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Der Freier

Früher als in andern Jahren kam Lorens Jens Grethen in diesem heim – länger als in andern Jahren weilte in diesem der Sommer auf Sylt. Es war solch warmer stiller Spätsommer, grau der Himmel, meist grummelte leise ein fernes Gewitter weither über See. Es nieselte fast täglich ein wenig, und die Weiber hatten Not mit der Ernte, doch war es mehr ein drippender Nebel als rechter Regen. Das zweite Heu, das eben geschnitten war, duftete stark nach dem grauen Kraut des bitteren Wermut. Lau und schwer war die Luft. Lorens wurde müde davon, und gleichzeitig fühlte er eine steigende Erregung, als klopfte eine lebendige Freude an seine Tür und begehrte Einlaß. Er wartete, und wußte nicht, worauf? Er horchte, und wußte nicht wonach? Unruhig streifte er nachts über Dünen und Heide, weil das Haus ihn drückte. Tagsüber aber verschlief er die Stunden, weil ihn eine schlaffe Müdigkeit überwältigte. Wären andere Burschen gleich ihm schon daheim gewesen, dann würden sie sich gegenseitig gereizt haben, tollen Unfug anzugeben. Aber »die vier Brüder« hatten vor der Zeit ihre Fahrt voll gehabt; die andern Walfischfänger waren noch alle auf hoher See. Lorens war schon tagelang daheim, ehe er von einer Düne aus den ersten Grönlandfahrer ausmachen konnte. Danach würde es noch zwei oder drei Wochen dauern, ehe die Sylter ihre Insel erreichten.

Unmutig strich Lorens über das Land, müde, schlaff und doch heimlich erregt, als könnte die laue Luft um ihn her seine Müdigkeit unvermutet in heiße Lust verwandeln. Er wußte nicht, was er mit sich anfangen sollte, nur im Hause mochte er nicht sein, wo der Mutter scheltende Stimme klang, und die Fenster kaum eine schwache Helligkeit durchließen. Seit er an Bord Tag für Tag am weißgedeckten Tisch saß, ärgerte ihn der Schmutz im Hause. Die andern Häuser im Dorf waren eben auch nicht reinlicher gehalten, bis auf das der alten Mai Taken. Das fiel ihm auf, so blinkten die dunklen Fensterchen, und die Außenwände waren zum Frühjahr weiß gekalkt gewesen, das sah er wohl.

»Mai Taken hat's sauber,« sagte er, als er am Sonntag mit seiner Mutter an dem alten Häuschen vorüber zur Kirche ging.

»Das Haus fällt bald ein, es ist nichts mehr wert,« antwortete Gondel mürrisch; »es ist nur, daß Inge Erk Andresen immer daran herumputzt.«

Inge Erk Andresen? Indem Lorens sich von der Mutter trennte und auf der Männerseite seinen Platz suchte, klang der Name in ihm nach. Er klang, als spräche Jens Grethen ihn aus – richtig, da war ein Kind gewesen, das so hieß, ein Kind mit nackten Beinchen und warmen Ärmchen, mit blondem Kraushaar – es schlief – ja, so war es gewesen – merkwürdig, daß das Kind an dem Hause herumputzen mochte. Ihm wurde ganz traumselig zumute, während er mit halbem Ohr auf die Donnerworte des Predigers hörte, aber plötzlich zuckte er auf, denn deutlich vernahm er daneben eine leise Stimme:

»Du weißgewaschenes Seelchen.«

Scheu sah Lorens sich um. Nein, die Männer neben ihm drusselten wie er; von ihnen hatte niemand die Worte gesprochen. Wie sollte das auch möglich sein? Solche Worte kannte man nicht auf Sylt.

»Du weißgewaschenes Seelchen,« sprach er selbst, nun leise vor sich hin, und wieder sah er das Kind mit dem fliegenden blonden Kraushaar über der blonden Stirn. Galt dies zärtliche Wort diesem Kinde?

Nach der Kirche betrachtete er sich Mai Takens Haus wie eine Merkwürdigkeit, aber er wagte nicht hineinzugehen und nach Inge Erk Andresen zu fragen. Es war doch ein keckes kleines Ding gewesen, und – ach nein, er mochte eben nicht. Gegen Abend aber strich er noch einmal um das alte Haus, und als er langsam an der Hintertür vorüber ging, tat sie sich auf und eine hochgewachsene junge Frau trat heraus. Sie nickte ihm freundlich zu. Da konnte er nicht widerstehen und machte eine Bemerkung über das Wetter. Sie lächelte.

»Willst nicht hereinkommen, Lorens? Ich dachte längst, ob du mich nicht besuchen würdest? Ich sah dich in der Kirche.«

Lorens blickte sie an – da war ja das blonde Kraushaar über der weißen Stirn, da waren die blitzenden blauen Augen, der rote Mund, der sich so lieblich krauste, wenn das Kind spottete: du Hahn! Aber es war kein Kind mehr, das hier vor ihm stand, es war ein großes, voll ausgewachsenes Mädchen – ein Mädchen, das wohl gar schon Weib und Mutter sein konnte. Eine heiße Angst schoß ihm bei diesem Gedanken durchs Herz.

