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Der Ehemann

Als Lorens Jens Grethen nach vollzogener Hochzeit und Beilager aus seinem Taumel erwachte, mußte er sich erschrecklich und immer wieder von neuem die Augen reiben, so verändert erschien ihm die Welt. Da war erst einmal das Haus selbst: vor dem Hochzeitstummel so sauber und unberührt, und nun voller Rauch und Stunk und Unrat, daß Lorens es Inge nicht verdenken konnte, daß sie Wasserfluten durchströmen ließ und alle Türen aufriß. Aber freilich – so sehr gemütlich war das nicht. Lorens kam sich vor, als säße er im Freien, und hatte sich doch gerade so sehr auf das häusliche Behagen gefreut.

Da war zweitens Inge selbst, die zugriff und anpackte, wo es Not tat, anstatt sich auf seine Knie zu setzen und küssen zu lassen. Davon, meinte sie, hätte sie nun auf Jahre hinaus genug, und war stachlig und borstig wie nur eine.

Lorens erkannte sie – bei den Raben! – nicht wieder, aber ihr Wesen schüchterte ihn wahrhaftig ein, vollends als sie schon acht Tage nach der Hochzeit den ersten Streit hatten. Und der kam so: Der Stall in ihrem neuen Hause war noch leer gewesen, als sie einzogen. Eine Kuh hatte Erk Andresen ihnen versprochen, aber die sollte gerade in diesen Tagen noch kalben, damit sie zum Jölfest frische Butter haben konnten. Und Inge meinte, es wäre besser, wenn das Kalb noch im alten Stall zur Welt käme. Wenn alles gut ginge, brächte die Kuh hernach ihr Glück in den neuen Stall mit; ginge es schlechte, ließe sie ihr Unglück im alten zurück. Das leuchtete Lorens ein. Es waren aber noch drei Stände im neuen Stall, die wollte er mit Pferden füllen. Er liebte es, mit raschen Pferden flott über Land zu fahren nach Keitum zur Hauptstadt, nach Rantum und Tinnum zu den Vätern. Damit war Inge einverstanden, fand aber ein Pferd dafür genug und wollte durchaus noch zwei Kühe dafür haben.

Ein paar Tage stritten sie so hin und her. Dann zog Inge eines Morgens aus, Kuh und Kalb aus Tinnum zu holen, und als Lorens abends aus Rantum kam, wohin sie ihn für den Tag geschickt hatte, und die neuen Hausbewohner beschauen wollte, fand er wahr und wahrhaftig außer der bunten mit ihrem Kalbe noch zwei braune vor, die ihn aus sanften Augen erstaunt anglotzten. In der ersten Verblüffung wußte Lorens nicht gleich, was er dazu sagen sollte, und als er dann den Mund auftun wollte, fuhr Inge ihm schon darüber:

»Im Hause ist die Frau Kapitän!«

»Und ich – ich –« er schlug sich an die Brust, daß es dröhnte.

»Bist man Junge,« gab sie gleichmütig zurück; »wenn du ausgelernt hast, kannst du allenfalls Bestmann werden, mehr nicht.«

Damit ging sie aus dem Stall – sie hatte mehr zu tun als gelegte Eier zu bekakeln. Sie wollte ihr Haus so haben, wie Greth Skrabbel einstmals das ihre gehalten hatte. Dazu aber gehörte mehr als Küssen und Maulaufreißen über Dinge, die – nun, die sie doch nach ihrem Kopf haben wollte und an denen auch der größte Grönlandkommandeur nichts ändern würde. Lorens aber war wie vor den Kopf geschlagen. War das wirklich Inge? Seine eigene Inge, die ihm in der Hochzeitsnacht so weich und warm im Arm gelegen und so ernsthaft gesagt hatte:

»Ich habe dich lieb, Lorens, mußt auch nie eine andere so lieb haben wie mich!«

War das noch dieselbe Inge? Er versuchte, ihr abends im sichern Wandbett, als sie ihm nicht mehr entwischen konnte, noch einmal seinen Standpunkt klar zu machen, daß er der Kommandeur wäre und nicht sie. Aber da gähnte sie nur ausdrucksvoll und zog sich das Bett über die Ohren:

»Uuuh – bin ich müde! Gute Nacht auch –«

Und ehe er ein weiteres Wort finden konnte, hörte er an ihren ruhigen, tiefen Atemzügen, daß sie wahrhaftig eingeschlafen war – ihm vorm Munde weg sozusagen. Als er aber nach ihr tastete, um zu fühlen, ob sie ihm auch nicht Spijökenkram vormachte, da fühlte er, daß sie durchaus nicht weich und warm war wie sonst, sondern kühl wie ein glatter Aal. Ganz verbiestert zog er seine Hand zurück und tat das einzige, das ihm zu tun übrig blieb: schlief auch ein.

Einmal – zweimal – wenn Lorens die Kühe im Stall sah, wollte er noch etwas darüber sagen, aber Inge war dann nicht gerade zur Hand oder hatte andere Dinge im Kopf. So kam er drum herum. Da fing er an, sich über sich selbst zu wundern. Das Haus war verwandelt – Inge ebenfalls – er selbst aber nicht minder. Wie? War er nicht ein altbefahrener Grönlandkommandeur? Hatte er nicht ein halbes Hundert Mannsleute unterm Daumen, die auf jeden Blick von ihm nur so sprangen? Und nun? Hm – ja, es hatte wohl nicht viel Zweck, darüber nachzudenken, denn zu ändern war wohl nichts daran. Er kaufte sich ein glattes Pferd, das ihm ein Jude vom Festland vermittelte, braun mit schwarzer Mähne und Schweif. Das fütterte und striegelte er selbst. Dann fuhr er nach Keitum. Dort in der Hauptstadt war immer etwas zu reden und zu handeln. Erk Andresen war da viel um den Weg, seit Inge aus dem Haus gegangen und statt dessen Ose als Heiks Frau bei ihm eingezogen war; die lachte ihm zu viel und redete ihm zu viel. So machte er sich auf und ging zu Andrees, der in Keitum ein kleines Haus und ein paar kümmerliche Stückchen Eigentumsland besaß. Aber davon allein lebte er ja auch nicht. Er hatte in den letzten Jahren gut verdient wie die andern Grönlandfahrer auch, und Anna, seine Frau, hatte wohl die verschwenderische Ader ihres Vaters geerbt. Fast jede Woche backte sie Brot, und der Tabakskasten war immer gefüllt; das mochten die Männer gern leiden und saßen viel bei ihr herum.

