Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Googe

Jens Grethens Bein war schlecht verheilt; kein Gedanke, daß er noch zur See fahren konnte. Da ging er wieder hinter dem Pfluge und mistete den Stall aus, als das Vieh auf die Weide kam. Er fing auch an, hinter dem Hause einen Steinwall zu setzen, wie er das in Keitum gesehen hatte, und in dem geschützten Raum pflanzte er Grünkohl, den Gondel dann im Winter kochen sollte. Gondel sah ihm mit dumpfem Erstaunen zu. Sie fand es ganz bequem, an dem Alten so viel Hilfe zu haben. So konnte sie doch abends bei ihrer Mutter sitzen, Stricke aus Dünengras drehen und ihre Zunge laufen lassen – dumm, faul, gedankenlos. Im Herbst brachte sie ihr erstes Kind zur Welt, einen strammen Jungen. Als der Großvater ihn sah und die derbe Nase, die listigen Augen bemerkte, lachte er:

»Greth Skrabbel!«

Von da an kümmerte er sich um das Kind, wie er sich um die eigenen nie gekümmert hatte. Er sagte nichts dagegen, daß Gondel ihn Lorens taufen ließ nach ihrem eigenen Vater, aber er lachte in sich hinein, als der Pastor, der gerade einen sitzen hatte, mit lallender Stimme hinterdrein sagte:

»Lorens –? Lorens –? Ach, Lorens Jens Grethen – ja, ja –!«

Ja, er wurde Lorens Jens Grethen, ganz und gar der Sohn seines Großvaters. Nach ihm kamen im Laufe der Jahre noch vier Brüder zur Welt, kräftige, tüchtige Bursche, aber um die kümmerte sich der Großvater nicht weiter. Lorens mit der lustigen Nase und den trotzig blickenden Augen blieb für ihn der Einzige. Als er noch kaum kriechen konnte, nahm ihn der Großvater schon mit hinaus in den Kohlgarten, daß die Mutter meinte, das Kind könnte den Tod haben von dem starken Wind. Aber Lorens lachte, wenn der Großvater die Haustür in die blanke Sonne hinein auftat, und er brüllte wie ein kleines Bullkalb, wenn die Mutter ihn wieder ins dunkle Haus sperren wollte. Wo er nur konnte, entwischte er der Mutter, und wenn sie ihm nachschalt, schmunzelte der Großvater und sagte:

»Greth Skrabbel ihr Lorens bist du – hee?«

Und der Junge krähte vergnügt, wenn er nur den Namen hörte. –

Als zwei kleinere Brüder hinter Lorens herkrabbelten, griff sich der Großvater seinen Einzigen und sagte:

»So, nun sollst du lesen lernen!«

»Huh, Vater, so ein Hexenkram – das arme Kind!« schrie Gondel entsetzt; »komm, mein Lorens, das magst du nicht.«

Aber der Junge strebte aus den Armen der Mutter fort zum Großvater.

»Wohl mag ich!« erklärte er tapfer, obgleich er gar nicht verstand, was der Großvater von ihm wollte. »Greth Skrabbel konnte auch lesen, hee, Googe?«

»Greth Skrabbel konnte auch lesen«, bestätigte Jens Grethen vergnügt; »ich habe es ihr beigebracht. Solltest es auch lernen, Gondel, könnte dir nicht schaden, wenn du mal die Nase in den Prediger Salomonis hineinstecktest. Kapitel 10, Vers 18, da steht etwas für dich.«

Seine Augen zogen sich zu einem engen Spalt zusammen, so lachte er in sich hinein, aber seine Schwiegertochter bekreuzte sich, wie ihre Urgroßmutter immer getan hatte, und wiederholte schaudernd:

»Huh – so ein Hexenkram!«

Lorens Jens Grethen lernte lesen. Das kam ihm sonderbar an. Es war nicht so lustig, wie die Pferde ins Heu zu reiten oder im Watt Schollen zu treten, und war nicht so spannend, wie in dunkler Sturmnacht am Weststrande nach Schiffen oder Schiffstrümmern auszuspähen, und doch hatte er auch dies alles einmal lernen müssen. Immer war ein Tag gewesen, an dem ihm der Großvater diese oder jene Kunst zum erstenmal gezeigt hatte. Immer war eine Zeit gewesen, in der er es so dumm gemacht hatte, wie jetzt die Brüder es taten. Jetzt kannte er Pferde und Fische und den Westensturm; das war gelernt. Aber Lesen war schwerer als alles andere, viel schwerer. Lorens biß die Zähne zusammen und ballte die Fäuste, damit die Mutter nicht merken sollte, wie schwer die schwarze Kunst war. Sonst würde sie wieder sagen:

»Ach, Vater, laß doch das arme Kind.« –

Draußen auf der Schwelle der Haustür saßen Großvater und Enkel, denn drinnen war es für Jens Grethens Augen zu dunkel, und Lorens ließ sich bei der schweren Arbeit auch lieber die warme Sonne auf den strubbeligen Schädel brennen. Die hochgezogenen Knie des Alten bildeten das Lesepult für das mächtige Buch mit den ledernen Bünden. Er hatte es von seines ersten Pastors Witwe zum Geschenk bekommen. Was sollte sie damit? Ihr Schwiegersohn brachte selbst eine Bibel ins Haus, und sie konnte nicht lesen, ebensowenig wie ihre Töchter. Für Frauenzimmer war das nichts. Aber Greth Skrabbel hatte es doch gelernt; Jens war noch auf seine alten Tage stolz auf sie. Und nun lernte es ihr Enkel. Jens verfolgte dieselbe Methode mit ihm, wie er sie mit seiner Greth geübt hatte. Er las ihm einen Satz vor, indem er ihm Wort für Wort mit dem Finger wies, und Lorens rutschte mit seinem Finger nach und mühte sich, seine helle Kinderstimme ebenso dumpf und kratzig klingen zu lassen wie die des Großvaters. Das gehörte nun mal dazu. Greth Skrabbel hatte auch so getan, das wußte Jens noch gut. Die Sonne brütete in die offene Haustür hinein; auf den Stirnen der eifrigen Geistesarbeiter perlte der helle Schweiß; die Spur ihrer Finger legte einen leichten Schleier über das klare Schwarzweiß der breiten Zeilen, und Mutter Gondel bekreuzte sich, wie ihre Urgroßmutter getan hatte, wenn sie das Gemurmel der beiden Stimmen hörte: »Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde.

Geboren werden und sterben, pflanzen und ausrotten, das gepflanzt ist.

Würgen und heilen, brechen und bauen.

Weinen und lachen, klagen und tanzen.

Steine zerstreuen und Steine sammeln, Herzen und ferne sein von Herzen …«

Und Lorens lernte, daß immer derselbe Laut dasselbe Zeichen hatte; daß »und« immer »und« hieß, daß »zer – her – fer« sich ähnlich sahen.

Im Herbst des einen Jahres hatten sie so angefangen; im Sommer hatten beide keine Zeit dafür gehabt. Aber im folgenden Winter nahmen sie ihre schwere Arbeit tapfer wieder auf, und als dann der nächste Frühling kam, ernteten sie die ersten Früchte ihrer Mühen. Eines Abends war Jens nicht daheim, als Lorens mit Schollen vom Watt kam.

»Googe?« war heute wie stets seine erste Frage.

In der dunkel verräucherten Küche stand Gondel mit rotgeweinten Augen, und die kleinen Brüder starrten den großen mit offenen Mäulern an.

»So ein Hexenkram!« brach sie los; »ich will das nicht im Hause haben!«

»Was denn, Mutter?«

Sie deutete an die einst weiß gewesene Wand, die nun vom schwarzen Rauch reichlich getönt war. Darin aber standen, wie mit nassem Finger zierlich herausgeholt, ein paar helle Buchstaben in der schönen steilen Schrift der alten Bibel.