»Inge –?« fragte er leise.

»Ja, du – ein Kind bin ich auch nicht mehr,« lachte sie. »In der Kirche hast du mich nicht erkannt; ich merkte es wohl.«

Er schwieg und schaute sie nur an. Seine Hände zuckten wie im Fieber. Endlich hob er die Rechte und strich ihr sanft über den Arm.

»Wie schmuck du geworden bist, Inge,« sagte er schüchtern.

Sie sah ihn erstaunt an. Dann stieg eine helle Röte in ihr Gesicht, und langsam schlug sie den Blick zu Boden.

»Mußt nicht, Lorens, hast wohl schon eine Liebste?«

»Ich – nein, ich nicht, aber du – du –?« Die Glut in ihm benahm ihm den Atem, erstickte ihn fast. Da gab sie ihm plötzlich einen leichten Schlag, lachte noch einmal hell auf und war gleich darauf im Hause verschwunden.

Lorens lehnte die Stirn an den Türpfosten. Ihn schwindelte vor Glück? – vor Leid? Er wußte es selbst nicht. Sein Herz schlug wie ein Lämmerschwänzchen, so schnell und lebendig. Jetzt brannten ihm die Füße, so kochte das Blut darin, und gleich darauf brauste es ihm im Kopfe. Ihn kam ein jubelndes Lachen an, aber ein Weinen schnürte ihm die Kehle zu und ließ das Lachen nicht hinaus. Endlich raffte er sich auf und stieg über die Dünen nach dem Strande. Mit tiefem Rauschen schlugen die Wellen auf – wie kühl das klang. Langsam, wie im Traum, legte er Stück für Stück seine Kleider ab, dann ging er hinein in die Flut, die ihn als gütige Mutter an ihr Herz nahm und seine so plötzlich und heiß erwachte Liebeskraft kühlte – stählte.

Ehe der Morgen graute, stand er schon wieder vor Inges Tür, und als sie mit einem Eimer voll Spülwasser aus dem Hause kam, trat er ihr entgegen.

»Inge – liebe Inge, säge mir nur das eine: hast du schon einen, mit dem du abends unter der Tür stehst?«

Sie hielt nicht inne, sondern goß ihren Eimer mit Schwung in den Kohlgarten hinaus.

»Nein,« entgegnete sie herb; »ich habe keinen. Aber wenn du etwas von mir willst, Lorens du Hahn, dann laß mir meine Ruhe. Mai Taken kommt zu Sterben, deshalb bin ich hier.«

Sie maßen sich mit den Blicken wie zwei Kämpfer; dann aber sprang in seinen Augen ein Lachen auf.

»Bist bös?« fragte er, legte die Hand auf ihre Schulter, und ehe sie es hindern konnte, hatte er einen schnellen Kuß auf ihren Mund gedrückt. »Heute abend komme ich zu dir, im Dunkeln kannst du doch nicht mehr schaffen, Inge.«

Damit empfahl er sich. Mit langen Schritten sauste er um die Hausecke und pfiff dazu, so falsch und grimmig, wie nur ein Friese pfeifen kann, aber es genügte, um ihre abwehrenden Worte zu übertönen.

An diesem Tage half Lorens seiner Mutter im Heu. Er schaffte für drei, der lange Steuermann mit den gewaltigen Fäusten, und es war auch Notsache, denn wieder standen Donnerköpfe rings um den Horizont, und als der Abend einfiel, spielte ein Wetterleuchten von Hamburg nach Helgoland hinauf. Endlich kam es doch nicht auf, sie hatten sich umsonst geeilt. Es fielen nur ein paar schwere Tropfen; dann verzog es sich wieder. Aber Lorens war doch sehr befriedigt, daß sie das Heu einhatten, und fiel beim Abendbrot so über den Schinken her, daß Mutter Gondel große Augen machte.

Als Lorens satt war, satt vom Essen, stellte sich doppelter Hunger nach anderem bei ihm ein, und er drückte sich zur Haustür hinaus. Dreimal schlich er um Mai Takens Haus herum, ohne doch ein Geräusch oder einen Lichtschein von innen erhaschen zu können. Als er zum vierten Male an der hinteren Tür vorüber, kam, stand Inge davor und sah ihm mit schreckhaft weit geöffneten Augen entgegen.

»Ich hörte dich,« sagte sie wie beklemmt. »Drinnen kann man kaum atmen. Was meinst du, wird das Wetter noch kommen?«

»Bist bange?« fragte er zärtlich. »Nein, das Wetter kommt nicht, es ist nach Hitland abgezogen. Mußt nicht Angst haben, wenn ich bei dir bin –« denn sie zuckte zusammen, da wieder ein heller Schein über den Himmel flog.

Er faßte ihre Hand, und sie nahm die seine und legte sie auf ihr Herz.