Nach dem Jölfest wurde Inge Lorensen Hahn wieder gemütlicher. Nun hätte sie das Schiff wohl klar, meinte sie, nun könnte die Reise wohl losgehen. Und sie ging los – so glatt wie der Weg nach Bremen. Ein paarmal bekam Lorens wohl noch einen Stoß vor den Kopf, weil er nicht hingehört hatte, wenn die klappernden Töpfe ihn warschauen wollten: Wahr dich vorm Giek, das Großseil kommt über! Einmal sogar bekam er noch eine ganz schwere See über, als er nicht auf Wetterwolken und Sturmwarnung geachtet hatte. Aber so nach und nach lernte er doch ganz gut Kurs halten, und als es zum Frühjahr ans Abschiednehmen ging, wurde ihm sein Herz so butterweich, daß es erst unterm 63. Grad so hart zufror, wie es sich für einen großen Grönlandkommandeur schickt.

Genau an der gleichen Stelle taute es bei der Heimreise wieder auf. Da fing Lorens an, sich auf seine Inge zu freuen. Er malte sich aus, wie mächtig gemütlich sie es nun miteinander haben wollten. Aber dann ging es ihm wie jenem, der von Schollen träumte und Plattfische fand: als er heimkam, fand er das ganze Haus voll Kindergeschrei. Seine Inge hatte ihm einen kleinen Peter gefischt, und da sie noch nicht wieder recht zu Schick war, hatte sie ihre Schwägerin Anna zur Hilfe im Hause. Anna aber, die ihre Heringe gern bei andermanns Feuer briet, hatte ihre drei Kinder mitgebracht; die liefen nun Lorens überall vor die Füße. Dazu kam, daß Lorens gerade Anna gern ausgewichen wäre. Er hatte draußen gehört, daß Andrees mit seinem Schiff Unglück gehabt hatte; er sollte es im Eise verloren haben. In Hamburg ging gar das Gerücht um, daß Andrees selbst dabei umgekommen wäre. Von des Andrees Schiffsvolk war aber noch nicht einer in Hamburg aufgetaucht, solange Lorens da noch verweilen mußte. So wollte er mit Anna nicht darüber reden, ehe das Gerücht nicht für sicher bestätigt war. Es konnte doch immer noch sein, daß Andrees heimkäme. Dann war es besser, daß Anna nicht erst den Schrecken davon haben mußte.

Mit Inge konnte er nicht darüber reden. Die lag noch in hohem Fieber, obgleich der Junge schon zehn Tage alt war, und kannte Lorens nicht einmal. Da freute ihn das Heimkommen nicht. Er schüttete die blanken Talerstücke in die Kiste und warf den silbernen Becher hinterdrein. Ein paar Tage später holte er ihn freilich wieder hervor. Da sah Inge schon klar aus den Augen und fing an, nach allem zu fragen. Von da an wurde es besser mit ihr, aber ehe Lorens noch mit ihr über Andrees sprechen konnte, kam die zweite Sylter Schmack von Hamburg, und danach gab es keine Möglichkeit mehr, das Unglück zu verbergen. Jacobus Cruppius, der unter Andrees Erken als Schiffsbarbier gefahren war, kam heim und brachte die Nachricht, mit, daß Andrees sich noch mit dem ganzen Schiffsvolk auf ein Eisfeld hatte retten können, oder in der dritten Nacht darauf am Frost gestorben war, denn er war bis zur Leibesmitte in ein Wasserloch gefallen und die Kleider ihm davon am Körper festgefroren. Branntwein hatten sie nicht mehr gehabt, auch kein Holz, um ein Feuer anzuzünden. Freilich waren sie nördlich von Spitzbergen gewesen, wo das Eis so alt und so hart ist, daß es wie Holz brennt, wie man sagt, aber sie hatten es doch nicht zum Brennen bringen können, und so hatte sich Andrees Erken nicht mehr erwärmen können, sondern war jämmerlich verstorben.

Das gab ein Geschrei im Haus, als die Kunde kam! Lorens hatte all die Zeit her nur an Anna gedacht und darüber fast vergessen, daß Andrees nicht nur Annas Mann, sondern auch Inges Bruder war. Nun weinte sie fast ärger noch als die Witwe. Es wär aber so, daß Anna es nicht glauben wollte, daß Andrees wirklich tot wäre, weil sich nirgend in der Verwandtschaft um die Zeit ein Wiedergänger gezeigt hatte. Wer auf See bleibt, der zeigt sich in der Nacht seines Todes den Verwandten daheim, nicht den allernächsten, sondern denen des dritten oder vierten Grades. Anna fragte überall herum, denn irgendwie waren die Andresens doch mit allen Syltern verwandt, aber nirgend hatte sich Andrees gezeigt. Endlich ging sie auch zu Jappe Gyden, dem Morsumer Hexenmeister, dem sie überdies noch von der eigenen Mutter her verwandt war, aber der schüttelte auch nur den Kopf:

»Andrees ist doch nicht auf See geblieben, sondern auf festem Eis gestorben. Das ist so gut wie an Land. Wie kann er sich da zeigen? Nein, da mach dir nur keine Hoffnung mehr, Anna, dein Mann kommt nicht wieder.«

Da wurde Anna Andrees Erken ganz still, nahm ihre Kinder und ging mit ihnen ins Pfarrhaus zurück. Ihr eigenes Haus verkaufte sie um wenige Silberstücke, die wenigen aber hielt sie mit eisernem Willen fest. Sie setzte des Vaters Haushälterin vor die Tür und fütterte ihn und die Kinder tagaus tagein mit gedörrten Fischen und Grütze. Nur Sonntags kam wohl ein Stück Fleisch ans Feuer, und das Brotbacken gab sie ganz auf. Trotzdem wuchsen die Kinder groß und kräftig heran, denn weiter kümmerte sich die Mutter nicht um sie, und wenn sie hungrig waren, liefen sie zu Inge-Most nach Westerland und fraßen sich bei ihr dicksatt. –

*

Solange Lorens Jens Grethen ein unbegebener Jungmann gewesen war, hatte er so zwischen den Dörfern gelebt. Waren zu viele alte Weiber in sein väterliches Haus gekommen, so hatte er sich nach Tinnum auf den Weg gemacht. Hatte er aber bei Inge die Küche voll schnatternder Mädchen gefunden, war er mit andern Burschen weiter gezogen nach Keitum oder auf die hohe Heide, hatte anderen Dunkelläufern neckende Streiche gespielt oder auch gelegentlich an einem allgemeinen Unfug teilgenommen. An den andern Mädchen lag ihm nichts, er wußte nichts mit ihnen anzufangen. Er wollte nur allein mit Inge zusammensein, in Ruhe bei ihr sitzen und seine Pfeife rauchen.

