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Der Sylter Hahn

Lorens Petersen der Hahn wußte nicht recht, wie er sich halten sollte. In den ersten Monaten des neuen Jahres begab sich nichts Sonderliches, das des verstorbenen Landvogts Besorgnisse gerechtfertigt hätte. So fühlte Lorens sich nicht gebunden, wieder über Sommer auf Sylt zu bleiben; im Gegenteil hätte er es vor sich selbst lächerlich gefunden, sich nur im geringsten um Peter Taken II. zu kümmern, der so behaglich in der Landvogtei saß und den lieben Gott einen guten Mann sein ließ. Auch kam hinzu, daß der Silberberg in Lorens' Geldkiste sichtlich abgenommen hatte; Lorens fand eine neue Auffüllung eigentlich notwendig und gewann allmählich die Überzeugung, daß er wieder auf Grönland fahren müßte. Es war viel Gerede auf Sylt, daß die Holländer in den letzten Jahren viel mehr Glück auf Grönland gehabt hätten als die Hamburger. So entschlossen sich viele, in diesem Sommer einmal in Amsterdam Heuer zu nehmen. Die Brüder Peter und Lütje Haicken versprachen, mit ihrer Schmack die Hollandfahrer zu befördern. Wer mitwollte, mußte sich bei ihnen vormelden.

Lorens schwankte und zauderte so lange, bis er hörte, daß sich bei Peter Haicken schon mehr als achtzig Hollandfahrer gemeldet hätten; es wäre zweifelhaft, ob er überhaupt noch mehr mitnehmen wollte. Da sagte Lorens sich: morgen melde ich mich auch, und das soll mir ein Zeichen sein, ob er mich noch annimmt oder nicht. Am Abend nahm er schon seine Schiffskiste vor, kramte aus, packte ein, und es war ihm ein wunderliches Gefühl, wieder all die Dinge durch die Finger gehen zu lassen, die zu dem Leben da draußen gehörten. Die Kinder schliefen fest hinter ihren Wandtüren, höchstens, daß mal eins im Schlaf sich umdrehte und gegen die Tür bumste. Auch Inge war schon ins Stroh gekrochen, hatte die Türen offen gelassen, und der schwere Atem der schwangeren Frau ging ruhig hin und wieder. Sonst war alles still im Hause. Das Öllämpchen knisterte und sprühte; immer wieder mußte Lorens den Docht herausziehen, im übrigen aber pöselte er stillvergnügt mit seinem Kram herum.

Plötzlich empfand er, daß er nicht mehr allein war. Er sah auf und sah die Stube voll Schatten, wie er sie schon einmal gesehen hatte. Jens Grethen aber trat zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. Da fühlte Lorens, wie seine Kraft von ihm genommen wurde. Ihm war, als strömte sein rotes Herzblut in des toten Mannes Adern ein, und als würde der Schatten immer lebiger. Ihn selbst aber überkam eine lähmende Mattigkeit, und er konnte die Berührung der leichten Hand kaum noch ertragen.

»Googe –« sagte er endlich flehend und wunderte sich selbst, wie lautlos seine eigene Stimme klang.

»Still, Lorens, ich tue dir nichts,« antwortete eine andere Stimme ebenso tonlos. »Ich komme nur in unser aller Namen, dich an dein Versprechen zu ermahnen.«

»Ich versprach nichts, Googe.«

»Wahr, du versprachst nichts. Aber du hattest uns verstanden, als wir schon einmal bei dir waren.«

»Meint Ihr, daß ich daheim bleiben soll, mein lebelang? Ich bin noch jung, Googe, mich zieht es noch nach draußen.«

»Wohl, du sollst auch wieder fahren, aber nicht in diesem Jahr und nicht im nächsten. Tu, was wir dir sagen, wir sehen weiter als du.«

Lorens sann nach.

»Geht es um Sylt, Googe?« fragte er dann.

»Es geht um dich,« antwortete der Tote und zog die Hand von Lorens ab.

Das Lämpchen flackerte und sprühte. Lorens stand auf, um wieder den Docht hochzuziehen. Dabei fühlte er den eigenen Herzschlag so stark und ruhig wie nur je, und als er sich umblickte, fand er sich wieder allein. Er verstaute aber allen Kram in der Kiste, wie er nun schon ein Jahr gelegen hatte, und ging andern Tages nicht zu Peter Haicken, sondern sagte zu Inge: ich bleibe daheim.

Peter Haickens Schmack ging ohne Lorens in See, und fünf Tage später brachte Inge ein kleines Mädchen zur Welt. Das Kind war gesund und gut entwickelt, Inge aber lag in hohem Fieber und schrie, daß ihre Beine abgesägt würden. Als sie endlich zu sich kam, war sie gelähmt, und es dauerte bis zum Sommerthing, ehe sie wieder gehen lernte. Da meinte Lorens zunächst, daß Jens Grethen ihn deshalb auf Sylt festgehalten hätte, aber drei Wochen nach der Geburt der kleinen Inken kam eine Botschaft nach Sylt, die ihn so anpackte, daß er sie gleich unter den Namen Inken auf das erste Blatt seiner Bibel setzte:

»Den 23. Marty ist Schiffer Peter Haicken von Morsum mit sein Schmack mit 85 Persons von Sylt gefahren, gedistennert nach Amsterdam, und haben es den 24. Marty ungefehr die Klock 12 leider Gottes umgezeilt beoosten Amland und sind alzu Mahl versoffen.«

Das gab einen traurigen Sommer und einen trostlosen Herbst. Da war kaum eine Familie, die nicht einen näheren oder ferneren Verwandten beklagen mußte; auch Inges Bruder Moghels war mit untergegangen, und ihr Vater nahm sich seinen Tod so zu Herzen, daß er in wenigen Monaten alt und stumpf wurde. Niemand hatte recht Mut, ein frohes Erntefest zu feiern, und in der Hochzeitswoche konnte Herr Paul, der doch das größte Kirchspiel der Insel betreute, nur zwei Trauungen in sein Kopulationsregister eintragen. Der eine Hochzeiter aber war ein Mann von Seeland, der andere stammte von Föhr. Kein Sylter Mann hätte in diesem Winter seinen Ehestand gründen mögen. –

Den Sommer hindurch hatten die Kriegsgerüchte geschwiegen, oder die Sylter hatten taube Ohren gehabt, sogar Lorens, dem die Tage mit der Landarbeit nur so durch die Finger geglitten waren. Gondel sorgte schon recht verständig für das Vieh, die um zwei Jahre jüngere Cressen unter Aufsicht der kranken Mutter für das Hauswesen, und Klein-Merret für sich selbst. So lawierten sie noch eben den Wall entlang, aber als auf den Winter zu die Mutter wieder selbst Hand anlegen konnte, wehte das Leben doch wieder frischer, und ein Reff nach dem andern konnte losgemacht werden, bis sie endlich mit vollen Segeln aus dem alten ins neue Jahr einfahren konnten.

Als im Herbst die Brüder Hahn von Hamburg heimkamen, sperrte Lorens freilich die Ohren wieder auf, so viel wußten die Brüder von allerlei Kriegsunruhen zu berichten, über die in Hamburg viel geredet war. Die Schweden saßen in Mecklenburg, und die Dänen zogen dorthin; die Russen waren auch unterwegs und wollten den Dänen helfen. Die Schweden aber wurden von Stenbock befehligt, und dem ging der Ruf voran, daß er wohl Dänen und Russen vereint in die Pfanne schlagen könnte.

»Was kümmert uns das alles?« sagte Peter Taken, der neue Landvogt; »ich weiß für sicher, daß Görtz sich ruhig halten will.«

»Wenn Stenbock die Dänen durch Holstein herauftreibt, wird uns Görtz nicht schützen,« meinte Lorens bedenklich, aber Detleff Claußen, bei dem die beiden aus Zufall zusammengetroffen waren, rief ärgerlich:

»Mußt den Teufel nicht an die Wand malen, Lorens. Wer weiß, was deine Brüder in Hamburg gehört haben. Geht eine Heringsgeschichte aus, kommt eine Walfischgeschichte nach Haus – wenigstens bei euch Grönlandfahrern.«

Lorens schwieg, aber als um Neujahr ein Husumer Frachtschiffer die Nachricht mitbrachte, daß Stenbock die Dänen bei Gadebusch geschlagen hätte – vor mehreren Wochen schon – und daß die Dänen auf ihrem Rückzuge schon in Dithmarschen angelangt wären, da machte Lorens sich daran und grub nachts, wenn die kleinen Mädchen schliefen, unter dem Keller ein tiefes Loch, halb so groß wie der Keller selbst und so tief, daß ein ausgewachsener Mann wohl gebückt darin stehen konnte. Das Loch machte er mit Balken sicher, deckte es mit eichenen Bohlen und stampfte wieder Lehm darauf, daß kein Mensch etwas unter dem Kellerboden gesucht hätte. In dies unterirdische Kellerloch tat er die größere Hälfte des Silbers, das er bisher in der Kiste gehabt hatte, und wies Inge, wie sie den Lehm aufschneiden und zwei Bohlen herausnehmen mußte, um zu dem Gelds zu gelangen.

»Meinst du, daß die Kriegsvölker hierher kommen werden?« fragte sie erstaunt.

»Alles ist möglich in der Welt und auf den Eilanden,« gab er zurück. »Heute hörte ich, daß Stenbock in Altona ist. Der es sagte, war ein, Pellwormer. Der hatte es von Tatern, und wenn die braunen Flöhe erst wieder springen, deutet das nichts Gutes. Altona brennt, hatte das Taternweib gesagt. Mag sein – mag auch nicht sein. Vorsicht ist besser als Nachsicht.«

Der Januar ging vorüber und der halbe Februar, dann bekam Lorens den Thingwall ins Haus.

 

»Demnach ick van Avendt spät Befehl bekamen wegen de Brandtschat, deswegen Not Socklich Dinge moth geholden werden, alß werde Jy in Egener Persohn nefenst alle Hußweerden – Morgen am Dingesdage up Middach in Detleff Claussen tho Keytum Huse unuth Blieflich tho Dinge Erschienen und ferner Voraffscheding gewärtigen.

Gott befohlen.
Peter Taken.«

 

»Brandschatzung – da haben wir es!« murmelte Lorens vor sich hin und machte sich andern Tags schon mit Sorgen im Kopf auf den Weg nach Keitum. Bei Detleff Claußen fand er eine große Menge Hausbesitzer versammelt, und es war ein rechtes Geschrei.

»In fünf Tagen ist Petrithing, und heute lädt uns der Landtvogt noch besonders für seinen Kram, als ob wir sonst nichts zu tun hätten, als nach Keitum zu laufen,« sagte ein alter Morsumer Bauer ärgerlich.

»Jee, was soll das auch heißen? Brandschatzung? Ist denn Krieg?« fragte ein anderer.

»Wohl ist Krieg,« antwortete Lorens, weil die meisten der Männer nur schweigend die Achseln zuckten und nicht mehr von den Welthändeln zu wissen schienen als der Fragesteller selbst. »Der Schwede sitzt bei Tönning, und der Däne brandschatzt in Tondern. Görtz hat beiden Freundschaft versprochen und sie keinem gehalten. Nun ist er zwischen Kai und Bordwand gefallen.«

»Der Salzhändler!« rief Jacobus Cruppius und spuckte wütend mitten in die Stube: »Wir müßten die Brandschatzung verweigern und bei der Herzogin Mutter klagen gehen.«

»Ich glaube nicht, daß Görtz die Schatzung ausgeschrieben hat,« begann Lorens noch einmal, doch da kam Peter Taken, und alle scharten sich um ihn. Er sah ängstlich aus und hielt ein gewichtiges Schreiben in der Hand.

»Ja, es ist Krieg,« sagte er zu den auf ihn Eindringenden, ohne erst das Thing ordnungsgemäß zu eröffnen; »und der Herr General-Kriegskommissarius verlangt von jedem Pflug zwei Tonnen Roggen und zwei Tonnen Hafer.«

Ein Augenblick tiefer Stille war die erste Antwort, dann nahm der alte Morsumer Bauer seinen Stock.