»Fühlst du, wie hart es schlägt? Ja, ich bin bange, wenn das Wetter kommt. Aber hier draußen ist es besser.«

Sie atmete tief und lehnte ihren Kopf an seine Schulter, als müßte das so sein. Lorens wußte nicht, wie ihm geschah. Wie war sie heute morgen noch so herb gewesen, und nun lag seine Hand an ihrem Herzen; er fühlte ihre weiche Brust, ihr warmes junges Leben. Und sie war ihm so nah – schüchtern, tastend legte er seine Linke um ihre Hüfte und zog sie noch enger an sich. Sie wehrte sich nicht, sie seufzte nur einmal tief auf und ließ es geschehen.

»Ich bin so müde,« klagte sie. »Mai Taken kann nicht sterben und quält sich die Nächte durch. Ich muß sie halten, wenn der Husten kommt, sonst erstickt sie – eine Nacht wie die andere. Jetzt eben hatte sie einen Anfall, nun schläft sie. Aber ich kann nicht schlafen, ich hatte Angst vor dem Wetter – dann hörte ich dich –«

Inge sprach so leise, er konnte sie kaum verstehen. Es klang, wie ein Kind im Schlaf spricht, und dabei lag sie in seinem Arm, so schwer, so warm, als schliefe sie wirklich.

»Schlafe hier bei mir,« antwortete er ebenso leise. »Weißt? ich habe dich schon einmal im Arm gehabt, als du schliefst. Du warst Jens Grethen nachgelaufen und lägest vor unserer Tür –«

»Weiß ich nicht mehr –« sie lachte ein wenig, und darüber wachte sie auf. Sie löste sich aus seinen Armen und reckte sich hoch. »Dank, daß du kamst! Du meinst sicher, daß das Wetter fort ist? Dann will, ich auch schlafen gehen.«.

»Bekomme ich keinen Kuß zum Dank?«

»Den hast du heute früh schon vorweg genommen – aber ich bin nicht geizig –«

Unbefangen bot sie ihm ihre frischen Lippen. Da kam es über ihn, daß er sie kaum zu berühren wagte.

»Das schmeckt wie gezuckerter Branntwein,« sagte er ernsthaft. »Herb und süß zugleich, kalt und heiß –« aber nur die zuklappende Haustür gab ihm noch Antwort.

Langsam ging Lorens dem elterlichen Hause zu. Das Süße und das Heiße war ihm ins Blut geströmt wie ein Rausch. Nun wollte er auch schlafen gehen – seinen Rausch ausschlafen.

»Inge –« sagte er halblaut vor sich hin, und noch einmal: »Inge –!« Er hatte gar nicht gewußt, daß ein einfacher Name so schön klingen kann. Und dann wieder – ohne daß er wußte, wie es ihm kam: »Du weißgewaschenes Seelchen!«

Erschreckt blieb er stehen. Woher kam ihm das Wort immer wieder? Hatte er selbst es gedacht? Hatte ein anderer es gesprochen? Er sah Gottfried Köhler vor sich, den Studiosus, wie er mit gebrochenen Augen tot auf Deck gelegen hatte. Vielleicht hatte der auch eine Liebste daheim gehabt, nach der er sich sehnte?

»Ich wünschte, ich hätte ihn nie an Bord gebracht,« dachte er verzagt. »Wer weiß, vielleicht verfolgt er mich und will an Inge rächen, was ich ihm angetan habe.«

Er setzte sich an den Fuß der Warf, auf der sein Elternhaus stand, und stützte den Kopf in die Hände.

»Jens Grethen, wenn du noch bei mir bist, dann sage ihm, daß ich nicht in böser Absicht an ihm handelte,« murmelte er vor sich hin. »Hilf, daß er Inge nicht schaden darf.«

Lange saß er so mit brennendem Herzen, verstört und verwirrt. Der Schlaf drückte ihm auf die Augenlider, aber er wollte hier draußen nicht einschlafen. Ach nein, der Großvater war ja bei ihm und strich ihm über den Kopf, als wäre er noch ein kleiner Pummel.

»Sei nur ruhig, Lorens, du hast nicht unrecht an ihm gehandelt, so hat er auch keine Macht über dich.«

Die Stunden der Nacht drehten sich gelassen um den Schläfer. Gegen Morgen weckte ihn ein scharfer Wind. Er fuhr hoch. Seine Kleider waren naß, als wäre ein Regenschauer dem Winde vorangegangen. Schaudernd schüttelte er sich, dann ging er ins Haus, kroch ins Stroh und schlief weit in den hellen Tag hinein.

Als er aber am Abend wieder zu Inge ging, traf er an ihrer Tür nur den lustigen Wind, der spöttisch pfiff, als wollte er sagen:

»Dreimal gingst du gestern rund, heute tat ich es wohl hundertmal, aber sie kommt immer noch nicht.«

Da jedoch Lorens einen Feuerschein in der Küche gewahrte, klopfte er kühn dort an. Er fand Inge auch drinnen, aber heute bekam er nur das Kalte und das Herbe des gezuckerten Branntweins zu schmecken. Es war, als schämte sie sich, daß sie sich ihm gestern so hingegeben hatte.

