das fest zu liegen schien und an dem sich das treibende Eis staute. Da war es drei Glas, und als der Wachthabende fünf Glas meldete, war das Schiff schon so vom Eise besetzt, daß Matthis Peters Befehl geben mußte, Schaluppen und Lebensmittel aufs Feld zu schaffen. Sie hatten sich aber kaum mit drei von den Schaluppen aufs Eis gerettet, da kam von neuem ein drängendes Schieben in die Massen. So sahen sie ihr reichgeladenes Schiff mit vollen Segeln und zwei Schaluppen bis über die Spitzen der Mastbäume und Flügel auf einmal unter das Eis geschoben.

Der glückliche Matthis biß die Zähne zusammen, daß sein Gesicht schrecklich anzusehen war. Aber er jammerte und klagte nicht, sondern beriet mit Steuerleuten und Harpunieren die nächsten Maßnahmen, um wenigstens das Schiffsvolk zu retten. Ach, da war wenig zu tun. Sie konnten nur, was sie an Schiffsvolk und Lebensmitteln hatten, möglichst gerecht auf die drei Schaluppen verteilen. Dann mußte die Besatzung einer jeden sehen, wie sie irgendwo an offenes Wasser käme. Matthis Peters übernahm das Kommando der ersten Schaluppe; die zweite befehligte Lorens der Hahn; die dritte der älteste Harpunier. Da aber nach dem Aussehen des Himmels das ganze Schiffsvolk einig war, daß sie im Südost noch am ehesten offenes Wasser erwarten dürften, blieben sie alle fürs erste beisammen. Mit großer Anstrengung schleppten sie die schweren Boote über das holperige Eis und erreichten so am zweiten Tage gegen Abend den Rand des Feldes. Vor ihnen lag ein breiter Streifen offenen Wassers, in dem hier und da emporspritzende Strahlen die Anwesenheit von Walfischen verrieten. Bei diesem Anblick sank Matthis Peters ganz in sich zusammen; er setzte sich auf den. Rand seiner Schaluppe und stützte den Kopf in die Hände.

»Was wäre es für eine Schwierigkeit –« sagte er seufzend; »hätten wir nur ein anderes Schiff, wir fänden Gelegenheit genug, all diesen Schaden zu ersetzen.«

»Wohl, wohl, Kommandeur,« antwortete Lorens gelassen, bei sich aber dachte er: Hätte-gefangen und fangen-können sind nicht gut auf den Tisch zu setzen. Nach einer Weile, da er sah, daß Kommandeur und Schiffsvolk immer nur nach den blasenden Fischen starrten, sagte er laut: »Es helfen keine schönen Worte gegen einen Walfisch, Kommandeur; wir müssen, wohl sehen, an ein Schiff zu. kommen. Am besten halten wir wohl hier unterm Felde weiter auf den West.«

»West?« Matthis schüttelte den Kopf. »Um den Ost meint Ihr wohl, Steuermann?«

Sie konnten sich nicht einigen. Der Führer der dritten Schaluppe schloß sich der Meinung des Kommandeurs an, aber Lorens blieb hartnäckig auf der seinen bestehen und merkte auch bald, daß seine Leute fast alle auf seine Seite traten.

»Tut, was Ihr wollt,« sagte Matthis Peters endlich trübe. »Wenn einer von Eurer Schaluppe zu uns kommen will und einer von den unsern zu Euch, soll es mir recht sein. Aber wie wir dann einmal geteilt haben, muß es auch bleiben, und wenn wir noch einmal zusammentreffen sollten, dürft Ihr keinen Proviant nachfordern.«

Zwei von Lorens' Leuten wollten lieber mit um den Ost fahren, dafür aber traten drei von den andern zu ihm über, und da die Bemannung so wie so nicht gleich geteilt werden konnte, mußte Lorens sie auch nehmen. Dann teilten sie noch einmal den Proviant und trennten sich unter Schluchzen und gegenseitigen Segenswünschen. Matthis drückte Lorens noch einmal die Hand.

»Du hast kein Vertrauen mehr zu meinem Glück,« sagte er leise. »Kräh nicht zu stolz, du Hahn, wenn du erst hoch auf dem Mist stehst. Auch der Kapitän kann einmal über Bord fallen.«

So trennten sie sich. Lorens ließ seine Schaluppe zu Wasser bringen, und sie nahmen Kurs unterm Feld auf den West. Das Wetter war still, aber diesig, und am folgenden Tage nahm ein starker Nebel ihnen alle Sicht. Sie ruderten aber stetig weiter, nach Möglichkeit Kurs haltend, und trafen am Abend des dritten Tages richtig auf einen Grönlandfahrer, auf den sie strack zuhielten. Es war »de Eendracht« von Bremen. Der Kommandeur wollte sie aber keineswegs aufnehmen, und als sie ihre Schaluppe an seinem Schiff festmachten, um sich mitschleppen zu lassen, wurden sie mit brennenden Hölzern begrüßt, so daß sie genötigt waren, wieder loszuwerfen.