»Dennso kann ich wohl gehen, denn was ich an Hafer und Roggen noch habe, reicht so kaum zur nächsten Ernte. Davon kann ich nichts abgeben. Ich meine aber, Peter Taken, deswegen hättest du uns nicht erst nach Keitum zu fordern brauchen.«

»Ihr dürft nicht gehen, Peter Knudten,« sagte der Landvogt hastig und hielt den Alten am Rockknopf; »wenn wir nicht liefern, schickt der Kriegskommissarius uns Soldaten ins Haus.«

»Was ist denn das für ein Kriegskommissarius?« fragte Jan Petersen Hahn aus Rantum; »ist wohl ein Freund vom Salzminister?«

Die andern Rantumer lachten lärmend über den »Salzminister«, aber Peter Taken wies Unterschrift und Siegel seines Schreibens.

»Es ist der dänische Kriegskommissarius von Platen,« erklärte er.

»Was hat der auf Sylt zu brandschatzen? Bei den Raben, das dürfen wir uns nicht gefallen lassen! Der Däne – hoho, noch besser! Sollen wir nicht auch den Schweden füttern?«

So gingen die Reden durcheinander, und Peter Taken seufzte zum Steinerweichen.

»Die Schweden hätten wohl nötig, daß wir sie fütterten; sie sollen bei Tönning schon arge Not leiden.«

»So wollen wir den Schweden schicken, was wir noch entbehren können,« rief Manne Andresen aus Tinnum; »ich gebe sechs Sack Hafer und eine Tonne Butter, auch einen Hammel will ich schlachten. Dem Dänen gönne ich noch längst nichts. Der Schwede ist doch unseres Herzogs Oheim und Freund. Ich will mich wohl nach Tönning einkneifen, wer macht mit?«

Aber es fand sich niemand, der Manne Andresens Opferwilligkeit geteilt hätte. Die meisten traten Peter Knudtens Meinung bei: wir sind froh, wenn wir selbst durch das Frühjahr kommen, wir können nichts mehr abgeben. Sie griffen nach ihren Stöcken, und fast hätte sich die Thingversammlung ohne jeden Beschluß aufgelöst. Lorens sah auf den Landvogt, der völlig verbiestert zwischen den erregten Männern stand, und es fiel ihm ein, wie Steffen Taken seinerzeit von dem eigenen Sohn gesagt hatte: er kann die See nicht halten, wenn schlecht Wetter ist; wenn du nicht Hand ans Ruder legst, werdet ihr bald auf Strand sitzen.

Da trat Lorens vor.

»Ihr Sylter Männer,« begann er laut, und in seiner Stimme lag ein so harter Klang, daß das Gerappel der andern plötzlich verstummte. »Wir wollen doch nicht ohne Beschluß vom Thing fortgehen, sonst haben wir über eine Woche dänische Besatzung auf der Insel. Ob der König ein Recht hat, uns zu brandschatzen oder nicht, danach dürfen wir jetzt nicht fragen. Sein Kriegskommissarius sitzt in Tondern und hat die Macht, uns zu zwingen.«

»Der Schwede soll uns helfen!« rief Manne Andresen dazwischen.

»Das ist eine törichte Rede,« antwortete Lorens scharf. »Der Schwede ist bei Tönning eingeschlossen und kann sich selbst nicht helfen. Im Augenblick bleibt uns nichts anderes, als uns dem zu fügen, der die Macht in Händen hat, und seine Forderungen zu erfüllen.«

»Hört, wie der Hahn kräht,« spottete Manne Andresen.

»Wer weiß, muß sagen,« gab Lorens ruhig zurück. »Ich meine nur, wir dürfen nicht ohne Beschluß vom Thing gehen.«

Einen Augenblick herrschte Stille.

»Wozu rätst du denn, Lorens?« fragte Peter Knudten und sah mit klugen Augen zu Lorens auf. »Ich will niemals wieder Soldaten im Hause haben; das habe ich einmal erlebt und für alle Tage genug davon. Ich habe aber wirklich weder Hafer noch Roggen, wie könnte ich mich lösen?«

»Durch Geld,« antwortete Lorens. »Mir geht es wie Euch. So will ich nach Tondern und dort aufkaufen, was ich liefern soll. Wenn es Euch recht ist, kommt mit. Besser wäre noch, wir täten uns alle zusammen, und der Landvogt führe nach Tondern.«

»Wenn ihr beide mitkommt, will ich es wohl tun,« sagte Peter Taken kleinlaut, und Lorens mußte wieder an den alten Steffen denken: er wird dir noch Dank sagen, wenn du ihm sein Amt verwaltest. –

In diesem Frühjahr dachte Lorens nicht mehr darüber nach, ob er auf Grönland reisen sollte oder nicht. Zu klar lag auf der Hand, daß er auf Sylt erster Steuermann war und auch den Landvogt noch unterm Daumen halten mußte, da das Schiff gegen Wind und Strom ansegeln sollte. Eine Brandschatzung folgte der andern. Heute wurden von jedem Pfluge zehn Tonnen Häcksel gefordert, morgen drei Fuder Heu; dann noch einmal Roggen und Hafer und endlich 8840 Pfund Fleisch und 3267 Stück sechspfündige Brote von der Insel im ganzen. Wieder und wieder mußte Lorens mit dem Landvogt nach dem Festland hinüber, um aufzukaufen, was dort noch zu bekommen war. Als das Festland auch ausgesogen war, mußten sie sich durch bar Geld lösen, das meist viel teurer kam. So wurden die Sylter arm, und endlich waren viele Haushaltungen nicht mehr imstande, den auf sie fallenden Anteil aufzubringen. Um eine Besetzung der Insel zu verhindern, mußten die Wohlhabenden die Ärmeren unterstützen; danach aber ward die Sorge um so größer, wie es weitergehen sollte.

Jedesmal, wenn eine neue Forderung vom Kriegskommissar gekommen war, hatte Peter Taken einen außerordentlichen Thingtag einberufen, und auf jedem Thingtage hatte Manne Andresen stärker dafür gearbeitet, Stimmung für die Schweden zu machen. Nun gelang es ihm endlich, damit durchzudringen, da er selbst seine letzten Vorräte an Lebensmitteln – soweit seine Frau sie nicht vor ihm versteckt hatte – seine Schmack und seine eigene Person an das Wagnis wenden wollte. Er gewann viele Sylter, daß sie ihm an Lebensmitteln anvertrauten, was sie nur irgend entbehren konnten. Damit machte er sich auf nach Tönning, wurde aber unter Föhr schon von einem dänischen Kaper geschnappt. Er wurde in die Gefangenschaft abgeführt und konnte nun zwei Jahre lang in Ruhe und Einsamkeit darüber nachdenken, daß er die Sylter durch sein Unternehmen nicht reicher gemacht hatte. Seine Schmack war er los, so gut wie sie ihre letzten Vorräte.

Inzwischen hatten die Schweden den Hungerriemen immer enger schnallen müssen, bis die Not so arg wurde, daß der Hunger Seuchen erzeugte. Da griff General Stenbock zu einem letzten verzweifelten Mittel. Er schickte einen Soldaten, der ihm treu ergeben war, am frühen Morgen aus mit dem Befehl, ihm das Herz desjenigen zu bringen, der ihm zuerst begegnen würde. Das war aber des Soldaten eigener Bruder, und so treu er auch Stenbock ergeben war, seinen Bruder liebte der Soldat noch mehr und konnte es nicht über sich gewinnen, ihn zu töten. Statt dessen griff er einen schwarzen Pudel, tötete ihn und brachte sein Herz noch warm dem General. Der war sehr erfreut darüber, schloß sich in sein Zimmer ein, tat seine Zaubereien, zerlegte das Herz in vier Teile und aß einen nach dem andern noch warm auf. Am andern Morgen stand der Wall der Festung voll schwarzer Pudel, alle aufrecht auf zwei Beinen mit einem Gewehr zwischen den Vorderpfoten. Hätte der Soldat ein Menschenherz gebracht, so wäre der Wall von bewaffneten Männern besetzt gewesen. So aber konnten die Dänen die Festung stürmen und Stenbock mußte sich ergeben. Von den achtzehntausend Mann, mit denen er in Tönning eingezogen war, waren nur noch elftausend am Leben; die übrigen waren durch Hunger und Pest umgekommen. Stenbock selbst kam als Gefangener nach Flensburg und starb bald danach.

Durch die Übergabe der Stenbockschen Armee wurde König Friedrich IV. von Dänemark Herr über die Gottorffschen Lande. Görtz floh nach Schweden, aber seine bösen Werke folgten ihm nach. Die Herzogin Mutter machte ihm den Prozeß, und ihr Bruder ließ ihn in ihrem Namen hängen. Das alles beendete den Krieg aber keineswegs. Im Gegenteil: Dänen, Schweden und Russen katzbalgten sich ärger als zuvor, und zwei Wochen nach dem Fall von Tönning wurde eine Brandschatzung von dreißigtausend Reichstaler Kronen für das Amt Tondern vom Dänenkönig ausgeschrieben, und als Sylt seinen Anteil nicht zahlen konnte, kamen die ersten dänischen Soldaten auf die Insel. Lorens der Hahn öffnete seinen Geldkeller noch einmal und verbarg darin nun auch die silbernen Becher, die er von David Worms erhalten hatte, einen goldenen Fingerring, der noch von Greth Skrabbel stammen sollte, und Inges silberne Knöpfe.

Die Seefahrer reisten um diese Zeit ab, und die Feldbestellung sollte beginnen. Es wehten aber harte und kalte Winde den ganzen April und Mai hindurch, und als sie endlich einschliefen, und die Sonne nun die Erde erwärmen mochte, war der Boden so ausgedörrt, daß nichts aus ihm hervorwachsen konnte. Das Vieh rieb sich die Mäuler blutig, nur um die spärlichen Grashalme recht genau abzuweiden, und als das Korn endlich hochkam, standen die einzelnen Halme so dünn wie sonst auf Brachland. Die Schmacken und Schuten der Sylter wurden zum königlichen Dienst eingefordert, so daß die Sylter nicht mehr fischen konnten, um wie in anderen schlechten Jahren die Mißernte durch doppelte Fischvorräte wieder etwas auszugleichen. Die Not wuchs im Laufe des Sommers, statt abzunehmen, dann kamen Gerüchte vom Festland herüber, daß alle herzoglich Gottorffschen Beamten durch königliche Beamte ersetzt werden sollten, und Ende August erhielt Peter Taken II. seine Verabschiedung.

Steffen Taken hatte seinen Sohn mehr als einmal Lorens gegenüber einen Narren oder ein altes Weib genannt, und ganz gewiß nicht ohne Berechtigung. Aber Peter kannte doch die Insel und alle Familienverhältnisse der Insulaner, und soweit es in seinen Kräften stand, hatte er einerseits auf Ordnung gehalten und andererseits versucht, die Inseln vor zu schweren Anforderungen zu schützen. So fügte er noch seinem letzten Schreiben an den Kgl. Amtsinspektor Meley zu Tondern, der ihm sein Amt genommen hatte, die Worte an: »Bitte meinen Herrn Justitz Rath, wolle das Landt So viel möeglich mit Exekution Verschonen.« Sein Nachfolger wurde der älteste Sohn des »glücklichen Matthis« von Föhr, Peter Matthißen. Er hatte die Rechte studiert und war in jeder Hinsicht wohl dem guten Peter Taken weit überlegen. Aber er war schon Landvogt von Osterland-Föhr und behielt dieses Amt und seinen Wohnsitz auf Föhr auch in Zukunft bei, so daß er die Sylter Landvogtei gewissermaßen nur im Nebenamt verwaltete. Wohl kam er zum Herbstthing herüber, danach aber legten Sturm und Kälte die Verbindung zwischen den Inseln lahm, und die Sylter waren in der Hauptsache darauf angewiesen, von nun an für sich selbst zu sorgen, so gut sie eben konnten.

Ende Sommers kamen zu allem andern Unheil noch dänische Werbeoffiziere auf die Insel, denn der Krieg fraß nicht nur Geld und Lebensmittel, er fraß auch Menschen. Die Seefahrer waren noch auf der Reise, und wer sonst noch jung und kräftig genug war, die Werber zu fürchten, drückte sich nun noch in Eile zum Seeloch hinaus, so Lorens der Hahn. Bei dunkler Nacht nahm er von den Seinen Abschied, um vor Morgengrauen schon Hörnum zu erreichen, wo er und drei andere Sylter von einer Helgoländer Schaluppe erwartet wurden.