So hatte er sich seine Ehe mit ihr gedacht, aber das kam nun alles ganz anders. Tagsüber hatte sie ihr Tun in der Wirtschaft und mit dem kleinen Peter, der nur ein schwächliches Kind war. Nachts durften sie sich kaum rühren, sonst fing der Junge, der auf einem Querbrettchen zu ihren Füßen im gleichen Wandbett lag, sofort an zu quäken und quäkte die ganze Nacht hindurch, daß Inge keine Ruhe mehr finden konnte. Saßen sie abends aber endlich einmal gemütlich beisammen, dann bemerkte sicher eine oder die andere Nachbarin den Feuerschein in der Küche und kam mit Spinnrad oder Strickstrumpf noch zum Aufsitzen. Da gab es nun kein Ausweichen mehr für Lorens. Er hatte es doch nicht nötig, aus dem eigenen Hause fortzugehen; noch weniger aber kam ihn die Lust an, allein in der kalten Stube zu sitzen.

So blieb er im Herdwinkel, sog an seiner Pfeife und hörte zu, was die Weiber kakelten, und allmählich erfuhr er dabei mehr von dem Tun und Treiben der Westerländer, als er je von den Rantumern gewußt hatte. Es war ein ganz anderes Leben hier als dort. Trotz der großen Landverluste, die Rantum bei der Flut vom 11. Oktober 1634 erlitten hatte, und obgleich seitdem Jahr um Jahr das Watt an den unbedeichten Rändern fraß, war Rantum doch immer noch ein wohlhabendes Dorf, auf dessen weitgedehnten Gemeindewiesen jeder Hausbesitzer so viel Vieh halten konnte, wie er nur irgend mochte. Daß die Rantumer arm waren und arm blieben, lag nur daran, daß sie sich mehr um den Strand kümmerten als um ihr Land und immer noch mehr Pferde als Rindvieh im Stall hatten. Immerhin – wer in Rantum saß, brauchte keinesfalls zu hungern, noch weniger freilich die Tinnumer und die Bewohner der Ostdörfer; da lag der beste Boden der Insel, fettes fruchtbares Marschland.

Anders stand es um Keitum und Westerland: mager die Geest, das Gemeindeland beschränkt, und dabei wuchs doch von Jahr zu Jahr die Bevölkerungszahl beider Dörfer. Das kam, weil die jungen Seeleute, die gut verdienten und früh einen eigenen Hausstand gründen wollten, in Keitum und Westerland am leichtesten einen Platz für ein neues Haus bekommen konnten. Freilich mußten sie sich zu rühren wissen, von Vieh und Land konnten sie hier nicht leben, sondern waren auf den baren Verdienst angewiesen. So fand sich in diesen Dörfern schnell eine buntgemischte bewegliche Bevölkerung zusammen. Lorens sah mit Staunen all das Neue, das hier aufschoß, aber er fand nicht immer, daß es gut war.

Etwa dreihundert Schritte nordwestlich vom Lorens Hahnschen Hause entfernt lag hart am Saume der Dünen eine alte Kate, deren letzte Besitzerin vor einigen Jahren gestorben war. Kurze Zeit stand die Kate leer, dann kaufte die Witwe Margaretha Clausen sie. Diese Margaretha stammte aus Medelbye im Amte Tondern, und war durch ihren verstorbenen Mann nach Sylt gekommen. Er hatte ihr eine ganze Reihe unmündiger Kinder und einen netten kleinen Hof in Tinnum hinterlassen. Mit Fleiß und Sparsamkeit hätte sie sich und ihre Kinder wohl durchbringen können, aber das lag ihr nicht. Lieber tauschte sie ihr Besitztum gegen die armselige Kate hinter den Westerländer Dünen, und richtete dort einen Krug ein. Erst lachten die Westerländer über sie, denn noch niemals war in Westerland eine Wirtschaft gewesen, und ehe man nach den Dünen ging, konnte man ebensogut nach Keitum laufen, um dort seinen Pott Bier zu trinken. Aber bald zeigte sich, daß Margaretha Clausen klüger gewesen war als alle andern. Der Winter brachte Stürme und die Stürme lockten Strandläufer an die See. Wer aber in kalter Nacht stundenlang in Sturm und Regen umhergelaufen war, der trank gern im Morgengrauen ein kleines Glas Branntwein zur Erwärmung oder einen großen Topf Bier um der Gemütlichkeit willen. Und die Witwe Clausen war nicht kleinlich: hatte einer der Gäste kein Geld, so nahm sie auch, was er etwa am Strande gefunden hatte, nahm auch Wolle in Zahlung, ein gutes Stück Speck, einen Sack Korn oder Mehl. Die Krugwirtin konnte alles brauchen.

Nur einmal verrechnete sich Margaretha Clausen. Das war, als sie Tam Bleiken aus Keitum heiratete. Tam Bleiken war der Keitumer Hansnarr, einer, der nur halbgebacken aus dem Ofen gekommen war. Der Teufel hatte die Hefe gestohlen, so war der Teig nicht aufgegangen und Tam Bleiken war kurz und vierkantig geblieben mit dickem Kopf und langen Armen. Sein Verstand aber hatte nicht die nötige Beimischung von Grütze bekommen – was er auf dem Petrithing hörte, begriff er erst zum Erntefest. Sem Vater nahm ihn als Jungen mit aufs Wasser, aber wenn er: Ree!, schrie, antwortete der Bengel: hee? und ehe er den Baum umgelegt hätte, hätten sie schon zehnmal versaufen können. So blieb Tam Bleiken denn an Land und wurde in der Familie durchgefuttert. Jeder ließ dafür auch seine Laune an ihm aus. Kaum ein Dreijähriger war im Dorf, der nicht schon seine Ehre darein gesetzt hätte, Tam Bleiken zu foppen. Wo er sich nur blicken ließ, folgte ihm ein Schwarm halbwüchsiger Burschen.

Margaretha Clausen sah es und fing an zu rechnen; dann trug sie ihm die Ehe an. Tam Bleiken ging gern darauf ein, denn Keitum war ihm verhaßt, und daß eine Frau ihn begehrte, das machte den armen Toren über die Maßen glücklich. Im ersten Jahr schien es auch, als hätte die Wirtin recht gerechnet; der Krug hatte entschieden an Anziehungskraft gewonnen. Die Stiefkinder hatten ihren Spaß daran, Tam Bleiken zu foppen, bis er stotternd vor Wut sie zu greifen suchte. Dann entwischten sie ihm unter den Händen, sprangen über Tische und Bänke, während er schwerfällig wie ein Bär hinter den wilden Hummeln dreintappte.