Drei Tage später starb Mai Taken, und nach der Beerdigung machte Inge das Haus dicht, denn Take Jensen, dem das Haus nun gehörte, war auch Straetfahrer, d. h. er fuhr um Gibraltar ins Mittelmeer, und kam in diesem Winter nicht heim. Dann ging Inge zu ihrem Vater nach Tinnum zurück. –

Bald danach kamen die Helgolander und Grönlandfahrer zurück, unter ihnen auch Peter Jens Grethen und die vier jüngeren Brüder des Lorens. Manne und Aaners fuhren nun auch schon als Steuerleute. Es waren wackere Burschen alle vier, aber Peter konnte sich immer noch nicht recht mit der Grönlandfahrerei befreunden, obgleich die Söhne Mann bei Mann mehr Geld heimbrachten, als sie im Hosensack bergen konnten. Ein kleiner Herr ist besser als ein großer Knecht, dachte Peter bei sich; was wollen die Jungen denn mit dem Geld? Sie warfen es in eine alte Truhe, da wurde es dann allmählich schwarz. Die Jungen wußten nichts damit anzufangen, und die Alten erst recht nicht. Peter kaute immer noch lieber geräucherten Dorsch als Tabak, und Gondel wäre lieber nackend gegangen, als daß sie ein Geldstück für Leinenzeug ausgegeben hätte. Wie? gab es nicht Schafe und Wolle genug auf der Insel? Weshalb sollte man darunter noch Leinenzeug auf den Leib ziehen? Nein, so dumm war Mutter Gondel noch längst nicht.

Bisher hatte Lorens immer getan, wie seine Brüder auch, und den Hosensack in die Truhe geleert. In diesem Jahr wurde er plötzlich bedenklich, als er so die blanken Taler mit den schwarzen sich mischen sah.

»Wie sollen wir einmal unsern Part auseinander finden?«

Die Brüder sahen ihn erstaunt an.

»Laß es doch beieinander bleiben, dann ist es mehr,« meinte Niggels und wühlte mit der Hand in der Truhe; »ist es nicht schon eine tüchtige Tonne voll Hering?«

»Ich denke,« entgegnete Lorens bedächtig; »einmal brauchen wir Älteren doch jeder ein eigenes Haus. Jan bleibt hier nach dem Brauch, aber wenn wir andern uns eine Frau nehmen wollen –«

»Mein –!« sagte Aaners erschüttert, und die andern sagten gar nichts; so weit hatte noch nicht einer von ihnen gedacht.

»Aber wenn wieder Krieg kommt und Schatzungen –« warf Mutter Gondel ein.

»Dann ist immer noch genug Geld im Hause, so oder so,« gab Lorens ruhig zurück. »Es wird doch nicht weniger dadurch, daß wir es unter uns teilen. Ich meine aber, es ist an der Zeit, daß jeder weiß, wieviel er hat und ob er sich ein Haus bauen kann, wenn ihm daran liegt.«

»Dir scheint da mächtig viel an zu liegen,« spottete Manne; »Jan Ajen aus Tinnum meint schon, du kämest bald oft genug an seinem Hof vorüber.«

Lorens schoß das Blut ins Gesicht.

»Halt's Maul!« fuhr er ihn herrisch an. »Ich sage es heute einmal, aber wenn ihr nicht wollt, dann nicht wieder: wir wollen teilen, als hätten wir alle gleich verdient. Dabei verliere ich am meisten, das wißt ihr wohl. Also wollt ihr oder wollt ihr nicht?«

»Sei doch nicht so –« antwortete Manne friedfertig. »Ich für mein Teil habe nie etwas dagegen, wenn mir einer etwas schenken will.«

So teilten sie, was in der Truhe war, in fünf gleiche Teile; Niggels aber sorgte dafür, daß die blanksten Silberlinge immer auf seinen Haufen kamen. Als Lorens dann seinen Part überzählte und den Hausbau überschlug, reichte es nicht hin, nicht her.

»In ein Erdreich krieche ich nicht,« sagte er zu sich selbst; »dennso muß ich von nun an als Kommandeur fahren.« –

Jan Ajen aus Tinnum hatte nicht ganz unrecht: Lorens Jens Grethen kam bald oft genug an seinem Hof vorüber. Aber Lorens hatte nicht gedacht, daß Jan Ajen das gleich ausschreien würde. Nun suchte er einen andern Weg, aber das Ziel seiner abendlichen Gänge gab er darum doch nicht auf, und dies Ziel war Erk Andresens Haus, das noch ein Ende weiter östlich als Jan Ajens Hof lag, weiter östlich und weiter südlich, denn es war das süderste Haus von ganz Tinnum. Auf niedriger Warf lag es weit draußen im Weideland und schaute mit blitzenden grünen Augen über das Watt nach Föhr, Amrum und Hörnum hinüber. Auch Rantum streifte es noch mit halbem Blick, aber dann schien es fast schon, als blinzelte es ein wenig.