»Hör, Inge,« sagte er, indem er schon den festen Ledergurt über den schweren Ölrock schnallte; »ich nehme kein Geld mit; ich muß wieder verdienen, nicht ausgeben. Aber ängstige du dich nicht, auszugeben, was noch vorhanden ist. Gib lieber alles hin, als daß du dir fremdes Kriegsvolk ins Haus legen läßt.«

Inge schüttelte den Kopf.

»Es hat keinen Sinn, das letzte Geld hinzugeben. Sie nehmen alles und wollen noch mehr. Eher gebe ich das alte Pferd; das junge hat Kraft für zwei. Das bunte Kalb kann ich auch noch schlachten und drei Schafe. Mache dir nur keine Gedanken, wir kommen schon durch –« so redete sie, aber ihr Herz war müde, und endlich legte sie den Kopf an seine Schulter, und ihre Augen waren voll Tränen, wenn sie auch lächelte. »Es war nicht gut, daß du so lange daheim warst. Nun mag ich es nicht mehr, wenn du fortgehst.«

»Nur für ein paar Wochen oder – mag sein – bis zum Erntefest, Inge, aber nicht länger,« tröstete Lorens. »Wir schicken wohl Nachricht oder lassen fragen, ob die Luft wieder rein ist. Dann kommen wir heim. Oder soll ich doch bleiben?«

»Daß du den Werbern in die Hände fällst –!« rief sie und trat von ihm fort. »Ich bin töricht, daß ich dich nicht lassen mag – höre, da kommen die Keitumer schon.«

Es waren die Männer, mit denen zusammen Lorens auf Helgoland fahren wollte. Sie polterten draußen, kamen aber nicht ungern noch einmal ins Warme und tranken das Glas Wein, das Inge ihnen bot. Dann tauschten sie Gruß und Handschlag mit ihr, traten wieder in die dunkle Nacht hinaus, und auch Lorens warf sein Bündel auf den Rücken, um ihnen zu folgen. Er schob noch einmal die Bett-Tür auf und warf einen Blick auf die schlafenden Kinder.

»Wecke sie nicht,« bat Inge; »sie schreien sonst die halbe Nacht hindurch.«

»Die zweite Hälfte der Nacht,« sagte Lorens lachend, »die erste ist schon vorüber. Kriech du nur noch zu ihnen ins Stroh, da hast du es warm und wirst doch auch müde sein. Gute Nacht.«

Er küßte sie eilig, denn die andern waren schon zum Hause hinaus. Inge griff noch nach seiner Hand – da faßte sie schon ins Leere. Einen Augenblick noch hörte sie seinen Schritt auf dem härteren Wege, dann stieß der Südwest sie ins Haus zurück.

Rüstig schritten die Helgolandfahrer aus; kurz vor Rantum, dort wo die Insel am schmalsten ist, überquerten sie die Dünen und gingen dann am Strande weiter. Brausend kam ihnen der starke Südwest entgegen. Lorens atmete tief auf. Die salzige Luft grüßte ihn wie einen Freund. Sonderbar – die gleiche Luft wehte doch auch jenseits der Dünen, oder mischte sie sich drüben schon stärker mit Erd- und Pflanzengeruch? Er fühlte, wie hier draußen wieder alles von ihm abfiel, was ihn so lange gedrückt hatte: die Sorge um die mangelhafte Ernte, die endlosen Steuern und Schatzungen, das Thinglaufen und die Bettelgänge nach Tondern. Nun er sich wieder frei von alledem fühlte, spürte er erst, wie schwer die Last gewesen war. Er warf sein Bündel auf die andere Schulter und reckte sich.

»Schön!« sagte er aus Herzensgrunde.

Die Gefährten lachten.

»Greth Skrabbel!« meinte der eine, aber dann fügte er doch hinzu: »Hast schon recht, Lorens, es tut gut, mal wieder von Mutters Schürzenzipfel loszukommen.«

»Die Frauen können mit dem Kleinkram besser fertig werden,« tröstete der zweite sich selbst und die Genossen. »Sie sind allemann lieber mit einem alten Wagen auf Land, als mit einem neuen Schiff auf See. Aber das liegt uns nicht – hee, Lorens?«

»Wir müssen wieder Geld schaffen,« sagte Lorens ernst; da schwiegen sie.

Vor Hörnum Odde mußten die Wanderer wieder nach dem Watt hinüber. Das lag wie ein blankgeputzter Silberspiegel unter dem Morgenhimmel, dessen Helligkeit das Nahen der Sonne verkündete. Lorens kam die Lust an, noch einmal »Schön!« zu rufen, aber er schluckte den Ausruf doch beizeiten wieder herunter. Südlich des Buder riß die Helgoländer Schaluppe im scharfen Wattstrom an ihrem Anker. Als die drei Männer sich zeigten, löste der Junge das kleine Beiboot, in dem er saß, und ließ sich vor dem Flutstrom zum Buder treiben. Es war keine Zeit zu verlieren. Die Flüchtlinge mußten an Bord, ehe das Wasser zum Stehen kam. Die Schaluppe mußte den Ebbestrom nützen, um durch die Vortrapptiefe in die offene See hinauszukommen; gegen Wind und Strom konnte sie bei dem Südwest nicht an.

Lorens dehnte die Nüstern und schnupperte wie ein Pferd, das auf fette Weide kommt. In den letzten Jahren war er genug im Watt herumgeschiffert, aber eine gute Nordseedünung unterm Kiel fühlte sich doch – bei den Raben! – anders an. Um seine Jungensfreude zu verbergen, fing er mit Bart Rickmers, dem Helgolander, ein Gespräch an, aber der war nicht eben mitteilsam.

»Es gibt verflucht wenig Fische vom Jahr,« meinte er; »konntet ihr nicht bleiben, wo ihr wart?«

»Die Werber saßen uns auf den Hacken; kommen sie auch aufs Land?«

»Das nicht, aber ein paar von uns haben sie in Husum geschnappt.«

»So könnt ihr uns doch gut brauchen.«

»Wohl, wohl, wenn es nur mehr Heringe gäbe!«

»Ihr habt um Gottes Segen Krieg geführt, deshalb kommt er nicht mehr zu euch.«

»Um die Rochen haben wir uns nie gestritten, und doch sind in diesem Frühjahr kaum ein paar Dutzend zu uns gekommen. Ihr Sylter habt im Winter Brot und Speck und Milch. Wenn uns der Fang mißrät, haben wir nichts als Hunger.«

»Der Schellfisch kann noch kommen.«

Darauf antwortete Bart Rickmers nicht mehr, sondern spuckte nur ausdrucksvoll einmal in See. Er mußte nun aufpassen, um die Westbrandung von Hörnumsand herumzukommen. Nur das kleine Sturmsegel durfte er setzen, und doch bog sich der Mast, daß er ächzte. Bart Rickmers legte beide Hände überm Ruder zusammen: »Unser Herrgott helfe uns mit Glück zu unsern Lieben nach Haus!«

»Amen!« antworteten die andern, nur Lorens sprach es nicht aus. Dieser alte Helgolander Spruch war ihm ein Gruß wie der starke Südwest. Eine mächtige Bewegung schnürte ihm die Kehle zu. Ihm war, als führe er wieder in die eigene Jugend zurück, und bei den »Lieben zu Haus« dachte er an Jens Grethen und nicht an Inge.

»Ist es dir recht, Googe, daß ich wieder auf Helgoland fahre?« fragte er in seinem Herzen, und ihm war, als lächelte der Alte zur Antwort. –

Der Sommer war hart. Auf Helgoland hockte das Grauen vor einem hungrigen Winter an jedem Herd. Der Schellfisch kam zur rechten Zeit, aber das Wetter war immer unruhig und der Fang nicht so ergiebig, wie er wohl hätte sein können. Auch kosteten die Fahrten nach Hamburg zu viel Zeit, und in Husum saß immer noch der Däne. Dazu kam, daß die weiße Klippe in den letzten Jahrzehnten erschrecklich schnell abgenommen hatte und im Winter vorm Jahr von einer hohen Flut ganz fortgerissen war. Allerdings hielt der Wall zwischen Land und Düne noch, aber sein Bestand war nur noch eine Frage der Zeit, und wenn er auch brach, hatte Helgoland keinen sichern Hafen mehr. Die Gottorffer hatten seinerzeit allerlei Befestigungen an der Südwestecke des roten Felsens angelegt. Auch diese waren zusammengestürzt – »und wenn die Dänen kommen« – fügte Bart Rickmers hinzu und vollendete den Satz nur mit einem Achselzucken.

Lorens hörte das alles mit an, aber machte sich weiter keine Kopfschmerzen darum. Er fuhr mit Bart Rickmers auf Part und war Tag für Tag glücklich, wenn er nur die Nordsee unterm Kiel spürte; weiter dachte er nicht. Im Herbst brachte er drei Taler mit heim und zwei Säcke voll getrockneter Fische, aber er fand, daß er einen guten Sommer gehabt hatte, und Inge war es auch zufrieden. Die Grönlandfahrer waren fast alle mit leeren Taschen heimgekehrt; von denen, die mit den Helgolandern gefischt hatten, waren zwei auf See geblieben, und die dänischen Werber hatten fünf Sylter geschnappt, die gemeint hatten, sich auf der Insel selbst verbergen zu können. So war Lorens noch ganz gut gefahren, aber kaum war er daheim, so fühlte er wieder die Last der Sorgen und des Elends.

Nicht, daß Inge ihm das Leben schwer gemacht hätte. Seit sie wieder ein Kleines gehabt hatte, schien sie ihren Kummer um Peters Tod verwunden zu haben. Sie war gleichmäßig freundlich, oft heiter, wenn sie auch nicht mehr so lachen konnte wie in jüngeren Jahren. Aber auch sie mußte das Brot dünn schneiden und konnte nur selten einmal den Kindern Sirup zur Grütze geben. Und daß es ihnen immer noch besser ging als allen Nachbarn ringsum, das drückte Inge, wie es auch Lorens belastete. Die dänischen Werber waren abgezogen mit ihrem magern Fang. Sie hatten nicht recht begriffen, daß die meisten der Männer zum Herbst heimkehren würden. Die Frauen hatten geredet, als blieben sie alle noch auf Jahre hinaus draußen. So war die Luft rein, und die Sylter konnten in Ruhe den Winter daheim verleben. Aber wer zur See fährt, kann gut essen, und wo in einem Hause zwei oder gar drei Junggäste sich an den Tisch setzten, da spürte die Mutter bald, wie kärglich die Ernte gewesen war. Wenn die Juden, die im Herbst mit ihrem Kram zur Insel kamen, nicht berichtet hätten, daß es auf dem Festlande noch viel schlimmer aussähe, würde Lorens seinen Geldkeller aufgetan haben, um Korn zu kaufen. Aber so – was nützt das Geld, wenn im ganzen Lande die Lebensmittel knapp sind? Man kann die Silberstücke nicht essen. Die zwei Säcke voll getrockneter Fische, die Lorens mit heimgebracht hatte, freuten Inge mehr, als wenn es zwei Säcke voll Silberlinge gewesen wären.

Hunger und Not gingen über die Insel. Auch die Feuerung war knapp. Im Sommer hatten sich gelbe Ameisen auf den Weiden gezeigt. Die hatten den Schafkötel gefressen, daß nur die leeren Häutchen liegen geblieben waren. So hatten die Leute die noch kaum trockenen Kuhfladen brennen müssen und hatten zum Winter fast nichts als lose Heideplaggen. Brotkorn und Grütze gingen zu Ende, fast ehe der Winter recht begonnen hatte, und manch einer mußte die Milchkuh schlachten, weil er auch für sie kein Futter mehr beschaffen konnte. Inge hatte vorgesorgt, indem sie – kaum daß Lorens den Rücken gekehrt hatte – das zweite Pferd abgeschafft und eine alte Kuh gegen Futter getauscht hatte. Aber die wenigsten Frauen dachten so weit wie Inge; sie sahen erst Land, wenn der Löffel schon auf dem Topfboden kratzte. Wäre das Wetter nicht so schlecht gewesen, hätte man noch Fische oder Vögel im Watt fangen können. Aber fast ohne Unterbrechung wehten starke Westwinde, und das Watt stand so hoch, daß die Vögel kaum zur Ruhe kommen konnten. Als Lorens nach Rantum ging, um zu sehen, ob er seiner Mutter irgendwie helfen müßte, wußte die alte Frau nichts weiter als:

»Unser Herrgott segne den Strand.«

»Müßt Ihr nicht sagen, Mutter. Was auf Strand kommt, ist nicht ohne weiteres unser.«

»Wenn ich hungere, ist alles mein, was ich essen kann.«

Lorens seufzte. So dachten wohl die meisten Sylter, aber Jens Grethen hatte anders gesprochen.