»Ekke Nekkepenn sucht die Unterirdischen im Heidekraut,« rief ein witziger Gast, und die andern lachten lärmend und nahmen es nicht übel, wenn Frau Margaretha ihnen die zerbrochenen Krüge und Töpfe auf die Zeche aufrechnete – hatten sie doch alle ihren Spaß daran!

Im zweiten Jahre aber, dem gleichen, in dem Lorens und Inge heirateten und ihr neues Haus bezogen, ging es nicht mehr so harmlos zu. Durch das unaufhörliche Foppen und Necken war der blöde Tam so gereizt worden, daß er allmählich gefährlich wurde. Ein paar lustige Jungmänner hatten ihm Jauche statt Bier vorgesetzt und sie dem sich Sträubenden zwangsweise die Kehle hinabgegossen. Tam Bleiken hatte den eklen Trank sofort wieder ausgebrochen, war dann aber still aus der Wirtsstube hinausgegangen und gleich darauf mit einem Dreschflegel zurückgekommen, mit dem er wütend auf die wehr- und waffenlosen Gäste dreingeschlagen hatte. Mit Mühe nur war er endlich überwältigt worden, denn wenn er auch, tolpatschig wie ein Bär war, so war er im Zorn doch auch stark wie ein solcher. Von nun an zeigte sich immer mehr, daß es nicht ungefährlich war, Tam Bleiken zu reizen. Einmal ertappte seine Frau ihn sogar dabei, wie er versuchte, das Strohdach in Brand zu stecken. Das wurde den Gästen unheimlich – wer mag denn wie die Maus in der Falle unterm brennenden Strohdach ersticken? So blieb einer nach dem andern fort. Doch je weniger Gäste in die Wirtschaft kamen, desto mehr Streit und Prügel gab es zwischen den Hausgenossen. Meist aber behielt Tam Bleiken dabei die Oberhand, weil er der Stärkste war, und jagte sie alle hinaus. Dann flüchtete Frau Margaretha zu Inge, die jeden, der in ihr Haus kam, mit Freundlichkeit aufnahm, mochte er ihr sonst auch noch so zuwider sein.

Auf diese Art bekam Lorens Jens Grethen in seinen ersten Ehejahren mehr von Frau Margaretha Tamen zu sehen, als ihm justement lieb war, denn sie war keineswegs holdselig anzuschauen und hatte eine Art, beim Lachen das Maul aufzureißen, daß Lorens immer den langen Stockzahn bewundern mußte, der ihr als einziger noch im Unterkiefer sah. Aber was sie redete, das war durchaus nicht dumm, und sie hatte eine Art, die Dinge darzustellen, daß selbst Lorens ein angenehmes Gruseln über den Rücken lief, besonders wenn sie von ihrem Pastor Fabricius aus Medelbye erzählte, der wohl Diebe in ihrem Diebeswerk bannen konnte, daß sie wie festgewurzelt stehen bleiben mußten und so erwischt werden konnten.

»Einmal schlug er mitten unter der Predigt auf das Kanzelbrett und rief laut: Halt! und als hernach die Leute aus der Kirche kamen, stand da einer mit einem Sack voll Gras mitten zwischen den Gräbern – oha, ich wünschte, wir hätten hier auch so einen ordentlichen Pastor, der mir Tam Bleiken wieder nach Keitum zurückbannen könnte!«

Inge schüttelte sich.

»Wie magst du so etwas sagen! Um das zu können, muß einer sich dem Teufel verschreiben.«

»Ist man halb so schlimm,« antwortete Margaretha gemütsruhig und kraute sich mit der Stricknadel im Haar, das immer dick voll Läuse saß. »Uns' Pastor durfte sich beileibe nur am Sonnabend den Bart kratzen und durfte nur ein Strumpfband tragen, nicht zwei. Dann aber konnte ihm der Alte auch nichts anhaben. Sonst freilich – Ihr könnt Euch denken, wie gern er den Pastor gekriegt hätte, und er hat auch nichts unversucht gelassen. Einmal hat er sich sogar in einen Floh verwandelt und hat die Haushälterin, die dem Pastor ein Paar Strümpfe stricken wollte – denn eine Frau hatte er nicht – so wirr gemacht, daß sie sich beim Aufschlagen wie dumm verzählt hat. Davon war der Strumpf dann so weit geworden, daß er nachher nur so schlotterte. Aber uns' Pastor war klug. Ein zweites Strumpfband – oha, oha, nein! Ja, der verstand eben mehr als nur Vaterunser beten!«

Wenn Margaretha Tarnen über Abend so erzählt hatte, dann kroch Inge nachts von selbst schon Lorens in den Arm, und er konnte sie küssen und lieben wie er wollte. –

Das Jahr, in dem der kleine Peter Lorensen Hahn das Laufen lernte, war für den Walfischfang ein Goldjahr. Im Durchschnitt brachte jeder Hamburger Grönlandfahrer zehn Fische mit heim. Lorens der Hahn aber, der nun Jahr für Jahr sorgfältig die besten Fangstellen auf seinen Karten eingetragen und über Winde und Meeresströmungen eingehende Bemerkungen dazu gemacht hatte – Lorens fuhr schon Mitte August mit vierzehn großen Fischen im Bauch von »Salomons Gericht« durch den Trichter wieder südwärts. Es war ein bitterkalter Winter gewesen, ein spätes Frühjahr, da sie ausfuhren, und dann war ein über die Maßen heißer Sommer gefolgt, von dem sie freilich im Norden nicht viel gespürt hatten. Doch nun, da sie in die Nordsee kamen, war ihnen fast, als segelten sie in den südlicheren Meeren. So sanft, so milde, so über die Maßen holdselig war dieser Spätsommer, so linde die grüne See, so warm der weiche Ostwind, der ihnen tausend Grüße von frischgeschnittenem Grase und reifem Korn, von duftendem Obst und dem sommerlichen Geruch der in Sonnenglut dampfenden Erde brachte. Den Männern wurde wunderlich zu Sinn. Wer ein Liebchen hatte, der dachte sein und fing in aller Eile an, noch irgend etwas zu basteln oder zu flechten, um ihr einen Beweis mitzubringen, daß er zwischen Eis und Schnee, zwischen Walfischtran und -speck stets ihrer treu gedacht hätte. Wer kein Liebchen daheim hatte, der träumte von allen Mädchen, die er je gesehen und sehnte sich danach, sie allesamt ans Herz zu drücken. Die aber Weib und Kind schon ihr eigen nannten, lachten fröhlich in der Erwartung des Wiedersehens, wenn auch in Wirklichkeit das Weib eine böse Sieben und die Kinder unartige Rangen waren.