In diesem Hause, rot mit tiefhängendem braunem Rohrdach, wohnte Erk Andresen mit vier Söhnen und Inge, seiner einzigen Tochter. Erk Andresen war ein altbefahrener Helgolander, die Söhne aber führen allemann auf Grönland, zwei für holländische Reeder, einer für Bremen und der jüngste für Hamburg, aber auch der war noch sechs Jahre älter als Inge. Es war eine wilde Gesellschaft, aber Inge hatte sie alle am Bändel, den Vater nicht zum wenigsten. Sie schleppten Wasser für sie und holten Tuul aus dem Watt; sie fischten bis spät in den Winter hinein und als erste im Frühjahr, nur weil Inge gern Fische aß; aber niemals nahmen sie Inge mit ins Boot. Inge war ihr Spielkind, ihr Lamm, ihr Kälbchen, ihr Pummelke. Es machte ihnen Spaß, daß ihr Haus schmucker war als irgend ein anderes im Dorf, und daß Inge selbst als das schönste Mädchen auf der Insel galt. Kein Wunder – alle schmutzige Arbeit taten die Brüder für sie; sie brauchte nur zu kochen und zu waschen und das Haus und sich selbst zu putzen. Und das tat sie nach der Schwierigkeit; in jedem Frühjahr hatte sie tausend Wünsche aufgesammelt, was die Brüder ihr zum Herbst alles aus den großen Städten mitbringen sollten.

Es verschlug Lorens Jens Grethen fast den Atem, als er zum erstenmal zu Erk Andresen ins Haus kam. Es war ein Sonntagnachmittag und ein sturmheller Tag. Die Sonne lag noch glitzernd und blinkernd in den grünen Fensterchen und gab Licht genug, um die blauweißen holländischen Kacheln rings um die Stube zu zeigen. Daraus waren Schiffe zu sehen und Windmühlen; Adam und Eva unterm Apfelbaum; Jakob mit der Himmelsleiter und ein Kasten auf blauen Wellen, der wohl entweder den »Mannigfuald«, das Riesenschiff der ältesten Friesen, oder gar die Arche Noah darstellen sollte. In der Tiefe der Stube blinkte es von blankem Messinggerät; auf dem schweren Eichentisch lag aufgeschlagen eine mächtige Bibel. In der Ecke aber – wahrhaftig, in der Ecke saß Inge und spann, saß da in ihrem weißen Schafpelz mit rotem Wams und schwarzem Rock, als ob sie selbst der Sonntag in Person wäre, und spann, wie einst die Frau des glücklichen Matthis getan hatte. Als der Vater mit dem Gast in die Stube trat, hielt sie das Rad an, stand auf und reichte Lorens die Hand.

»Guten Tag auch.«

»Inge –!«

»Kennst mein Inge?« fragte Erk Andresen, und in seiner Stimme klang ein eifersüchtiges Grollen, das Lorens warnte; »rück in die Bank.«

»Dank auch, Erk,« antwortete Lorens, indem er tat, wie ihm der Alte gebot, und dabei klüglich die erste Frage überhörte. »Mein Vater schickt mich zu fragen, ob ihr wißt, daß Pay Payens von Helgoland gestern bei Rantum angetrieben ist?«

»Gotts du Dunner! Nee, da weiß ich nichts von,« rief der Alte aus, dem über dieser Nachricht das Mißtrauen verging; »mit seiner Schaluppe?«

Lorens konnte nicht gleich antworten. Er hatte die Pfeife hingenommen, die Inge ihm reichte, und suchte sie in Brand zu stecken, aber es wollte nicht gleich gelingen.

»Sieh so, du priemst auch lieber,« meinte Erk Andresen befriedigt, und Lorens hütete sich, ihm zu widersprechen. Er redete dem Alten zum Munde, daß Inge einmal über das andere eine helle Röte über das Gesicht schlug. Er lobte Pay Payens über den grünen Klee, obgleich er kaum etwas anderes von ihm wußte, als daß er ein dreimal gesiebter Helgolander gewesen war, einer von den ganz feinen, die auf Geld zu fahren wissen, und die da sprechen: Mann, über Bord – ein Fresser weniger! Aber Lorens war Pay Payens ja so dankbar, so innig dankbar, daß er mit Erk Andresen auf Part gefahren und nun selbst über Bord gegangen und bei Rantum angetrieben war. Das hätte für Lorens alles gar nicht besser passen können, um sich bei Erk Andresen einzukneifen, und niemand konnte ihm verargen, daß er die Gelegenheit nutzte.

Als die Söhne um Abendbrotzeit nach Hause kamen, stand Lorens schon fest am Ruder, und ob sie ihn gleich mit finsteren Augen ansahen und versuchten, ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen, konnten sie ihn doch nicht mehr aus dem Kurs bringen.

»Halt mit!« sagte der Vater, als aus der Küche das Zischen des bratenden Fettes klang; und:

»Halt mit!« nickte Inge und brach steifgekochte Grütze und geweichten Splintfisch in die Pfanne; dazu setzte sie Bier auf den Tisch.