Danach wurde das Schiffsvolk sehr verzagt. Sie hatten, als sie »de Eendracht« in Sicht bekamen, ein gut Teil Proviant verzehrt, um recht Kraft zum Rudern zu bekommen. Nun mußten sie fürchten, bald zu verhungern. Glücklich machte Lorens noch ein Feld mit Walrossen aus, und als sie eins dieser Tiere erlegt hatten, es ihnen auch gelungen war, ein Feuer von Treibhölzern anzuzünden, sie also abkochen und eine tüchtige Mahlzeit halten konnten, faßten sie wieder Mut. Einen Tag lang lagen sie noch an diesem Felde fest, dann wagten sie sich wieder auf die offene See und fanden nach mehreren ängstlichen Tagen und Nächten endlich ein kleines Schiff, »die vier Brüder« genannt, das schon volle Fahrt hatte und sie in aller Schleunigkeit auf die Heimreise mitnahm.

Mehrere von den Leuten fühlten nun, da sie in Ruhe kamen, starke Schmerzen in den Beinen. Als der Barbier die Füße besah, urteilte er, sie möchten wohl erfroren sein. Er machte von Stund an Salzwasser von Pökelfleisch warm, goß es in eine Balje und hieß sie sich mit den Füßen da hineinsetzen. Als sie eine Weile lang also darinnen gedünstet hatten, fühlten sie noch mehr Schmerzen, welches dem Wundarzt noch mehr Hoffnung auf Genesung gab. Hernach, da er das tote Fleisch fortgeschnitten, verband er ihre Füße mit dienstlichen Arzneien, wodurch sie in wenig Tagen sofern gesund wurden, daß sie wiederum Dienst tun konnten. Lorens aber, der nicht gleich den andern die Riemen geführt, sondern still am Ruder gesessen hatte, waren die Beine noch ärger erfroren als den andern. Auch ihm schnitt 8er Barbier alles tote Fleisch fort und brauchte kräftige Arzneimittel, so daß nach achtzehn Stunden eine Scheidung erfolgte und das faule Fleisch wegfiel, und indem er damit fortfuhr, war der Mann in zehn bis zwölf Tagen außer Gefahr.

So fanden die Schiffbrüchigen auf den »vier Brüdern« nicht nur christliche Aufnahme, sondern auch menschenfreundliche Pflege, und da es nun täglich wärmer wurde, erholten sie sich schnell. Am zwanzigsten Julius, als es begann zu tagen, sahen sie Helgoland Süden zum Osten vor sich. Dort nahmen sie einen Lotsen ein. In den nächsten Tagen war es schön Wetter, warm Sonnenschein den ganzen Tag. Sie segelten vor der Elbe, machten dann bei der roten Tonne fest, um die Tide abzuwarten. In der Nacht gab es Donner und Blitz, regnichtes Wetter dabei, aber andern Tages machten sie schon im Hamburger Hafen fest, und die Schiffbrüchigen verabschiedeten sich mit Tränen des Dankes von ihren Rettern.

Lorens ging zunächst zu dem Reeder, um Verklarung abzulegen und einen Brief zu überbringen, den Matthis Peters ihm mitgegeben hatte für den Fall, daß Lorens eher als er selbst nach Hamburg kommen sollte. Der Herr war unfreundlich und hielt augenscheinlich nur mit Mühe ganz ungerechtfertigte Vorwürfe zurück. Zuletzt sagte er noch, daß Frau Peters von Föhr schon in Hamburg wäre, um hier ihren Mann zu erwarten.

»Es handelt sich um Lösegeld für einen Sohn, der den Malouins in die Hände gefallen, ist,« erklärte er; »Matthis Peters hat wohl mehrere Söhne, die Straetfahrer geworden sind?«

Lorens nickte nur und ließ sich die Leute nennen, bei denen Antje Peters in Hamburg wohnte. Wo blieb das Glück des glücklichen Matthis?

Er suchte Antje Peters auf, um ihr zu berichten, wo und wie er sich von ihrem Mann getrennt hatte. Sie war gefaßt und würdig, obgleich ihr Unglück viel größer war, als der Reeder erfahren hatte. Wohl war der vierte ihrer zwölf Söhne von den Malouins gekapert worden, die ein hohes Lösegeld für ihn forderten und sein Schiff als gute Prise betrachteten. Aber er hatte doch sein Leben gerettet und hatte selbst aus St. Malo geschrieben, daß die Gefangenschaft nicht hart wäre. Das Schiff jedoch, auf dem zwei andere ihrer Söhne fuhren, war unter Gibraltar von Marokkanern überfallen und geplündert worden und beide Söhne dabei getötet. Ein überlebender Matrose hatte ihr Nachricht gebracht.

Lorens war wie vor den Kopf geschlagen. »Wahr dich, glücklicher Matthis!« klang es in ihm nach, und ein Grausen befiel ihn, das ihn auch dann nicht verließ, als er einige Wochen später erfuhr, daß Matthis Peters selbst gesund heimgekehrt wäre.

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