Doch der Wind kehrte sich nicht an die Sehnsüchte der Männer. Immer sanfter fächelte der liebliche Ost; langsam ging er nach Norden herum. Dann aber legte er sich hin wie ein Kind, das in sommerlichem Spiel sich selbst vergißt, und schlief ein. »Salomons Gericht« wurde von der Flut noch bis zur mittleren Höhe von Sylt getragen, dann lag es auch still, und die Segel schlappten gegen die Masten.

»Fall – fall – over all!« sang Lorens plötzlich.

Das Schiffsvolk sah ihn an und lachte.

»Soll wohl sein, Kommandeur, dann schießen wir Sylt und pökeln es ein.«

Aber Lorens hatte es nicht als faulen Witz gemeint.

»Zwei Schaluppen streichen! Ich gehe an Land, Hanne Mul kommt mit und zwölf Mann. Lost untereinander, aber ihr anderen läßt den Syltern die Vorhand.«

Das gab einen Spektakel! Hanne Mul, der Kajütswächter, der seit drei Tagen schon ununterbrochen vor Heimweh nach seinem Großmutting geheult hatte, fing wieder an, mit blanken Augen zu lachen, wie er sonst auf der ganzen Reise gelacht hatte. Die Männer aber schlugen sich fast um die Plätze an den Riemen, bis Daniel Puttfarken, an den das Kommando in des Kapitäns Abwesenheit fiel, einen tüchtigen Dämpfer aufsetzte. Endlich waren die beiden Schaluppen klar und nahmen flott Kurs auf den nahen Strand zu. Hanne Mul, ein Hamburger Junge, der von der Welt nichts weiter kannte als die Elbufer und Spitzbergen, machte große Augen, als die hellen Dünen so hinter dem Wasser aufstanden. Fast ein wenig beklommen war ihm zumute, als er dann die wunderlichen Sandberge selbst ersteigen mußte und von der Höhe her das flache Land überschaute, in dem die einzelnen Höfe hier und da verstreut lagen wie Spielzeug, das ein Kind in der Schürze getragen; die Schürze aber hatte ein Loch gehabt, da war hier ein Hof ins Land gefallen und dort wieder einer – so winzig sahen sie aus; noch kleiner freilich die Kühe und Schafe und einzelne Menschen auf den Weiden.

Die Männer schauten alle über das Land hin; es waren lauter Sylter, die mitgekommen waren, bis auf Hanne Mul. Da fingen sie an,, ihm das Land zu weisen:

»Sieh, Junge, hier wohne ich – und dort drüben ich – siehst du den Kirchturm im Osten? Daneben liegt Keitum, da bin ich zu Hause. Fein ist es da, Hanne Mul, da kommt Hamburg nicht gegenan –«

So ging das, bis Lorens ein Ende machte.

»Morgen abend bei Hochwasser gehen wir wieder an Bord, auch wenn kein Wind ist.«

»Wohl, wohl, Kommandeur, fahrwohl.«

Damit trennten sie sich und zerstreuten sich schnell in der weiten Ebene. Hanne Mul aber folgte seinem Kommandeur erst ein Stück nach Osten zu und dann den Süderweg hinunter, bis sie an ein Haus kamen, das lag breit auf der Erde, hatte ein hohes und starkes Rohrdach und lachte aus vielen blanken Fensterchen. Als sie aber eintraten und Lorens ein lautes »Hallo!« in den dunklen Gang hineinrief, blieb alles still. Verblüfft sahen sich Kommandeur und Junge an. Wie konnte die Frau nicht daheim sein, wenn der Mann ankam? Das verstanden sie beide nicht.

»Je – da müssen wir wohl warten,« sagte Lorens endlich und kroch doch durch alle Stuben, durch die Küche und in den Stall, um zu sehen, ob wirklich niemand da wäre. Als sie aber aus dem dunklen Stall wieder in die helle Abendsonne hinausträten, kam von der andern Seite eine Frau, die war groß und stattlich, trug einen weißen Schafpelz mitten im Sommer, darüber einen schwarzen vielgefalteten Rock, auf dem Kopf aber ein Ding wie einen Kochtopf mit« silbernen Eiern am oberen Rand, dergleichen alles Hanne Mul noch nie im Leben gesehen hatte. Augen und Mund riß er auf und lehnte sich erschüttert an die Hauswand. Die Frau trug ein Kind auf dem linken Arm, und in der rechten Hand hielt sie ein Tau. Daran führte sie eine braunbunte Kuh, deren Hörner durch künstliche Schlingen mit denen von zwei andern Kühen verbunden waren. Die Leitkuh aber hielt mit dumpfem »Muuh« geradenwegs Kurs auf Hanne Mul, der mit einem Schreckensschrei Reißaus nahm.

Lorens lachte, daß ihm die Tränen in die Augen stiegen. Dann trat er zu seiner Frau.

»Inge!« sagte er heiß, doch sie hielt ihm nur das Kind hin.

»Ich sah euch auf den Dünen, so kam ich gleich mit den Kühen,« antwortete sie und sah fragend auf Hanne Mul; »was ist, daß du so früh kommst und von Westen?«

»Wir hatten schon volle Fahrt und haben nun keinen Wind. Dies ist Hanne Mul, Frau, brauchst nicht Angst zu haben, daß du den nicht satt kriegst. Ich habe mehr Hunger und anderen Hunger, Inge –« das schreiende Kind gab er ihr zurück.

Eine helle Flamme schlug über ihr Gesicht.

»Wo kommst du nur her?« wiederholte sie verwirrt.

»Von ›Salomons Gericht‹; es liegt draußen vorm Weststrand. Morgen abend kommst du auch an Bord, dann nehme ich dich mit auf Hamburg.«

»Wie soll das wohl angehen?« antwortete sie halb verlegen und beruhigte das zappelnde Kind. »Sei still, nun sollt ihr alle zu essen bekommen.«

»Auch satt werden, Inge?« lachte ihr Mann, und wieder stieg die lichte Glut ihr in die helle Stirn.