Und Lorens hielt mit – mochte Haulk, der Jüngste nächst Inge, auch sein Messer noch so hart auf den Tisch setzen. Ihm deuchte, er hätte noch nie ein solches Mahl eingenommen wie diesen Plokefink, den Inges Hände gepflückt hatten. Aber als er endlich aufbrach, geleitete ihn nicht Inge, sondern Haulk zur Tür, und als sie draußen waren, sagte Haulk kurz:

»Willst was von Inge, dann kannst lieber fortbleiben.«

Lorens antwortete nicht gleich. Der Alte hatte ihm noch einen Priem auf den Weg mitgegeben. Nun mußte er – sehr langsam und bedächtig – erst einmal ausspucken; dabei überlegte er. Einer zur Zeit ist guter Fang, hatte der glückliche Matthis früher oft gesagt und war gut dabei gefahren. Inges Vater hatte er heute gefangen, das war klar. Sollte er sich daran genügen lassen? Einer ist gut, zwei sind besser, dachte Lorens, und was ins Netz kommt, ist immer Fisch. – So stellte er mit Bedacht sein Netz; er war ein guter Rechner, klar, vorsichtig, dabei zäh im Wollen.

»Unnötige Sorgen machen Fischgräten,« antwortete er, und seine Augen lagen halb unter schweren Lidern, wie schläfrig. »Ich freie nicht, ehe ich meiner Frau nicht ein Haus bauen kann, wie dieses. Dafür aber muß ich noch manches Jahr als Kommandeur fahren.«

»Kommandeur – ah wohl, ein Fischer und ein Freier müssen Geduld haben,« spottete Haulk. »Na – gute Nacht! Komm auch einmal wieder.«

Lorens nickte gleichmütig und zog ab. Er war mit sich zufrieden. Haulk würde den Brüdern seine Rede wiederholen; dann würden sie spotten wie er: Noch manches Jahr als Kommandeur –? Bah, noch fährt er als Steuermann, der Hahn, da läuft noch viel Wasser zu See, ehe er an den Hausbau denken kann, und inzwischen kann er uns andere Freier scheuchen helfen; abschütteln können wir ihn immer noch. – Lorens sah klar, daß die Andresens Inge behalten wollten. Aber nun würden sie ihm erstmals freie Fahrt gönnen, da kam es darauf an, mit Inge selbst klar zu kommen. Inge – ach, Inge –! Er hatte sich so ehrbar mit dem Alten betan. Nun brannten seine Lippen von den Küssen, die er nicht bekommen hatte; nun zuckten seine Hände nach ihrem süßen Leib. Er warf sich auf die Erde und griff ins Heidekraut – Inge – ach, Inge –!

Das war das erstemal gewesen, daß Lorens zu den Andresens ins Haus kam. Danach fand er so oft den Weg dorthin, daß Jan Ajen darüber das Maul aufriß. Nun suchte Lorens einen andern Weg, aber sein Ziel gab er darum doch nicht auf. Ein goldgesponnenes Haar von Inges blondem Krauskopf zog ihn sicherer als das Schlepptau, das er an der »Eendracht« befestigt gehabt hatte. Unmerklich schlang sich der Knoten; dann zog er zu, und beide waren im Netz gefangen. Ehestand ist wie ein Hummerkorb: die draußen sind, wollen hinein, die drinnen sind, wieder hinaus. Peter und Gondel schüttelten die Köpfe über Lorens. Peter hatte noch eine unklare Erinnerung daran, daß das Leben vor der Ehe freier, das Haus räumiger gewesen war. Für Gondel aber war der Ehestand wirklich zum Hummerkorb als Gefängnis geworden. Die Sinne spielen, wie Fische im Wasser, heißt es wohl, aber im Hummerkorb ist kein Raum zum Spiel. Dumpf und stumpf zwar, aber doch unbeschwert, hatte Gondel Matzen vor ihrer Ehe gelebt. Dumpf und stumpf, doch nun eingeschnürt in enge Pflichten und schwere Arbeit lebte sie in der Ehe, ein Triebleben führend, das kein Spiel, sondern ein Geknechtetsein bedeutete – geknechtet von dem tierischen Willen des Mannes, geknechtet auch von den eigenen unverstandenen Begierden.

Lorens sah jetzt manches im Elternhause, bei dem es ihm in den Fäusten zuckte, einzugreifen; aber er konnte nicht helfen. Er fing an, seiner Mutter Wasser zu holen und Holz zu spalten, aber sie schalt nur: was ihm denn einfiele, sich um ihren Kram zu kümmern! – Einmal traf er sie in den Dünen, wo sie unter einer überschweren Last Wrackholz zusammengebrochen war. Er nahm die Last auf sich, da fing sie an zu greinen: »Bin ich denn gar nichts mehr nütze?«

Danach merkte er, daß sie doppelt und dreifach schuftete und absichtlich gerade die schwerste und schmutzigste Arbeit vor seinen Augen tat, nur um ihm zu beweisen, daß sie noch zu etwas nütze und kein überständiges Stück Vieh im Stall wäre. Er sah ein, daß sie ihn nicht verstand und nicht verstehen konnte. In ihr war nur noch ein Gefühl ganz lebendig: die Angst, einmal überflüssig zu werden und das Gnadenbrot essen zu müssen, das sie selbst ihrer eigenen Mutter nur mit Vorwürfen ob ihrer Nutzlosigkeit zu essen gab. Lorens sah sich um und sah, daß es Haus bei Haus nirgend anders war auf der Insel – nirgend als bei Inge Erk Andresen.