»Hungert Ihr denn, Mutter? So soll Jan doch ein Schaf schlachten.«

»Nur zum Essen? Das fehlt noch! Auch mag ich kein Fleisch.«

»Wollt Ihr Fische? Inge soll morgen welche bringen.«

Die alte Frau schwieg vermuckt. Im Grunde genommen fehlte es ihr an nichts. Seit Jan ihr eine Schwiegertochter ins Haus gebracht hatte, war sie aufs beste versorgt. Die junge Frau hatte eine gute Hand fürs Vieh. Sie hatten zwei Schweine geschlachtet, und der Grünkohl stand üppig hinterm Haus. Von den Schafen konnten sie gut noch ein oder das andere ans Messer nehmen, und Milch hatten sie immer noch genug. Nur an Grütze und Brotkorn fehlte es hier wie in allen andern Häusern, und Mutter Gondel gehörte zu denen, die immer nur nach Unerreichbarem Hunger haben.

Als Lorens abends bei Inge in der Küche saß, war er so still und sein Gesicht so dunkel, daß Inge die Kinder früh ins Bett jagte und den beiden Männern – denn Niggels hauste immer noch mit ihnen – eine Pfeife stopfte.

»Mußt dir nicht mehr Sorgen machen, als Not ist, Lorens,« sagte sie dabei. »Güter der Welt sind Ebbe und Flut unterworfen.«

»Wohl, und auf die tiefsten Ebben folgen die höchsten Fluten,« antwortete er bitter. »Das ist Altweiberweisheit. Ich meine, man muß auch den Ebbestrom nützen.«

»Wie das?«

Lorens sog an seiner Pfeife.

»Statt zu jammern und den lieben langen Tag strandjen zu gehen, sollten die Leute lieber die leere Zeit nützen, um tüchtig zu lernen. Aber es kommen weniger zu mir als vorm Jahr.«

»Jee –« meinte Niggels und zog den Ton so lang wie eine Reise nach Ostindien. »Du bist zu streng, Lorens. Bei diesem Wetter könnte doch jeden Tag ein Schiff auf Strand kommen.«

»Und wenn es käme –?«

Niggels bewegte unbehaglich die Schultern in seiner Wolljacke.

»Jee – Lorens –«

»Jawohl – jee, Lorens,« äffte der ältere Bruder ihm zornig nach. »Ihr meint wohl, weil wir keinen Landvogt auf Sylt haben, könnten wir gut drei Drittel von jeder Strandung nehmen.«

Niggels antwortete nicht mehr, und schweigend rauchten die Männer weiter, während Inge mit den Töpfen klapperte. Endlich klopfte Niggels seine Pfeife aus und ging mit kurzem »Gute Nacht zusammen« aus der Tür. Da sah Lorens auf.

»Mir ist angst, Inge,« sagte er wie ein Kind, das sich vor der Dunkelheit fürchtet.

»Mußt nicht, Lorens. Es steht nirgend ganz so schlimm, wie die Leute tun.«

»Magst recht haben; aber schlimmer, als sie ertragen können, ist schlimm genug, und die wenigsten können es noch lange ertragen.«

»Weil sie nicht beizeiten vorsorgten.«

»Und weshalb taten sie es nicht? Doch nur aus Dummheit. Unklug sind sie und unwissend, aber wenn man ihnen die Hand bietet, daß sie etwas lernen sollen, dann haben sie keine Lust.«

»Mußt Geduld haben, Lorens,« sagte Inge tröstend, und nach einer Weile: »Ist es das allein, was dich drückt?«

Lorens biß auf seine leere Pfeife.

»Sie hoffen alle auf Strandsegen.«

Über Inges Gesicht ging ein heller Schein.

»Wenn es Brotkorn wäre –« sagte sie leise.

»Denkst du auch so?« rief Lorens schmerzlich, »Ach, Inge, was an unsern Strand kommt, ist die Frucht von eines andern Menschen saurer Arbeit. Niemand aber erntet ungestraft, wo er nicht gesät hat.«

»Wenn Gott es uns schickt?«

Lorens stand auf und riß das kleine Fenster auf. Er hatte es so eingerichtet, daß man es aufmachen konnte, ohne es doch ganz herauszunehmen. Ihn kam es manchmal an, daß er sehen wollte, was draußen vorging. Jetzt war nichts vorm Hause als die schwere Dunkelheit einer Regennacht, aber er steckte den Kopf durch die Luke, als erstickte er drinnen. Dann schloß er das Fenster wieder mit ruhigerer Hand.

»Ist es wirklich Gott, der uns das Strandgut schickt?« fragte er nachdrücklich. »Denk' doch, wie wenig von jenem Holländer übrig blieb, um den der Rantumer Strandvogt abgesetzt wurde. Sechs Tonnen Goldes soll die Ladung wert gewesen sein. Eine halbe mag der Amsterdamer Jude gerettet haben, wenn's hochkommt. Wo ist das andere Gut geblieben?«

»Ich weiß nicht,« antwortete Inge und horchte auf das Heulen des Windes, das von einer wilden See sprach. »Ich meine nur: wenn es doch einem Schiff bestimmt ist, aufzulaufen und es hat Brotkorn – höre nur den Sturm! Ich glaube, Niggels ging auch noch aus.«

Lorens horchte hinaus, dann wollte er nach seiner Mütze greifen, aber Inge kam ihm zuvor und hielt seine Hand fest.

»Bleib bei mir, mir ist angst,« bat sie erregt. »Wenn es so windet, muß ich immer an Peter denken. Jetzt könnte er bald schon als Junge fahren.«

»Das wäre zu schwer für ihn gewesen, er hätte noch längst nicht die Kraft dazu. Glaub mir, ihm ist wohler da, wo er ist.«

»Aber wo ist er? Wo?« rief Inge und brach in Tränen aus. »Im Himmel, sagt Pastor – ach, so weit weg, und ich habe ihn doch immer noch lieb.«

Da kam es über Lorens, daß er sie zu sich auf die Bank zog und ihr von seinen Gesichten sprach.

»Sie sind alle bei uns, die wir lieb hatten im Leben; sie helfen und raten uns. Wenn ich nicht auf Jens Grethen gehört hätte, würde ich mit Peter Haicken vor Ameland geblieben sein. Sieh, Inge, und das ist es, was mich jetzt ängstigt. Ich sah wieder Jens Grethen und sehe Steffen Taken und auch Niß Bohn –«

»Siehst du sie jetzt auch?« unterbrach ihn Inge schauernd und drückte sich eng an ihn; »siehst du mein Pidderke?«

»Ich sehe nicht, wie du meinst, aber ich sehe, daß sie mich warnen. Es hängt Unheil über dem Strand – ah mei, ich wünsche, daß alle, die uns lieb sind, reine Hände behalten. Wünsche du nicht, daß uns Brotkorn am Strande wächst; es ist Teufelssaat.«

Die Tür sprang auf. Es war einer ins Haus gekommen. Als Lorens hinausging, fand er Muchel Carstensen, den alten Strandvogt, der nun ganz allein den Westerländer und Rantumer Distrikt versorgte.

»Was ist?« fragte Lorens im Innersten erschreckt, aber der Alte sah ihn nur erstaunt an.

»Was soll sein? Ich bringe den Kessel zurück, den Inge meiner Tet gestern lieh. Ob ihr nicht morgen unsern Schlachterpunsch kosten wollt, läßt Tet euch fragen.«

Inge bat ihn in die warme Küche, und der alte Mann saß behaglich schwatzend eine gute Weile bei ihnen.

»Schlecht Wetter draußen,« sagte er, als er sich endlich wieder aufmachte. »Ich muß morgen an den Strand, aber es ist ja rein wie verhext – bei all dem Sturm kaum ein Spierchen Wrackholz nun schon den ganzen Herbst.«

Er ging, und Inge rieb sich die Augen.

»Uh jee, bin ich müde!«

»Geh schlafen,« sagte Lorens und horchte nach draußen. »Wenn der Strandvogt nicht wacht, muß ich es tun.«

»Mußt du?«

»Ja – sie – sie quälen mich.«

Inge fragte nicht weiter. Diesmal hielt sie auch seine Hand nicht fest, sondern ließ ihn die Mütze, ließ ihn seinen Stock greifen und half ihm nur sorglich, die im Winde schlagende Haustür wieder zu schließen, als er in die dunkle Regennacht hinausstrebte. Dann holte sie sich Klein-Inken und kroch mit ihr ins Stroh, um doch etwas Warmes, Lebiges bei sich zu haben. –

Von nun an duldete es Lorens keine schlimme Nacht mehr im Hause. Wenn Inge es ihm auch noch so warm und gemütlich daheim machte – je mehr der Wind draußen heulte, desto weniger litt es ihn drinnen. Unter dem Lachen der Kinder und dem Schwatzen der Nachbarinnen horchte er hinaus, als riefen ihn heimliche Stimmen, und wenn spät abends das Haus still wurde, nahm er Mütze und Stock und ging hinaus. Manchmal kam er bald zurück, ehe Inge noch recht eingeschlafen war. Meist aber blieb er fast die ganze Nacht draußen und kroch erst gegen Morgen müde und erschöpft ins Stroh. Inge war oft unheimlich zumute. Ihr schien, als hätte er kaum noch einen eigenen Willen. Aber sie ließ ihn gewähren, denn wenn sie allein schlief, sah sie wohl ihr Pidderke im Traum – lachend, gesund und kräftig, wie er im Leben niemals gewesen war.

Das Jöölfest kam heran, und Inge richtete einen Schmaus, schöner noch als in anderen Jahren. Sie meinte, da der ganze Winter so kümmerlich war, müßte sie einmal den Kindern auch ganz besonders Gutes gönnen. Sie hatte noch einen Krug Sirup im Hause, den gab sie in eins dran, obgleich er sonst wohl für zweimal gereicht hätte. Das gab einen Jubel und ein Geschlecke. Die Kinder klebten fast aneinander, so hatten sie sich mit dem süßen Zeug eingeferkelt, und Niggels-Ohm, der immer Narrenkram im Kopf hatte, brachte ihnen bei, wie sie sich gegenseitig ablecken sollten. Das gab ein Geschrei und Gequieke, daß Inge sich mit beiden Händen die Ohren zuhielt. Und Lorens lachte, bis ihm die Tränen aus den Augen traten.

Dann – mitten im tollsten Lärm – fing er wieder an, hinauszuhorchen. Es war böses Wetter und – kein Zweifel – der Wind drehte nach Westen und ging immer mehr auf. Lorens wollte die Fensterluke öffnen, aber Inges stummer Blick hielt ihn zurück.

»Nicht heute,« bat dieser Blick. »Bleibe nur heute nacht bei uns, es ist Jöölfest, Christabend, da wird doch nichts geschehen.«

Lorens ließ die Hand sinken und blieb. Er zwang sich, in die Lust der Kinder einzustimmen, und fast war es, als vergäße er seine Unruhe, da Merret, die sein Liebling war, ihm auf die Knie kletterte und lachend fragte:

»Willst du mich auch mal lecken, Vater?«

»Küssen will ich dich, mein Pummelke,« rief er und nahm das mollige Ding in die Arme, sein Gesichtchen, sein blondes Haar, seinen kleinen Speckhals mit Küssen bedeckend. Die Schwestern schrien vor Vergnügen, weil Merret verzweifelt strampelte, denn das Küssen war nicht ihr Fall. Als der Vater sie endlich losließ, lief sie zu Inge und barg weinend ihr Gesicht in der Mutter Schürze:

»Nun mußt du mich aber ganz waschen!«

Niggels lachte und Inge auch, aber nun sprang Lorens auf.