Die Grütze hatte auf glimmendem Tuul gestanden, war dick und steif. Dazu gab es Milch noch warm von der Kuh und Sirup, so viel Hanne Mul nur schlecken mochte, und da ihm sein Kommandeur ermutigend zunickte, war er auch nicht schüchtern im Zulangen. Ja, als Lorens seinen Löffelstiel in geballter Faust auf den Tisch stieß und sagte:

»Mich hungert immer noch, Frau –« nickte Hanne Mul ihm seinerseits ermutigend zu und meinte gönnerhaft:

»Ein gut Stück Schinkenspeck wäre nicht übel dazu, he Kommandeur?«

Da lachte auch Inge, öffnete eine Schranktür und stieg in dem engen Raum eine schmale Leiter hinauf. Staunend sah Hanne zu, wie die rotbestrumpften Beine in dem dunklen Loch oben verschwanden. Als die Frau aber wieder herunter kam, reichte sie Lorens von oben her einen Schinken zu, an dem wohl acht Mann auf einmal satt werden konnten. Und der Kommandeur zog sein Messer, wetzte es am Herdstein und schnitt in die schwarzgeräucherte Schwarte hinein, daß Hanne Mul das Wasser im Munde zusammenlief. Er sättigte sich denn auch ohne Scheu, und als er so weit war, daß er nur noch schnaufen konnte, legte er die Hände überm Bauch zusammen und sagte aus Herzensgrunde:

»Gott sei Dank für diesen Tag; morgen mehr! Nun seid Ihr auch satt geworden, Kommandeur.«

Aber Lorens wiegte bedenklich das Haupt.

»Immer erst halb, Hanne Mul. Kriech ins Bett und schlafe, kann sein, daß mir die Frau dann noch heimlich was Besseres gibt.«

»Jee, Kommandeur, könnt Ihr aber fressen!« rief der Junge bewundernd und wußte nicht, weshalb ihm die große Frau mit so wunderlichem Lachen über den borstigen Schädel strich.

»Ja, das sag du man!« meinte sie ehrbar. »Komm, nun will ich dir dein Bett weisen.«

Sie nahm ihn an der Hand und führte ihn in eine Kammer. Dort öffnete sich eine Tür in der Wand, und ein breites Bett wurde sichtbar. Mit einem langen Stock plusterte sie das Stroh auf und warf eine Decke darüber.

»Zieh deine Stiefel aus,« gebot sie und reichte ihm noch ein warmes Schaffell als Zudeck. Dann klappte sie die Türen hinter ihm zu, und ehe Hanne Mul sich noch recht ausgestreckt hatte, schlief er schon wie ein Eisbär im Winterschlaf.

Am andern Morgen ging das gute Leben weiter. Der Kommandeur mußte über Nacht wirklich satt geworden sein, denn er hatte so blanke Augen, wie Hanne Mul sonst nur vorm Fisch an ihm zu sehen gewohnt war, und lachte in einem fort. Aber Messer und Löffel legte er bald zur Seite, und dann sagte er:

»So, Inge, nun takel dich auf und mach das Haus klar. Heute abend kommst du mit an Bord.«

»Wie soll das wohl angehen?« antwortete Inge unwillig.

»Ganz einfach: Du kommst mit an den Strand, wo die Schaluppen liegen, und wir riemen dich hinüber. Einen Mann mehr können wir schon noch bergen, he Hanne Mul?«

»Peter auch?« fragte der Junge eifrig zurück. Er hatte seinen Spaß daran, wie der Kleine den Schnabel aufsperrte, wenn er ihm mit einem Löffel voll Sirup in Sicht kam.

»Nein,« entschied der Vater. »An Bord ginge es wohl, aber wo sollen wir in Hamburg mit dem Pummel bleiben? Und wenn wir hernach zur Heimreife schlecht Wetter haben? Tet Muchels kann ihn nehmen, die kann auch nach dem Vieh sehen.«

Inge wollte nicht. Sie fing an zu weinen – so arg, daß Hanne Mul vor Mitgefühl auch losheulte, und Klein Peter stimmte mit ein, daß es den schönsten dreistimmigen Gesang gab. Aber Lorens blieb hart.

»Du kommst mit auf Hamburg, ich will es nun einmal. Sollst sehen, wie fein es da ist. Kannst bei Hanne Muls Großmutting wohnen und sollst große Damen in Kringelienen sehen – oder wie sie die Dinger heißen.«

Als, Inge merkte, daß er sie nötigenfalls mit Gewalt an Bord holen wollte, wurde sie kleinmütig und fing an, das Haus zu richten. Tet Muchels kam, die Nachbarin, und es gab ein Geschnatter zwischen den beiden Frauen und ein Tun und Schaffen, daß Kommandeur und Junge sich ganz verschüchtert an den Wänden lang drückten. Bis Mittag war alles so weit klar. Aber dann fing Inge erst an, sich von Kopf zu Füßen neu zu kleiden in ihren allerbesten Kirchenstaat. Da kam erst wieder der Schafpelz, weiß wie. frischgefallener Schnee, vielgefaltet und steif; darüber nun ein kurzes buntes Wams mit gefaltetem Rock daran; ein weiter Mantel mit baumelnden Lämmerschwänzchen ringsum und eine hohe Hüf auf den Kopf, unter der Inges losgebundene Locken flogen. Hanne Mul riß Mund und Augen auf; was war das für ein Angehen!

»Hee –? Das läßt, als wenn ein Dreimastschiff von Stapel laufen soll;« darin waren Kommandeur und Junge einig.

Als sie abends mit ihr an Bord kamen, staunten die unter dem Schiffsvolk, die noch nie auf Sylt gewesen waren, nicht minder als Hanne Mul über die große Frau in dem stattlichen Aufputz. Sie wußten nicht, weshalb sie weinte, und sahen sie scheu an. Aber am andern Morgen bekamen sie ein wenig Wind in die Segel, das brachte sie bis zum Abend nach Helgoland. Da kam einer an Bord, Siems mit Namen, der war vor Jahren einmal bei Erk Andresen gewesen und erkannte Inge. Das gab einen Spaß! Inge hörte auf zu weinen, mit eins erschien ihr die weite Welt nicht mehr so groß und so fremd, und als Siems gar anfing, sich im Sylter Friesisch zu versuchen, mußte sie lachen.