»Weshalb bist du anders als alle andern Frauen?« fragte er sie, als er abends bei ihr unter der Tür stand.

»Anders? Wie denn?« fragte sie erstaunt dagegen.

Er mußte sich stark besinnen, ehe er es ihr klären konnte.

»Die andern dienen, du läßt dir dienen,« sagte er endlich.

»Wir haben keine Herren über uns, keine Hörigen unter uns,« antwortete sie mit dem alten friesischen Wort.

»In den andern Häusern spielt das Mannsvolk den Herren, und die Weiber dienen als Hörige,« beharrte er. »Wie kommt es, daß du so verschieden von ihnen bist, Inge? Sieh, ich küsse dich und nehme es doch als Geschenk.«

Er ließ die Tat den Worten folgen, und sie schlang die Arme um seinen Hals und lehnte ihr blondes Kraushaar an seine Wange.

»Das kommt, weil du anders bist als die andern Männer, Lorens. Ja, das bist du, und dein Großvater war es auch.«

»Googe? Was hat Jens Grethen damit zu tun?«

»Er sprach zu mir von Greth Skrabbel: sie flocht ihr Haar in Zöpfe bei der Arbeit; sie rieb ihren Pelz mit Kreide ein; sie putzte das Haus; sie hatte das Vieh lieb und die Kinder. Sieh, ich hatte keine Mutter, so dachte ich: ich will werden wie Greth Skrabbel. Mai Taken hatte sie auch noch gut gekannt.« –

Es waren aber nicht viele Abende, an denen Lorens mit Inge so friedlich unter der Haustür stehen konnte; denn es waren nicht viele Burschen auf Sylt, die es ihm gönnen mochten. Bis dahin hatten Inges Brüder noch jeden Piraten gewarschaut, der sich der schmucken Brigg etwa nähern wollte. Ein Wink, wie Haulk ihn Lorens gegeben, hätte jedem andern genügt, denn niemand gelüstete, den Brüdern Andresen das Fahrwasser zu kreuzen. Wer es versucht, hätte, wäre unbarmherzig übergesegelt worden. Lorens war der erste, der einen Gegenschlag gewagt hatte. Der Alte begünstigte ihn. Die Brüder sahen gleichgültig auf seinen Verkehr mit Inge. »Noch manches Jahr als Kommandeur –« das Wort hatte sie sicher gemacht. Aber die andern Burschen sahen seine Sonderstellung mit Neid. Sie lauerten ihm auf, wenn er zu ihr ging oder von ihr kam. Der Weg war weit und führte hart am Dünenrande hin, durch dunkle Heide und über zerrissenes Weideland, in dessen Prielen und Gräben sich gut ein Neidling bergen konnte.

Lorens ging seinen Weg – unbekümmert und sorglos. Mit dem einzelnen wurde er leicht fertig; taten sich mehrere zusammen, ging er ihnen aus dem Wege. Er war geistig und körperlich beweglicher als die andern, das gab ihm einen Vorsprung. Heute schlug er einen Bogen an den Dünen entlang bis nördlich Süderende, und wenn sie ihm morgen dort auflauerten, lief er bei Ebbe weit südlich durchs Watt und pfiff sich eins dazu. An einem Tage schloß er sich selbst einer Bande Dunkelläufer an, um mit ihnen einen Zug nach Keitum zu unternehmen – verkrümelte sich aber in der Tinnumer Gegend, ohne daß die andern es merkten. Am nächsten Abend hüllte er sich in den weiten Mantel seiner Mutter und stülpte sich ihre Sonntagshüf auf sein borstiges Haar, um im nächtlichen Dunkel so unerkannt zur Geliebten schleichen zu können. Selten ließ er Inge vergebens warten, aber nie ließ sie ihn ohne Herzklopfen wieder ziehen.

Unter dem jungen Mannsvolk war einer, den Inge besonders fürchtete. Es war jener Gerson Cruppius, der Sohn des Keitumer Pastoren, mit dem zusammen Lorens seine erste Reise auf dem »Prediger Salomon« gemacht hatte. Der stellte Inge heftig nach, und da die Brüder ihn nicht heranließen – denn er machte kein Hehl daraus, daß er sie heiraten wollte, sobald er nur ein Ja von ihr erpressen könnte – sammelte sich allmählich eine gefährliche Wut bei ihm an. Er fuhr schon im dritten Jahr als Kommandeur, hatte im letzten Sommer mächtig Glück gehabt und einen guten Sack Geld heimgebracht. Wenn Inge nur sagen möchte, wo und wie sie ihr Haus haben wollte, dann würde er auf der Stelle mit dem Bau anfangen. Aber Inge wollte nichts derart sagen. Sie hatte Angst vor ihm wie vor einem Gewitter; er war ein gewalttätiger Mensch. Wenn Inge ihn sah, schlug ihr das Herz hart in der Brust, doch nicht vor Freude.