»Ich kann sie nicht weinen hören, es klingt wie Peter –« und als Gondel nun auch den Mund verzog, griff er doch nach Mütze und Stock. »Nein, Inge, ich bleibe nicht fort. Ich will nur einmal sehen, ob Muchel Carstensen vielleicht unterwegs ist. Es ist ein fliegender Sturm vonnacht.«

Das war es. Als Lorens hinauskam, sprang ihm der Sturm entgegen, als wollte er ihn ins Haus zurückdrücken. Aber Lorens stemmte sich gegen ihn und ging zu Muchel Carstensen hinüber. Da war das Haus voll, denn Muchel hatte eine Menge erwachsener Kinder und eine ganze Hetze Enkel. Seine Tet aber hatte gerade wie Inge gemeint: wenn der ganze Winter so kümmerlich ist, muß der Jöölschmaus doppelt schön sein. So hatte sie reichlich gegeben und von jedem das beste. Sie kamen Lorens mit vollen Branntweingläsern entgegen.

»Wo bleiben Niggels und Inge?«

»Bei den Kindern. Ich wollte Euch nur anbieten mitzukommen, wenn ihr vonnacht noch hinaus müßt, Muchel Carstensen.«

Der Strandvogt starrte Lorens mit offenem Munde an.

»Hinaus? Heute nacht? Ich denke gar nicht daran. Es ist ja pechfinster. Ich bin ein alter Mann, ich sehe nicht die Hand vor Augen. Wenn du gehen willst, so tue es nur; du stiehlst mir schon keine Balken.«

Die andern lachten lärmend, aber die alte Tet sagte mit ihrer zittrigen Stimme:

»Am Christabend sind alle Engel draußen.«

»Zum Jöölfest sind auch böse Geister unterwegs,« gab Lorens hart zurück. Dann wandte er sich: »Gute Nacht zusammen.«

Draußen stand er einen Augenblick zaudernd still. Sollte er Inge noch sagen, daß er nun doch an den Strand gehen mußte? Ach nein, sie würde ihn zu halten versuchen, und er konnte doch nicht zu Hause bleiben, wenn draußen so böses Wetter war. Ob er sie davon überzeugen könnte? Dann würde sie es auch wohl ohne Worte verstehen, wenn er fortblieb, besser, als wenn Niggels dabei war und die Kinder. Er bohrte die Fäuste in die Augenhöhlen, um das liebliche Bild zu verscheuchen, das ihn heimlocken wollte. Da rührte etwas leise seine Knie, und in dem matten Schein, der aus Muchel Carstensens Fenstern in die dunkle Nacht hinausfiel, bemerkte er Rolf, des Strandvogts großen Hund, der ihn meistens auf seinen Gängen begleitete.

»Willst du mitkommen?« fragte Lorens, und der Hund stieß ein kurzes Bellen aus.

»Ja, ja.«

»So komm; mag sein, daß wir umsonst gehen, dann können wir nachher ruhig schlafen.«

Es tat Lorens gut, seine eigene Stimme zu hören. Ein Druck lag auf ihm, der seinen Herzschlag lähmte und ihm die Kehle zusammenschnürte. So sprach er mit dem Hunde, der verständig sich dicht neben ihm hielt, statt auf Köterart hin und wider zu springen. Lorens nahm den Kurs steil West, um so schnell wie möglich den Strand zu erreichen. Ihn wunderte, daß im alten Krug kein noch so spärlicher Lichtschein zu sehen war. Wo konnte die blöde Ingeborg sich in einer solchen Nacht herumtreiben? Denn das Wetter war schlimm. Der Regen schüttete nur so herunter, und der Wind fuhr hinterdrein, daß die Tropfen wie Peitschenhiebe des Wanderers Gesicht trafen. In den Dünen war es noch schlimmer. Der Sand flog in Wolken, so naß er war, und winselnd kroch der Hund hinter Lorens drein. Als sie an den Strand hinunterkamen, riß der Himmel auf. Ein paar Sterne traten klar in die Lücke, und über den brechenden Wellen lag eine matte Helligkeit.

Langsam ging Lorens bis an den Saum der Wellen hinunter, dann wandte er sich nach Norden, um erst den Westerländer Distrikt bis an die Grenze von Kampen hin abzuschreiten. Aber als er wenige Schritte gegangen war, blieb der Hund heulend stehen, und gleichzeitig verstärkte sich die Angst, die Lorens an der Kehle saß, so sehr, daß der Schrecken ihn herumriß. Er packte den Hund fest, nahm das wollene Langtuch, das er selbst um den Hals gewickelt hatte, ab und band das eine Ende dem Hunde um den Hals; das andere behielt er fest in der Hand. Er war jetzt sicher, daß er etwas finden würde und dachte, daß ihm des Hundes gute Nase vielleicht dabei nützen könnte. So wollte er ihn nicht missen, wenn ihm nun auch der Regen in den Hals schlug und in Bächen über Brust und Rücken rann. Ihn schauerte; dann wieder war ihm glühheiß wie im Fieber. Er schaute aus, daß ihm die Augen schmerzten, und allmählich lernte er in der Dunkelheit sehen, wie er es noch nie gekonnt hatte.

Heulend fuhr der Sturm über Mensch und Tier hin. Donnernd brachen sich die Wogen ihm zur Seite. Lorens hörte nichts von alledem. Er war nur Auge. Seine ganze starke Manneskraft richtete sich ausschließlich auf das Sehen, und er war noch kaum mehr als eine halbe Stunde nach Süden hinunter gegangen, so fand er, was er suchte. Nicht gar weit vom Strande zeichnete sich über dem tosenden dunklen Wasser deutlich der schwarze Rumpf eines Schiffes ab; ein langer Mast stach schräge in die hellere Himmelswölbung hinauf.

»Er schlägt nicht mehr, so liegt er wohl fest,« sagte Lorens zu dem Hunde. »Das ist vor zwei Stunden bei Hochwasser aufgelaufen – ein Gotteswunder, daß die Rantumer noch nicht dabei sind.«

Ein paar Schritte weiter lagen Bretter und Balken auf dem Strande, daneben eine runde Wollmütze. Lorens hob sie auf.

»Sieh, die ist auf Sylt zu Hause. Die stammt nicht vom Wrack,« meinte er und hielt sie dem Hunde an die Nase. Der roch daran, fuhr mit der Nase auf den Sand, roch wieder und stieß einen leisen Laut aus, halb Winseln, halb Heulen, der Lorens ein kaltes Entsetzen überjagte.

»Such, Rolf – such, gutes Tier.«

Der Hund fuhr mit der Nase hin und her. Wo die Mütze gelegen hatte, waren die Wellen darüber hingegangen, und der schlagende Regen hatte danach den durchlässigen Sandboden ausgelaugt. Lorens nahm den Hund kürzer und führte ihn in flachem Bogen nach den Dünen hinauf. Plötzlich jaulte der Hund laut auf und strebte dann mit der Nase voran wieder den Wellen zu. Lorens ließ ihn gewähren.

»So gut – so brav – ja, mein Hund, nun zurück – ah mei, hier haben sie etwas geschleppt wie einen Sack. Wohl – wohl – hier die Dünenschlucht hinauf – ins Deichtal?«

Unter Mann und Hund öffnete sich ein weites flaches Tal, das Deichtal, auf friesisch: Dikjendääl, nach dem Rest eines vorzeiten zerstörten Deiches so genannt, der vom Watt her auf dies Dünental zuschnitt. Über die Dünenkette jagte der Sturm, so daß Lorens sich nicht halten konnte. Er stolperte den Abhang hinunter und riß den Hund mit. Der heulte mit borstig gesträubtem Haar, fuhr mit der Nase im Kreise umher, fand die Spur, verlor sie wieder und wurde nur immer aufgeregter.

»Ruhe, mein guter Hund, der Sack war schwer, sie können noch nicht weit sein. Und wenn sie bis Rantum gelaufen sind, wir holen sie doch noch ein.«

Aber alles Zureden nützte nichts. Der Hund heulte wie rasend, riß das wollene Langtuch mitten durch und jagte davon. Wenige Augenblicke später tönte ein wütendes Bellen und der kreischende Schrei einer Weiberstimme. So schnell ihm die Dunkelheit und der holperige Boden erlaubten, folgte Lorens dem Hunde, aber all sein Pfeifen und Rufen stillte des Hundes Bellen nicht. Als er ihn fast erreicht hatte, klang ein anderer Ton dazwischen, ein hilfloses Weinen, und zu seinem Erstaunen fand Lorens neben sich in einer Erdkuhle ein zusammengekauertes Menschenwesen. Der Hund aber stand einige Schritte davon entfernt und verbellte ein anderes Wild.

»Lorens – Lorens, der Hund frißt mich!«

»Er denkt gar nicht daran – Ingeborg Claußen?« rief Lorens erstaunt. »Was tust du hier in einer solchen Nacht? Mach, daß du nach Hause kommst.«

Sie weinte.

»Sie hatten mich zum Jöölschmaus geladen, aber das Haus war leer. Ich ging an den Strand – huh, da waren schwarze Männer – Angst – Angst –«

»Geh nach Hause,« wiederholte Lorens. »Still, Rolf, was hast du da?«

Der Hund wandte sich mit leisem Knurren um. Vor ihm auf weißem Sandfleck lag ein dunkler Gegenstand. Lorens hob ihn auf und ließ ihn im gleichen Augenblick mit einem Schrei des Ekels und Entsetzens wieder fallen – es war eines Menschen Hand.

Wieder knurrte der Hund, denn die blöde Ingeborg kroch heran.

»Das ist mein, der Ring ist mein, sie warfen ihn mir zu –«

»Wer?«

»Die schwarzen Männer – uuha, sie hackten die Hand aus dem Sande, wo sie den Sack untergegraben hatten. Das ist mein Julklapp, aber der Hund wollte mich beißen, da warf ich es fort – gib her, Lorens, es ist mein Ring –«

»Wo haben die Männer den Sack vergraben?« fragte Lorens heftig, aber die blöde Ingeborg antwortete nur: »Gib mir den Ring, den Ring – du bist ein Dieb – huh, Lorens Hahn ist ein Dieb!«

Sie griff nach der Hand, aber der Hund packte sie am Rock. Schreiend riß sie sich los und war gleich darauf in der Dunkelheit verschwunden.

Mit Mühe überwand Lorens seinen Ekel und hob die Hand auf. Es war eine harte, von Sonne und Wetter gebeizte Schifferfaust. Am Daumen saß ein breiter Ring – Lorens stutzte. Hatte er diesen Daumen mit diesem Ring nicht schon einmal gesehen? Wo nur? wo?

»Such – such –« rief er dem Hunde zu, aber obgleich der um und um fuhr, konnte er doch keine Spur mehr finden.

Endlich gab Lorens es auf und ging nach Westerland zurück. Die Unruhe war von ihm genommen, aber er trug schwer an seinem grausigen Fund, als hätte er selbst einen Mord begangen. In des Strandvogts Hause war immer noch Licht hinter allen Fenstern. Da trat er ein. Drinnen war lustiges Leben. Sie rauchten und tranken, die jüngeren Leute tanzten in dem engen Raum, und die Alten riefen ihnen lärmend Beifall.

»Hee, Lorens –« rief der Strandvogt gutgelaunt – »hast schnelle Beine, wenn sie dich derweil nach Hörnum hin und wieder zurücktrugen. Nun zeig auch, was du gefunden hast.«

»Ja,« antwortete Lorens und warf die Hand auf den Tisch mitten zwischen Becher und Krüge. »Dies fand ich.«

Sie traten lärmend näher, lachend, neugierig. Dann verstummte das Lachen, und die Gesichter wurden fahl.

»Eine Hand – eines Menschen Hand – sieh nur, sie blutet noch –«

Die Frauen fingen vor Angst an zu weinen. Muchel Carstensen traten die Augen stier aus dem Kopfe. Lorens drehte die Hand um, daß der Daumen zu oberst lag.