Unterm Land lagen sie wieder einen Tag ohne Wind. Es war, als wäre Ekke Nekkepenn aufs Altenteil gesetzt, als wäre Ran gestorben und ihre lustigen Töchter in fremde Meere ausgewandert – so still lag die See, kaum daß sie atmete, und der Himmel war grau verhangen wie eine feste Wand, durch die kein Wind durchdringen kann. Da ließ Lorens wieder eine Schaluppe streichen und sich mit Inge hinüberriemen. Er zwang sie, mit ihm den hohen Felsen zu besteigen, aber als sie oben waren, schloß sie die Augen in Angst vor der luftigen Höhe und war durch kein Zureden zu bewegen, sie wieder aufzutun.

Plötzlich stieß er einen Schrei aus:

»Ich falle!«

Im Schrecken riß sie die Augen auf. Da stand er heil und aufrecht vor ihr und lachte sie aus. Sie aber sah ihn frei vor einem weiten grauen Himmel stehen – hoch – hoch über dem schillernden Meer, und sie reckte die Hand gegen ihn:

»Weda –«

»Wodan?« wiederholte er verstutzt; »was meinst du, Inge?«

Aber das wußte sie selbst auch nicht. –

Ihre Fahrt die Elbe hinauf dehnte sich lang und langweilig. Wäre nicht die Frau an Bord gewesen, wäre das Schiffsvolk wohl ungeduldig geworden. So sahen die Männer alle auf sie, wo sie sich nur blicken ließ, und wenn sie mit ihrem Strickzeug an Deck saß – denn sie verstand es nicht, müßig zu gehen und die Hände in den Schoß zu legen – dann strich bald der eine, bald der andere an ihr vorüber und fand, daß der Tag nicht inhaltslos gewesen war, wenn er ihr nur eine Handreichung tun oder eine Frage beantworten konnte. Inge aber war wie ein Kind. Jede Windmühle und jeder Kirchturm, der über den Deich kuckte, wurden ihr zum Erlebnis, und fast schien es, als hätte sie daheim noch nie eine Möwe gesehen, so nipp schaute sie jedem vorüberstreichenden Vogel nach. Schlimm war nur, daß sie nichts tun durfte, nicht kochen, nicht Geschirr waschen, nicht die Kajüte fegen; dafür waren Koch und Küchenjunge und Hanne Mul da, aber sie sah wohl, daß das alles nur halber Kram wurde. Das Schlimmste aber war, daß sie mit Lorens und den Offizieren am weißgedeckten Tisch essen mußte, und daß er sie zwang, die Gabel statt der Finger zu benutzen.

»Ihr haltet es mit mir, Frau: Fünffinger ist die beste Schiffsgabel,« meinte der alte Puttfarken gutmütig, aber Lorens der Hahn stieg nicht vom hohen Mist herunter.

»Wenn wir bei David Worms zum Essen geladen werden, geht es nicht an, daß du die Finger in den Mund steckst, Inge; quäl' dich man düchtig, du wirst es schon lernen.«

Vor Hamburg hatte Inge sich gefürchtet, aber Hamburg nahm sie freundlich auf. Sie wohnte bei Hanne Mul sein Großmutting, die einen Grünkramkeller hatte. Die war knapp größer als Hanne selbst und schlug nicht schlecht die Hände überm Kopf zusammen, als der Junge ankam mit einem Weibsbild im Schlepptau, so hoch und so groß und mit einer steinernen Krone auf dem Kopf wie der Wachtturm hinterm Holstentor. Nachdem sie Inge aber von allen Seiten betrachtet und befühlt hatte und endlich herausgebracht hatte, daß in all dem Staat von Pelz und Tuchwerk wahrhaftigen Gott ein leibhaftiges Frauenzimmer steckte und ein junges, weiches und warmes noch dazu, da zog sie Inges helles Gesicht zu ihrem alten verrunzelten und verräucherten herunter und gab ihr einen herzhaften Kuß.

Wunderlich war, wie freudig das alte Hamburg Lorens Petersens junge Frau aufnahm. Kaum kroch sie nur aus ihrem Grünkramkeller hervor, so sammelte sich gleich ein Schwarm Menschen um sie, die in einer Sprache, von der Inge kein Wort verstehen konnte, sich untereinander allerhand zuriefen, indem sie dabei mit den Fingern auf Inges lange rote Strümpfe, den weißen Pelz und die hohe Hüf deuteten. Im Frühjahr hatte Lorens für Inge eine Hüf bestellt, doppelt so hoch wie die alte und mit doppelt so schweren silbernen Eiern; die war inzwischen fertig geworden aus tiefschwarzem spiegelnden Samt und feuerrotem Tuch. Vierundzwanzig harte Taler mußte Lorens dem Mann dafür auf den Tisch zählen, aber er tat es lachend und zog stolz mit seiner Inge über den Jungfernstieg. Ein langer Schweif von Menschen zog hinterdrein, aber das kümmerte Lorens nicht viel, und Inge meinte, das gehörte wohl zu Hamburg. Es stießen aber immer mehr Menschen zu dem Schwarm, und darunter waren manche, die plötzlich ein bekanntes Gesicht zeigten:

»Hallo, Inge –! Wie geht es zu Haus?«

Das waren Sylter. Es waren überhaupt viel Inselfriesen jetzt um den Weg auf Hamburg. Sie kamen von Grönland, von Holland und vom Mittelmeer und fanden sich alle in Hamburg zusammen, wo um diese Jahreszeit immer ein paar Schmackschiffe zur Heimreise bereit lagen. Inge aber war die einzige Frau unter all den Männern, und jeder wollte ihr schöntun.

Wie Lorens vorausgesehen hatte, so kam es: sie wurden von Worms und Ruscher zum Essen draußen ins Landhaus geladen. Es war eine große Gesellschaft feiner Damen und Herren versammelt, und die beiden Reeder feierten ihren glückbringenden Kommandeur nach Kräften. Inge stand wie eine Riesin in dem Gewusel der kleinen zierlichen Dämchen, deren Gestalten in lauter Seide und Spitzen verschwanden; nicht eine reichte ihr höher als bis zum Ohr. Wie die Unterirdischen sind sie, dachte Inge und sah mit freundlichen Augen neugierig auf sie hinunter, die hinter ihren Fächern kicherten und tuschelten. Auch der alte David Worms ließ sich in seinem Lehnstuhl in den Saal tragen, um die Sylterin zu sehen, aber Marias kleiner Bruder Jan, der diesmal Lorens einen hohen, innen vergoldeten Pokal voller Silberlinge überreicht hatte, schrie laut auf, als Inge ihn auf den Arm nehmen wollte.