»Ach, Mutter, das ist doch kein Hexenkram, tröstete Lorens gutmütig. »Das heißt ja nur: nach Eiern! Dann wird Googe ins Burgtal gegangen sein. Ich habe schon Möwen sitzen sehen, Mutter.«

Aber Gondel ließ sich nicht ablenken; sie schluchzte aus Herzensgrunde, und endlich drückte sich Lorens leise aus Küche und Haus hinaus und lief dem Großvater nach. –

Noch ein anderes lehrte Jens Grethen den Enkel; das zählten beide aber nicht unter die schweren Künste. Er lehrte ihn seine zehn Finger abzuzählen, und als Lorens das erst begriffen hatte, zählte er von selbst weiter, und der Großvater mußte ihm immer neue Zahlen nennen, denn mit zehn kommt man nicht aus, wenn es sich um die Butterblumen im Grase, die Steine im Wall oder die langen Reihen der wilden Enten am hellen Himmel handelt. Dann aber fing Lorens an, die Eier zu zählen, die er fand und die, die der Großvater inzwischen gesammelt hatte, und zählte und zählte, bis er herausbekam, wieviel sie beide zusammen nun nach Hause brachten. Danach aber mußte er rückwärts zählen, so schnell er konnte, denn Mutter Gondel schlug ein Ei nach dem andern am Topfrand entzwei. Als sie endlich die große Pfanne voll hatte, und er den Rest nachzählte, da fand sich's, daß sie beide gleichzeitig auf der sechsunddreißig angekommen waren, und Vater Peter, der über Pfingsten in Rantum aufgelegt hatte, knurrte beifällig dazu. Zählen und Rechnen – ja, das Spiel kannte auch Peter Jens Grethen. Das freute ihn. Da konnte er mittun. Aber er wurde böse, wenn der Junge es schneller riet als er selbst.

Als Peter Jens Grethen fünf Monate später zum Winter heimkam, brachte er ein Buch aus Husum mit, kaum halb so groß als des Großvaters Bibel, aber dafür auch nicht so dick voll von unverständlichen Worten, sondern zwischen den Worten saßen allemal Zahlen in lieblicher Abwechselung wie die Beeren im Heidekraut, und waren die Zahlen gerade wie die Beeren das Schmackhafte an dem Gericht, über diesem Buch aber steckten nicht nur Großvater und Enkel die Köpfe zusammen, sondern auch Peter selbst klaubte daran herum, und wenn Niggels Matzen von drüben kam, konnte der auch nicht davon weg: »Der Schatzkasten« hieß das Buch, und es ging im Dorf von einer Hand zur andern, bis Peter es nicht mehr hergab, weil die Blätter schon herausfielen. Da kamen die Männer zu ihm und hockten in dem kalten Pesel auf Kisten und Truhen und hörten nipp zu, was Jens Grethen ihnen daraus vorklarierte.

»Das tut gut wie ein Schluck Branntwein auf See,« sagten sie, und manch einer nahm den Federkiel, den Jens Grethen ihm zurechtschnitt, und versuchte, die Zahlen nachzumalen, aber der Kiel zerbrach in der harten Faust, und nichts kam dabei heraus als ein mächtiger Klax Rußwasser. Lorens hockte derweil in einem dunklen Winkel, und sein Kopf glühte, wenn er die Männer vom Land und vom Heringsfang reden hörte. Mehr denn je achtete er auf den Wind und die Windzeichen am Himmel, auf den Stand der Sonne und die Bewegungen der Sterne, denn all das mußte er kennen, wenn er auf große Fahrt gehen wollte. Große Fahrt war für ihn der Heringsfang in der Grop zwischen Helgoland und Sylt. Das war das Höchste und Fernste, das er oder einer der Männer im Dorf nur irgend denken konnte. Als der Großvater aber merkte, wie sein Sinn hinaus stand, nahm er ihn bei Nacht an der Hand und führte ihn auf die nächste Düne, und wies ihm die Sterne, wie sonst niemand im Dorf sie kannte, nicht nur den Himmelswagen und den Nordstern, Friggas Rocken und Thors Hammer – nein, er lehrte ihn auch darauf zu merken, wie gefällig sich das Gewusel der kleineren Sterne zu Gruppen und Bildern zusammenschloß. Und indem Lorens all das in sich aufnahm mit der gleichen Begierde, die Jens noch von Greth Skrabbel her wohl kannte, lernte er endlich, was dem Großvater selbst noch schwer fiel: die Stunden der Nacht zu messen nach den wandernden Sternen auch dann, wenn Nebelschleier zwischen Himmel und Erde zogen und die Sternbilder teilweise verwischten.

*


 << zurück weiter >>