»Kennt einer den Ring? Mir ist, ich müßte ihn kennen, aber mein Kopf ist schwer, ich kann mich nicht besinnen.«

Die Männer schoben die Frauen zur Seite und beugten sich über den Tisch. In dem Schein der Lampe glänzte am Daumen der Hand ein plumper Silberring, matt geworden von Alter und Salzwasser. In der Mitte verbreiterte er sich zu einer Platte. Auf der war eine Marke eingeschnitten: ein langer Stab mit zwei kurzen Querbalken.

»Tetten –?« sagte einer der Söhne Muchel Carstensens halb fragend; da griff plötzlich ein anderer, der jüngste von ihnen allen, nach der Hand und hob sie hoch an das Licht.

»Manne Tetten aus Archsum,« rief er. »Das ist Mannes Ring – so wahr ich lebe! – meiner Frau Bruder.«

Die junge Frau stieß einen schrillen Schrei aus und drängte sich vor.

»Manne – oh, wie kommt doch sein Ring an diese Hand?«

Alle schwiegen auf diese Frage, bis endlich Lorens die Antwort gab:

»Wessen der Ring war, des wird auch die Hand sein.«

»Die Hand –« wiederholte die junge Frau wie blöde. »Die Hand –? Aber die ist doch nicht – es kann doch nicht – wo ist denn Manne? Um Gott, Lorens, wo ließest du Manne?«

»Ihn fand ich nicht.«

Sie starrten ihn alle an.

»Sprich, Lorens,« forderte Muchel Carstensen; »wie fandest du die Hand? Du kannst doch nicht die Hand ohne den Mann gefunden haben?«

»Dein Hund war mit mir gelaufen, der spürte sie auf. Ich hatte diese Mütze am Strande gefunden. Da liegt ein Wrack, Muchel Carstensen, Ihr werdet in aller Herrgottsfrühe hinaus müssen.«

»Die Mütze, die Mütze,« drängte Manne Tettens Schwester, »weise sie mir, kann sein, daß ich sie kenne.«

Lorens gab sie ihr, aber in gleicher Art wie diese waren wohl hundert Seemannsmützen auf Sylt gestrickt. Die junge Frau wandte sie um und um und konnte doch kein Zeichen finden.

»War Manne denn so spät noch auf See?« fragte Lorens.

»Er war vorm Jahr mit seiner Schnack und fünf andern Sylter Mann von den Dänen aufgegriffen und zum Kriegsdienst gezwungen,« erklärte sein Schwager. »Einmal hatten wir Botschaft von ihm aus Esbjerg, das ist aber lange her. Seitdem wußten wir nichts von ihm.«

Plötzlich fing die junge Frau an zu weinen.

»O Gott, o Gott, wenn Ran sie gefaßt hätte – Peter war mit ihm und Schwenn und drei Morsumer. Aber das ist doch nicht möglich, nicht wahr? Wie könnte die Hand allein auf Strand kommen?«

»Ich fand sie nicht am Strande; der Hund jagte sie in den Dünen der blöden Ingeborg ab,« sagte Lorens und berichtete genauer, was er erlebt hatte. »Mich dünkt,« schloß er endlich, »da bleibt kein Zweifel: die Strandgänger haben einen Sylter Mann erschlagen.«

Ein Grausen, wie sie es noch nie empfunden, machte sie alle schweigen. Ein Totschlag an einem wildfremden Schiffbrüchigen verübt – je nun, das war keine gute Sache. Was die Väter in ihrer Jugend einst ohne viel Gewissensangst getan, davon mochten heute die Söhne nicht mehr recht etwas wissen. Aber es war doch ein Ding, das immer noch im Bereich der Möglichkeit lag, und wenn es sich um ein Schiff voll Brotkorn gehandelt hätte, dann hätte es unter denen, die eine hungrige Kinderschar im Hause hatten, wohl wenige gegeben, deren Gewissen vor der Tat gesprochen hätte. Ein Mord an einem Sylter Mann hingegen – davor graute ihnen allen. Das war, als erschlüge man den eigenen Bruder.

»Und warum?« sagte Lorens bitter. »Nicht um Brotkorn für die Kinder. Nicht aus Notwehr, denn es müssen zwei gewesen sein, die den einen fanden. Um keiner andern Ursache willen, als weil ihr alle das Strandjen nicht lassen könnt und sprecht: was der Teufel uns zuwirft, darum brauchen wir doch nicht zu arbeiten.«

Damit ging Lorens aus dem Hause. Der Wind aber riß ihm die Tür aus der Hand und warf sie hinter ihm zu, daß sie krachte.

Am andern Morgen vor Tau und Tage kam der Strandvogt ihm ins Haus und bat ihn, mit hinauszukommen und suchen zu helfen. Der alte Mann war so verwirrt und verbiestert, daß er Lorens leid tat. Aber er schluckte sein Mitleid herunter und stellte sich kurz angebunden, denn, dachte er bei sich, Manne Tetten ist es, dem Unrecht angetan wurde, nicht Muchel Carstensen. Er brachte kaum die Zähne auseinander, als der andere ihm einen »guten Morgen« bot.

Der Hund wartete schon vor der Tür und mehrere von Muchel Carstensens Söhnen und Schwiegersöhnen. Auch ein Bruder des Manne Tetten war dabei; es hatte sich über Nacht schnell herumgesprochen, was geschehen war. Sie zogen allemann zum Kruge und forderten Ingeborg Claußen auf, mitzukommen.

»Ich mag keine Mannsleute mehr,« sagte sie mürrisch. »Lorens hat meinen Ring gestohlen, und wer mich zum Jöölabend einlud, hat mich vor der Tür sitzen lassen.«

»Wer lud dich ein?« fragte der Strandvogt gespannt; sie aber griente:

»Eeh, du nicht, Muchel Carstensen. Macht, daß ihr weiterkommt.«

Da holte Lorens einen blanken Silberling aus der Tasche und ließ ihn im Morgenschein spielen.

»Den sollst du haben, Ingeborg, wenn du mitkommst.«

Sie griff danach, aber er schob ihn wieder in den Hosensack.

»Hinterher,« sagte er ruhig. Da ging sie mit.

Sie stiegen über die Dünen und gingen den Strand hinunter. Doch ehe sie noch das Wrack erreichten, fanden sie eine Leiche an der Flutgrenze. Ein Möwenschwarm ging davon auf, als der Hund bellend darauf lossprang. Aber der tote Mann hatte die Nase in den Sand gedrückt, so daß das Gesicht noch völlig unverletzt war. Sie drehten ihn um, und Bo Tetten zuckte zurück, als er ihn erkannte.

»Es ist Rink Uwen aus Mörsum; er fuhr mit meinem Bruder.«

So wußten sie, daß es das Wrack von Manne Tettens »Hoffnung« war, ehe sie es noch erreicht hatten. Der Sturm war abgeflaut, am hellen Himmel stand noch der abnehmende Mond, aber hinter den Dünen war schon die Sonne aufgegangen, und ihre Strahlen färbten die letzten schwimmenden Wölkchen und das atmende Wasser mit zartrötlichem Glanze. Das Wrack lag auf dem Strande nicht anders als ein zerbrochenes Kinderspielzeug. Still und friedlich war das ganze Bild; es sah nicht aus, als hätten hier vor wenigen Stunden verzweifelnde Menschen um ihr bißchen Leben gerungen.

Vier von den Männern blieben am Strande zurück, um – sobald das Wasser vollends gefallen sein würde – nach dem Wrack hinauszuwaten. Den andern wies Lorens die Stelle, wo er die runde Mütze fand und den Weg über die Dünen, den ihn der Hund geführt. Alle Spuren der Nacht hatte der stürzende Regen verwischt, aber mit den andern Männern folgte auch das blöde Weib, und als Lorens auf eine Erdkuhle deutete und sagte: »Hier fand ich Ingeborg –« nickte sie eifrig mit dem Kopfe.

»Du warfst die Hand fort, als der Hund dich verbellte?« fragte der Strandvogt. »Wo hattest du die Hand gefunden?«

»Nicht gefunden,« antwortete Ingeborg gekränkt; »geschenkt! Julklapp, riefen sie, da ist ein Ring für dich, schöne Ingeborg.«

»Welche sie?«

»Schöne Ingeborg – hei, bin ich noch so schön, Muchel Carstensen? Aber Lorens hat mir den Ring gestohlen.«

»Ich gebe dir einen silbernen Taler dafür, wenn du mir sagst, wer dir den Ring gab.«

»Still – still,« flüsterte sie und sah sich ängstlich um. »Schwarze Männer – sind das Teufel? Weiße Augen, weiße Zähne –«

»Sie werden sich die Gesichter mit Ruß geschwärzt haben,« meinte Lorens achselzuckend; dann wandte er sich wieder an Ingeborg. »Die Teufel haben den Sack vergraben, sagtest du gestern. Zeige uns, wo sie gruben.«

»Gibst du mir noch einen Taler?«

»Nein, nur diesen,« antwortete er und hielt ihn hoch, daß er im Sonnenschein blitzte. »Aber erst sage: wo gruben die Männer?«

»Da – da,« rief Ingeborg und deutete auf die nächste Düne.

»Wo da?«

Sie humpelte hin und stieß mit ihrem Stock in ein Sandloch.

»Da!«

»So fang!« sagte Lorens und warf ihr den Taler zu. Sie fing ihn auf, küßte ihn und rieb ihn an ihrer Jacke. Dann schwatzte sie weiter, während die Männer ihre Spaten ansetzten und mit dem Graben begannen.

»Der Sack war tot und war lebendig. Hoho – die Hand kam immer wieder hoch. Die schwarzen Teufel traten darauf, aber hoho – kam sie nicht wieder hoch? Den Ring soll Ingeborg haben, sagte die Hand, ich will zu Ingeborg. Da nahm der Teufel ein Beil und schlug die Hand ab und warf sie mir zu: Julklapp, schöne Ingeborg! Huh, siehst du das Blut?«

Sie hob ihren Rock, der voll schwarzer Flecken war, und die Männer sahen mit finsteren Blicken darauf.

»Verfluchte Hexe,« sagte Bo Tetten und wischte sich den blanken Schweiß von der Stirn. »Sie haben Manne lebendig begraben, die Satanskerle. Wenn man nur aus ihr herausbringen könnte, wer es war!«

Sie gruben über Mannesmaß tief und fanden nichts. Aber als sie Ingeborg darum hart anließen, sagte sie mit starrem Blick:

»Was ein Teufel vergräbt, fällt gleich in die Hölle.«

»Sie mag recht haben,« sagte Muchel Carstensen und nahm einen herzhaften Schluck Branntwein. »Ich muß an den Strand zurück, wenn ihr hier weiter graben wollt –«

Aber sie wollten alle lieber einen Bergelohn verdienen und zogen ab. Nur Lorens blieb mit Bo Tetten zurück. Sie gruben hier noch und dort ein Sandloch auf, aber sie fanden nirgend eine Spur.

Am Wrack war das Suchen erfolgreicher. Das Schiff hatte keine Ladung gehabt, aber in der Kajüte fanden sich Papiere, aus denen hervorging, daß Manne Tetten eine erkleckliche Anzahl dänischer Kronen aus seinem erzwungenen Kriegsdienst gezogen hatte. Auf dem Schiff selbst wurde aber kein Geld gefunden, so mußte man wohl annehmen, daß er es bei sich getragen hatte, als er das Schiff verließ.

Die Stille nach dem Sturm war nur eine vorübergehende Flaute gewesen. Gegen Abend schon ging der Wind wieder auf, und die nächsten Fluten schlugen das Wrack in Trümmer. In den darauf folgenden Tagen aber trieben die Leichen von Peter Tetten und dem Jungen Schwenn aus Archsum, sowie die von Nickels Teides und Peter Bohn aus Morsum am Kampener Stranddistrikt an. Nur die des Manne Tetten kam nie wieder zum Vorschein.