Zwei gute Wochen lang mußten sie sich in Hamburg aufhalten, damit Inge alle Herrlichkeiten der großen Stadt recht kennen lernen konnte. Aber die große Stadt lernte ihrerseits auch die Sylterin recht kennen, ja, im »Altonaer Mercurio« erschien sogar eine genaue Beschreibung von ihr als der »Eingeborenen von den Schleswigschen Westseeinseln«. Lorens und Inge ließen eine Schmack abfahren und noch eine. Erst als die Ausreise der dritten angekündigt wurde, entschlossen sie sich zur Heimkehr. Da war aber die Kunde von Inges Erlebnissen ihr voraufgelaufen bis nach Sylt hin, und alle Sylterinnen erwarteten sie mit Spannung. –

Inge war wie im Traum gewesen all die Tage und Wochen hindurch. Wie im Traum machte sie auch die Schmackfahrt an den Inseln vorüber. Es waren allerlei Amrumer und Föhringer an Bord; die wurden in Wyk an Land gesetzt. Danach ging die Fahrt südlich Föhr weiter, aber erst, als Lorens zu Inge kam und sagte:.

»Komm herüber an Steuerbord, da haben wir schon Sylt klar von Deck in Sicht –« war ihr, als ob sie aus langem Traum erwachte. Und als er ihr ihres Vaters Haus wies und dabei sagte:

»Hinter Tinnumburg liegt unser Haus –« da stürzten ihr die Tränen aus den Augen, und ein Schmerz war in ihr, der sie fast zerriß.

»Was ist, Inge?« fragte ihr Mann; »magst nicht heim? Wärest du lieber noch in Hamburg geblieben?«

Sie schüttelte heftig den Kopf, doch die Tränen rannen weiter.

»Du freust dich doch, daß du auch einmal auf Hamburg gefahren hast?«

Darauf nickte sie, aber nur halb, und dann kam ein Wort, das klang wie erstickt:

»Pidderke – Peter – mein Pummelke –«

Und das Heimweh nach ihrem Kinde packte sie mit solcher Gewalt, daß sie fast über Bord gesprungen wäre, um zu Fuß über Morsum Nösse nach Hause zu laufen.

Am späten Abend machten sie unter Keitum fest, aber trotz der Dunkelheit wollten alle Mann noch an Land. Die meisten hatten Mitleid mit Inge, so kam sie mit Lorens ins erste Boot, das aufs Wasser kam. Unterm Kliff stand eine Mauer von Weibern, die Ihre Männer erwarteten. Als sie Inge gewahrten, fielen sie alle schnatternd über sie her. Aber Inge wehrte sie heftig ab; mit beiden Armen kämpfte sie sich durchs Gedränge, und dann lief sie mit langen Schritten davon, so daß Lorens ihr kaum zu folgen vermochte. Dabei schluchzte sie unaufhörlich leise vor sich hin. Als sie nach stundenlanger Wanderung endlich ihr Haus erreicht hatten, war es längst dunkle Nacht, nur eine feine, ganz schmale Mondsichel stand hoch am Himmel, und ein paar blanke Sterne schauten zwischen Nebelstreifen durch.

Das Haus war ebenfalls dunkel, aber während draußen die Nacht noch warm und voller Leben war – ziehende Herbstvögel riefen und lockten von allen Seiten – war es drinnen leer und kalt. Auf dem Herde hatte seit Wochen kein Feuer gebrannt, in den Stuben war kein Mensch aus und ein gegangen.

»Mein Pummelke – mein Pummelke –« rief Inge schluchzend.

Lorens ging nach dem Stall. Da war es warm und heimelig, und das Vieh rührte sich im Schlaf. In der Milchkammer standen die Bütten voll Milch mit dickem Rahm obendrauf – Tet Muchels hatte anderntags wohl buttern wollen. Lorens schöpfte einen Becher voll und brachte ihn Inge:

»Trink, und dann komm schlafen.«

Aber Inge schlug ihm den Becher aus der Hand.

»Peter – mein Pummelke,« wiederholte sie wimmernd. Dann lief sie aus dem Hause in die dunkle Nacht hinaus.

Lorens sah bedenklich hinter ihr drein. Es war nicht hübsch von Inge, daß sie Tet Muchels aus dem Schlaf stören wollte, nur um ihren Jungen zurückzuholen; Muchel Carstensen würde Inge wohl merken lassen, was er davon dachte. Aber Lorenz sah ein, daß er sie nicht halten konnte, so machte er sich daran, Feuer auf dem Herd anzuzünden, und als Inge nach geraumer Zeit mit dem Jungen im Arm wiederkam, brannte die helle Flamme schon lustig, und sie konnte ihn in ihrem Schein nach Herzenslust beschauen. Dem Jungen gefiel das weniger; er schrie, daß er blau wurde. Doch das kümmerte Inge kaum; sie herzte und küßte ihn und badete sein Gesicht mit ihren Tränen.

»Inge, du bist rein närrisch!« –

Am andern Tage war Inge wie abgeschlagen. Danach fing sie ihr Leben wieder an, als wollte sie vergessen, daß sie jemals auf Hamburg gefahren hatte. Aber dazu ließen es die Nachbarinnen nicht kommen; sie fragten und tratschten ohne Ende. Und als Inge am Sonntag mit ihrer neuen Hamburger Hüf zur Kirche kam, ging der Sturm von neuem auf. Wie die Sitte wollte, legte sie zu diesem ersten Kirchgang nach glücklicher Heimkehr ihres Mannes ein weißes steifes Tuch über die Hüf; die beiden vorderen Zipfel mußten unter dem Kinn geknotet werden; die hinteren Enden lagen breit auf den Schultern. Das ließ – von rückwärts betrachtet – wie ein kleines Bramsegel, denn die Hamburger Hüf ragte gut sechs Zoll hoch über Inges Kopf auf. So fehlte es nicht an allerlei Stichelreden unter den Kirchgängern, besonders unter den Männern, deren Frauen schon neidisch nach Inges hoher Hüf schielten.

»Donner noch eins, Lorens, das ist doch kein Segel für dies Schiff!«

»Laß Pidder reden, Lorens, der hat doch nur Angst, daß seine Moy auch so eine Hüf haben will. Ist doch ein Dreidecker von Weib, deine Inge!«

Lorens schmunzelte gutmütig.

»Bißchen luwgierig – hm? Sie wird noch eine Eule fangen und über den Achtersteven segeln. Steuer hart Backbord, Inge!«

Aber Inge ließ die Männer spotten und schritt stolz und stattlich bis zur Kirchentür; unter der mußte sie sich freilich demütig neigen.

*


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