Es schien aber, als ob dies Ereignis die schlafenden Gewissen der Sylter geweckt hätte. Der Brudermord quälte jeden Einzelnen, als hätte er selbst ihn begangen. Ein paar vorwitzige Junggäste, die gegen Abend durchs Deichtal gegangen waren, kamen mit schlotternden Knien zu Ingeborg Claußen und verlangten einen Schnaps. Hinterher erzählten sie, daß sie Manne Tetten dort gesehen hätten, wie er den handlosen Armstumpf gen Himmel reckte. Sie gingen umher und sammelten Geld und Lebensmittel, um sie der Witwe zu bringen. Und hatte vorher jeder laut über die eigene Not geklagt, so suchte nun jeder schweigend des andern Not zu lindern.

Das Grauen ging über die Insel. Nicht nur im Deichtal selbst, auch an andern Orten wurde das blutige Gespenst des Manne Tetten gesehen. Es zeigte sich am Strande, daß die Strandläufer sich verjagten, und in einer bitteren Nacht klopfte es auch bei Lorens Hahn an.

»Ich weiß –« stöhnte er gequält; »ich spielte mit meinem Kinde, so kam ich zu spät, dich zu retten;« und er erwachte in Schweiß gebadet. –

Nicht nur die Brüder, auch andere Seeleute, die den Winter über aufliegen mußten, kamen nun wieder zu Lorens, um zu lernen, was er sie lehren konnte. Jacobus Cruppius tat es ihm nach und gründete zu Keitum eine Schule, und in Tinnum fing Heik Erken an zu unterrichten. Es regte sich ein Eifer wie nie zuvor, und als der Landvogt von Föhr zum Petrithing herüberkam und von des Ok Tükkis neuem »Besteckbuch« sprach, bat Lorens ihn, ihm eins zu verschaffen, um seinen Unterricht weiter auszubauen.

Das Petrithing hatte allen Sylter Männern als ein Schrecken vor der Seele gestanden. Sollte der Föhrer Landvogt erfahren, was am Jöölabend auf Sylt geschehen war? Aber der Landvogt kam und fuhr wieder ab und wußte nichts von Manne Tettens Geschick. Wer sollte für ihn sprechen? Wer sollte beschuldigt werden? Es fand sich niemand, der Manne Tettens Geist am Thingtage beschwören mochte. Dem neuen Landvogt aber ward es nicht so schwer, wie er vorher gedacht hatte, sich mit den für störrisch und bockbeinig verschrienen Syltern im Guten zu einigen.

Nicht lange nach dem Petrithing – kaum, daß der Frost aus dem Boden gezogen war – fingen die beiden Brüder, mit denen Aaners und Niggels Petersen Hahn durch Jahre zusammen gehaust hatten, an, sich ein Haus zu bauen. Ihre Hütte fiele ihnen über dem Kopf zusammen, und die Düne drückte das Strohdach ein, sagten sie. Aber das war seit Jahren schon so gewesen, und nie hatten sie Geld für ein anderes Haus aufbringen können. Wie sie nun dazu kamen, begriff niemand recht. Sie waren im Herbst mit leeren Taschen von Hamburg gekommen wie die andern Grönlandfahrer auch. Sie bauten aber nicht aus altem Wrackholz und Heideplaggen, wie in diesen armen Zeiten manche taten, so daß sie mehr in einem Erdloch als in einer Hütte zu wohnen kamen. Nein, die Brüder nahmen richtig einen Zimmermann an und ließen sich Backsteine von Husum kommen; sie nahmen von Anfang an Maß auf zehn Fach, setzten das Haus auf eine tüchtige Warf und ließen reichlich Geld draufgehen. Jedermann sah es und wunderte sich heimlich, aber niemand sprach darüber. –

Früher als in andern Jahren segelten in diesem die Sylter Schmackschiffe nach Hamburg und Amsterdam. Die Männer mußten Geld verdienen, und die Weiber waren froh, sie loszuwerden. Die kleinen Kinder und alten Leute fraßen alle zusammen nicht halb das, was ein noch nicht voll ausgewachsener Junggast allein verschlingen konnte, und die Männer wollten auch nicht hungern. So war es ein Segen, wenn sie erst zum Seeloch hinausfuhren. Die Weiber hungerten sich immer noch genug ab, um es den kleinen Kindern geben zu können, und die alten Leute wurden mit harten Worten satt gemacht. Konnte einer die Kost nicht vertragen – je nun: Mann über Bord ist ein Fresser weniger; die alten Leute schafften ja auch nichts mehr.

So kamen die Daheimgebliebenen durch das Hungervierteljahr – wenn auch nicht alle, so doch die meisten. Die Seeleute aber fanden alle Stellen, wo sie mit Vorteil Heuer nehmen konnten. Im Laufe des letzten Jahres hatten fast alle am spanischen Erbfolgekriege beteiligten Nationen zu Utrecht Frieden geschlossen. Freie Flagge, freies Gut und freier Handel, das war die Losung, unter der von nun an alle europäischen Schiffe fahren durften, und der Erfolg zeigte sich schnell. In erster Linie kam er wohl England zugute, aber auch Dänemark und die deutschen Hansastädte blühten auf. In Hamburg war der Markt für theoretisch vorgebildete Seeleute in diesem Frühling vortrefflich. Nun konnten die Inselfriesen weisen, was sie von Ok Tükkis gelernt hatten. Noch waren die Föhrer den Syltern überlegen, aber Lorens der Hahn schwor sich zu, daß er seine Landsleute auf dieselbe Stufe bringen wollte, und als er mit Jacobus Cruppius darüber sprach, blies der ins gleiche Horn.

Immerhin schnitten die Sylter gut genug ab in diesem Frühjahr; sie fanden alle gute Stellen. Nur Lorens der Hahn sah sich enttäuscht. Er hatte nicht anders gemeint, als wieder auf Grönland fahren zu können. Als er aber zu Worms und Rüscher kam, fand er keinen Platz mehr frei auf ihren Schiffen. Eins hatten sie vor zwei Jahren im Eise eingebüßt, und der Verdienst der andern war so gering gewesen, daß sie es noch nicht hatten ersetzen können. Die andern aber fuhren die gleichen Kommandeure wie im vorigen Sommer. Worms und Rüscher nahmen nicht Veranlassung, einen der andern hinauszusetzen, nur um den Hahn wieder auf einem ihrer Schiffe über Deck krähen zu lassen. Auch die andern Grönlandfirmen hatten ihren Bedarf an Kommandeuren gedeckt, ehe Lorens anfragte, und etwa noch einmal als Steuermann zu fahren, das kam ihm erst gar nicht in den Sinn.

So entschloß er sich endlich, ein Anerbieten anzunehmen, das ihn zum Kapitän eines Handelsschiffes machte. Zwar dünkte es ihm kläglich, nur so in der Welt herumzuschiffern ohne den Anreiz der großen Jagd. Aber das Anerbieten war im übrigen besonders günstig, er konnte nebenher auf eigene Faust Handel treiben und, wenn ihm das Glück hold war, mit gutem Gewinn heimkehren. Die Reise ging zwischen Hamburg und Bergen hin und wider, brachte Flachs und Hanf, leinene Tücher und mancherlei Kolonialwaren hinauf, und Heringe und Stockfische wieder herunter. Die Firma, für die Lorens fuhr, war von gutem alten Ruf, und der Verdienst reichlich, denn Lorens hatte das Glück, in Bergen einen Landsmann zu treffen, eben jenen Bo Steffens, der seinen Vater, den alten Landvogt, ins Grab gebracht hatte. Der war nun in Bergen gut angekommen und auf dem besten Wege, ein wohlhabender Mann zu werden. Ein Sylter Mann geht über vier Juden, sagten seine Geschäftsfreunde, wenn er sie über den Löffel barbierte. Bo Steffens nun konnte Lorens manchen Rat geben und gab ihn gut und reichlich, wenn auch nicht gerade uneigennützig.

»Schaff' mir Branntwein, dann seife ich dir die Brüder noch ganz anders ein,« sagte er, und Lorens sah keinen Grund, weshalb er nicht mit Bo Steffens ein gutes Geschäft in Branntwein machen sollte. Sie schoren beide dabei ihr Schäflein – heißt das: die armen norwegischen Schiffer, denen Bo ihre Stockfische abschwatzte – denn Bo Steffens machte keinen Versuch, auch Lorens den Hahn über den Löffel zu barbieren.

Das ging so ein – zwei – drei Sommer hintereinander. Dann war die schlimmste Not auf Sylt überwunden. Der Däne regierte nun die Sylter, und schlimmer als den Salzminister fanden sie ihn auch nicht. Es wurde wieder ruhig im Lande, Lorens Hahn grub seinen Geldkeller auf und schüttete hinein, was er verdiente. Dann schloß er ihn nur durch einen Lukendeckel, denn es kam kein fremdes Volk mehr nach Sylt, und das war allen die Hauptsache. Was schert uns König oder Herzog? sprachen die Sylter untereinander, wenn sie einmal – was nicht oft geschah – auf diese Dinge zu sprechen kamen; wir sind Sylter, und unser Reich ist die See, das lebendige Meer – ah mei, arm ist her Mensch, der immer auf festen Boden treten muß. – Allmählich aber rang sich mehr und mehr die Erkenntnis bei ihnen durch, daß es nicht genügt, für die See geboren zu sein, sondern daß der Mensch auf ihr auch laufen lernen muß, so gut wie auf festem Boden. In jedem Dorf taten alte Seeleute den jüngeren ihre Haustür auf: kommt und lernt, was ich mir mühsam errang. Da hockten Väter und Söhne beisammen über Formeln und Berechnungen, und Ok Tükkis »Besteckbuch« war fast in jedem Hause zu finden.

Die beiden Brüder, die mit Aaners und Niggels Hahn zusammen in der Hütte unterm Sand gelebt und sich später ein schönes Haus gebaut hatten, kamen zu Lorens:

»Dürfen wir auch bei dir lernen?«

»Mein Bruder Manne wohnt euch näher.«

»Er sagt, sein Pesel sei voll, er könne keine Schüler mehr annehmen.«

»So ist mein Haus übervoll,« antwortete Lorens und sah an ihnen vorüber.

Der ältere Bruder fuhr hoch.

»Was willst du damit sagen?«

»Die Wahrheit –« und da Inge soeben in die Stube trat, fragte er sie: »Wieviele kommen zu mir zum Lernen?«

»Achtzehn Junggäste außer den Kindern.«

»So seht ihr wohl, daß mein Haus übervoll ist. Schafft euch doch selbst Bücher an, daraus könnt ihr so gut lernen, wie ich es für mich einst tat.«

Die Brüder zogen ab, und Inge sah ihnen mit halbem Blick nach.

»Ihr Haus zerfällt, kaum daß es fertig geworden ist. In den Stuben sitzt der Schwamm. Das Rohrdach muß nach jedem Wind geflickt werden, und man sagt, daß in den neuen Balken schon der Totenwurm pickt.«

»Sie kamen, um mich zu bitten, und doch hatte ich ein Gefühl, als wären sie mir feindlich,« antwortete Lorens nachdenklich.

»Kein Wunder,« rief Inge. »Hättest du Manne Tettens Hand nicht gefunden, so wäre er verschollen geblieben, und niemand dächte an Mord.«

»Inge – um Gott, wahr' deinen Mund! Du weißt nichts und kannst nichts beweisen.«

»Ich bin nicht die einzige, die so spricht: wie kommt es, daß dies neue Haus so bald verfällt? Es ist von Blutgeld erbaut, da halten Steine und Holz nicht zusammen.«

Lorens schwieg, und nach einer Weile sprach Inge wie aus seinen Gedanken heraus:

»Hättest du die Hand nicht gefunden, so wäre der Schrecken nicht über die Insel gegangen, und wir würden auch heute noch von dem leben, was uns der Teufel auf den Strand wirft.« Sie trat zu ihm und legte ein buntes Gestrick vor ihn auf den Tisch: »Sieh, was Gondel schafft. Der Jude gibt ihr bares Geld dafür.« –

Nein, Inge war nicht die einzige, die sich über den Verfall des neugebauten Hauses wunderte, und als erst einmal das Wort »Blutgeld« gedacht war, ging es auch von Mund zu Munde, obgleich jeder sich hütete, es laut auszusprechen. Als diese Stimmung erst die Kinder ergriffen hatte, war kein Halten mehr. In einer dunklen Nacht prasselte ein Steinhagel gegen die Fenster, von denen kaum eines heil blieb. Durch die leeren Höhlungen aber fuhr dann nicht nur der Wind, sondern faule Fische und tote Katzen flogen den Brüdern in die Stuben, ohne daß sie die Übeltäter je erwischen konnten. Die roten Backsteinmauern wurden von allen Mathematikschülern von Rantum als Schreibtafeln benutzt, auf denen sie mit Kreide ihre Formeln ausrechneten. An den Balken und Türpfosten erprobte jeder Sylter die Güte seines Messers. Die stattlichen Kühe im Stall fraßen gutes Heu, aber Maren Taken, die Hexe, melkte sie in ihren eigenen Eimer, und die Brüder konnten keinen Tropfen Milch aus den strotzenden Eutern ziehen. Dazu kam ein Unglück nach dem anderen ins Haus, an dem niemand die Schuld trug. Die blöde Ingeborg, die den Brüdern haushielt, weil sich sonst keine Frau auf der Insel dazu fand, wurde von einem ungebärdigen Pferde vor die Brust geschlagen, daß ihr Herz zersprang und sie auf der Stelle tot umfiel; die Schafe wurden von einer hohen Flut geholt; die eine Kuh brachte ein totes Kalb zur Welt; die Schweine wollten nicht fett werden, trotz Molken und Fischfutter.

Immer mehr befestigte sich bei allen Syltern die Überzeugung, daß die beiden Brüder die Mörder des Manne Tetten wären und seinem Gelde ihren Wohlstand verdankten. Aber niemand stellte sie unter Anklage, kein Nachbar ließ ihnen gegenüber ein Wort fallen, das seine Meinung verraten hätte. Auf dem Petrithing war es, als trügen die Brüder die Pest in ihren Kleidern. Wo sie gingen und standen, war ein leerer Raum um sie, aber wenn sie von sich aus sich an die anderen wendeten mit einem Wort, einer Frage, so trafen sie auf glatte Mienen und kalte Augen.

Eines Abends saß Jey, die Witwe des Manne Tetten, noch spät am Herdfeuer und strickte, wie die meisten Weiber jetzt taten, die auch ihrerseits Geld ins Haus schaffen wollten. Da trat ein kaum mittelgroßer, aber starker Mann mit finsterem Gesicht zu ihr in die Küche; eine brandrote Narbe lief ihm über die rechte Schläfe.

»Kennst du mich, Jey?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich bin Jan Petersen Hahn. Wir Rantumer wollen nicht, daß die Mörder Manne Tettens noch länger auf Sylt leben.«

»Wollt ihr die Klage vor den Landvogt bringen? Das hättet ihr am Petrithing tun müssen.«

»Der Landvogt würde uns nicht hören. Wir haben jeder Spur nachgeforscht; es gibt keine Beweise, und nur auf ›frommer Leute Reden‹, wie früher, hört heute kein studierter Landvogt mehr.«

»Was wollt ihr dann tun? Man kann Blut nicht mit Blut abwaschen.«

Jan Petersen Hahn zog einen Gegenstand aus seinem Wams und legte ihn vor Jey Mannen hin. Die Frau schrie halb erstickt auf.

»Die Hand – die Hand – wie ist es möglich, daß sie noch lebt? Habt ihr sie wieder ausgegraben?«

»Höre,« sagte Jan und klopfte mit der Hand auf den Tisch; »sie ist aus Holz. Muchel Carstensen hat sie geschnitzt den Winter durch. Er konnte das Bild nicht loswerden, seit sie auf seinem Tisch gelegen hatte. Du weißt, er ist geschickt mit dem Messer; hat er nicht das Kanzelbort in der Westerländer Kirche geschnitzt mit Herz und Kreuz und Anker? Nun fand er einen braunen Baumknorren im Tuul, fast wie eine geballte Faust. Da hat er mit dem Messer nur nachgeholfen, und jeder, der sie sah, schrie auf, wie du tatest.«

Die Frau stand aufrecht am Tisch, sah auf das hölzerne Schnitzwerk, und die Tränen rannen ihr still über das bleiche Gesicht. Endlich überwand sie sich und nahm die Hand auf, drehte und wendete sie langsam und betrachtete sie von allen Seiten. Dann ging sie hinaus, und als sie nach einer Weile zurückkam, trug sie einen kleinen Gegenstand in der hohlen Hand. Es war ihres Mannes silberner Daumenring; sie schob ihn selbst auf das hölzerne Schnitzwerk und gab es Jan Petersen Hahn zurück.

»Nimm,« sagte sie ruhig. »Das war es doch, was ihr von mir wolltet.« –

Der folgende Tag war ein Sonntag, und wie immer im Winterhalbjahr waren alle Kirchen der Insel bis auf den letzten Platz gefüllt. Auch die Rantumer Kirche, obgleich der Pastor nach wie vor über die Köpfe seiner Pfarrkinder fortpredigte, als stände er in einem Kohlgarten. Aber die Leute hörten ernsthaft zu und standen steif und aufrecht da, auch die Alten, die unter der Predigt schliefen. Wem es zu lang wurde, der ging wohl ein Weilchen vor die Tür und kam erst zum Segen wieder herein. Aber wer auf sich hielt, der hielt auch aus und steckte höchstens einen Priem zur Unterhaltung in die Backe oder tauschte Meinung und Gegenmeinung über Wind und Wetter. Die meisten nahmen Sonntag für Sonntag die gleichen Plätze ein.

Am dritten Fenster der Männerseite standen an diesem wie an jedem anderen Sonntag die beiden Brüder, die das Sylter Volk für die Mörder des Manne Tetten hielt. Sie sprachen lauter als andere die Worte der Liturgie, blieben an ihrem Stand, so lange auch die Predigt währen mochte, priemten nicht und schwatzten nicht. Aber sie sahen mit finsteren Gesichtern vor sich zu Boden oder auf den Pastor, denn auch hier in der Kirche fühlten sie einen leeren Raum um sich her, obgleich die anderen Männer ihnen so nahe standen, daß sie sie fast berührten.

Mitten unter der Predigt klopfte es dicht neben dem älteren der beiden Brüder von außen an das Fenster. Gleichgültig lenkte er den Blick dorthin, dann wurde er aschfahl. Eine der kleinen grünen Glasscheiben war aus dem Fenster herausgefallen. In der Lücke aber zeigte sich – zeigte sich –

Er packte seinen Bruder am Arm.

»Sieh – sieh –!«

»Was denn?«

»Nun ist es fort – Gott Dank!«

»Was hast du denn?«

»Nichts – nein, es war wohl nichts.« Doch hafteten seine Blicke wie festgebannt an dem runden Loch, und plötzlich sah auch der jüngere Bruder, daß von außen eine Hand hineingriff – eine Hand mit einem silbernen Ring am Daumen.

»Siehst du auch die Hand!« fragte er, und seine Augen wurden stier.

Manne Petersen Hahn, der ihm zunächst stand, drehte sich nach ihm um, als hätte der Mann ihn angeredet.

»Hee?«

»Nichts, nichts,« sagte der ältere Bruder mit grauem Gesicht, aber der jüngere wiederholte lallend:

»Siehst du auch die Hand?«

»Welche Hand?« fragte Manne erstaunt.

»Die Hand im Fenster –«

»Da ist keine Hand.«

»Doch – nein, jetzt ist sie fort – Gott Dank!«

Der Pastor predigte unentwegt, was er sich hinter seinen Büchern zurechtgedacht hatte, und andächtig lauschte die Gemeinde seinen schönen Worten, von denen sie kaum eines verstand. Da klopfte es wieder am Fenster, und der ältere Bruder packte den Arm des jüngeren:

»Halt's Maul, was du auch sehen magst,« raunte er ihm zu, aber Manne Petersen Hahn drehte sich doch nach ihnen um und stieß dann seinen Nachbar an:

»Sieh die beiden, die haben guten Branntwein im Haus, scheint mir.«

»Hee?«

»Ja, sie sehen eine Hand im Fenster; du auch?«

Manne hatte seine Stimme so wenig gedämpft, daß sich noch mehrere andere nach ihm und den Brüdern umdrehten.

»Da ist wohl ein dummer Junge außen vor.«

»Nein, nein, es ist eine Männerhand,« sagte der jüngere Bruder, und seine Knie schlotterten. Die Männer drängten sich an ihn.

»Wo denn? Draußen in der Luft? Eine Hand allein?«

»Nein, hier innen am Fenster –« er stöhnte, denn der ältere Bruder preßte seinen Arm wie in einem Schraubstock.

»Hier ist doch keine Hand? Ihr habt einen sitzen,« lachte Manne Petersen Hahn, unbekümmert um den predigenden Pastor auf der Kanzel, und die um ihn standen, stimmten ein: »Wo ist da eine Hand? Wie sieht sie aus?«

»Eines Mannes Hand, sagst du?« half Aaners ein, als er sah, daß der jüngere wieder sprechen wollte.

»Seht ihr sie nicht?« stöhnte der und sah mit verglastem Blick auf das Fenster. »Der Ring – oh Gott, der Ring!«

»Welcher Ring?« fragte ein alter Mann und trat näher.

»Seht ihr nicht, wie die Sonne darauf scheint? Der silberne Ring am Daumen – oh, Gott Dank, nun ist es wieder fort!«

»Einen silbernen Ring auf dem Daumen trägt niemand auf der Insel, seit Manne Tetten ermordet wurde,« sprach der Alte schwer. »Was ist's, daß ihr seine Hand seht?«

Die Brüder sahen sich wirr um, wie aus schrecklichem Traum erwacht. Sie sahen die Augen der ganzen Gemeinde auf sich gerichtet, und in jedem lasen sie die gleiche Frage: Was ist's, daß ihr Manne Tettens Hand seht? Dann öffneten sich vor ihnen die Reihen der Andächtigen, und die beiden Brüder gingen durch sie hindurch, ohne daß einer sie angerührt hätte. Der Pastor auf der Kanzel aber hob seine Arme, und die Leute sanken in die Knie.

»So kniet nieder und empfanget den Segen Gottes! Der Herr segne euch und behüte euch, der Herr erhebe sein Angesicht und gebe euch seinen Frieden.«

Er hob die Finger und machte das Zeichen des Kreuzes. Rauschend und scharrend erhob sich schwerfällig die Gemeinde. Dann schob sich alles zur Tür hinaus, und draußen auf dem Friedhof kam tropfenweise das Gespräch wieder in Gang.

»Schöne Predigt, hee? Was unser Pastor nicht priestern kann!«

»Wohl, wohl – ich glaub' wahrhaftig, der Wind geht nach Süden.«

»Einen Mond müssen wir sicher noch warten, ehe die Elbe eisfrei ist.«

»Ich will auf Amsterdam.«

»Hast du gehört, daß auf Föhr ein Englischmann ist, der Grönlandkommandeure sucht?«

»Hee? Was? Nein, was soll das?«

»Lorens Hahn hat vom Landvogt eine Anfrage gehabt. Ich geh' vontage noch zu ihm.«

»Ein Englischmann – wunderlich!«

Sie sprachen alle von Schiffahrt, und die Weiber strebten zu ihren Kochtöpfen. Niemand fragte den Brüdern nach, niemand warf auch nur einen Blick auf das stattliche Haus, das immer noch das neuste im Dorf war und doch so seltsam verfallen und öde aussah. Am anderen Tage waren die Brüder verschwunden, und als sie nicht wiederkamen, ging Maren Taken, die kluge Hexe, hin, löste das Vieh und stellte die Stalltür auf. So gingen Pferde und Kühe hinaus auf die Außenweiden, wenn es sie hungerte, und kamen die Kühe mit vollem Euter nach Hause, wurden sie von den Ärmsten im Dorf gemolken. Die Pferde fing wohl eine oder die andere gelegentlich zur Feldarbeit ein, aber niemand wollte das Vieh regelrecht betreuen, und so verkam es bald. Das stattliche Haus aber verfiel. Ein Märzsturm riß Löcher ins Rohrdach; der Regen schlug hinein. Es waren noch nicht drei Jahre vergangen, da zeigte nur noch ein Trümmerhaufen die Stätte an, wo es gestanden hatte. Von den Brüdern aber kam nie wieder eine Kunde nach Sylt.

*


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