Als dieser Gerson Cruppius erfuhr, daß Lorens abends bei Inge unter der Tür stehen durfte, warf er seinen ganzen Haß auf ihn und hätte ihn gern kalt gemacht, wenn Lorens ihm nur die Gelegenheit dazu gegeben hätte. –

Der dunkle Nebelmonat zog vorüber, dann kam die Woche vorm ersten Advent, die Hochzeitswoche, die meist eine stattliche Reihe von Brautpaaren vor den Altären der Inselkirchen fand. Niß Bohn, der Strandvogt von Rantum, freite Anna, die dritte Tochter des Pastor Cruppius. Der Vater selbst gab das junge Paar in Keitum zusammen. Danach zog die Hochzeitsgesellschaft zu Wagen und zu Pferde nach Rantum, wo in dem väterlichen Hause des Niß Bohn, in dem die Neuvermählten auch wohnen sollten, das Festmahl gerichtet war. Rantum empfing sie mit wehenden Fahnen und Schüssen aus allen Feuerwaffen, die sich nur irgend auftreiben und instand setzen ließen. Die Kinder schrien vor Vergnügen, liefen unter den Pferden durch, um nur ein paar blanke Münzen oder einen Kuchen zu erwischen, die ihnen die Frauen aus den Wagen zuwarfen, und die erwachsenen Rantumer schmückten sich nach der Schwierigkeit, um allemann zum Hochzeitsschmause zu ziehen. Lorens tat wie die übrigen, aber als er gerade seine Perücke frisch gepudert aufs Haupt stülpen wollte, fing Mutter Gondel an zu greinen:

»Heute könntest du besser zu Inge gehen.«

»Heute? Sie ist auf Hochzeit in Keitum, und ich muß doch zu Niß Bohn so gut wie Ihr.«

Peter Jens Grethen, der an einem verbrannten Schußfinger sog, denn seine alte Feuerbüchse hatte nach hinten ausgeschlagen, mummelte mit dem Finger im Maul:

»Gerson Cruppius wird auch da sein.«

»Jee – ja meint Ihr, ich sollte vor dem unter Deck kriechen?«

Darauf wußten die Eltern nichts zu antworten. Erst nach einer Weile fing Gondel wieder an:

»Solltest lieber den guten Rock zu Hause lassen. Was hast du davon, wenn der auch noch etwas abkriegt.«

Lorens schlug sich die Perücke auf den Kopf, daß eine Wolke aufstäubte.

»Eher wird wohl Gerson daran glauben müssen.«

»Ich habe auch das Messer im Sack,« stimmte der Vater beifällig zu, aber das war Gondel erst gar nicht recht.

»Misch du dich da man nicht auch noch ein,« keifte sie wütend; »da laß sich nur Manne und Aaners drum scheren.«

Dann gingen sie zum Hochzeitshause hinüber. Da war schon alles im wüsten Taumel. Der alte Boh Nissen hatte mächtig Branntwein anfahren lassen. Den schenkte er gezuckert, soviel jeder nur mochte. Er war nicht knauserig wie sein Sohn. Er war für leben und leben lassen, und als er selbst noch Strandvogt gewesen war, hatte es ihm wenig ausgemacht, als er einmal mit sämtlichen Hausbesitzern von Rantum vor dem Gericht in Tondern wegen Stranddiebstahls hatte erscheinen müssen. Auch den Branntwein schenkte er mit freigebiger Hand, ohne an die Folgen zu denken. Draußen wehte es hart; ein böser Südost brachte den Frost vom Festland herüber. Da tranken die Leute das süße und starke Getränk, das im Augenblick warm machte, wie Wasser; dazwischen Bier und Wattig. Das stieg ihnen in die Köpfe und sank schwer in die Beine. Die Leute wurden wild und taumelich zugleich und wußten nicht mehr, was sie taten; es war ein wüstes Gedränge.

Zunächst ging alles noch gut. Lorens konnte Gerson Cruppius in dem dunklen, von Menschen vollgepfropften Hause nicht finden, und nach dem ersten Glase süßen Brannteweins vergaß Gondel ihre mütterlichen Ängste und Peter seine Kampfeslust. Nach dem zweiten Glase fing Peter an, auf einem Bein herum zu springen, daß den Leuten die Bäuche wackelten vor Lachen, denn sein mürrisches sauertöpfisches Gesicht veränderte sich dabei nicht im geringsten, und den verbrannten Schußfinger hielt er sorglich hoch, damit ihm die Hitze nicht hineinschlüge. Je dunkler der frühe Abend einfiel, desto toller wurde der Wirbel im engen Hause. Ein paar Kienfackeln und ein mehr sprühendes als leuchtendes Öllämpchen ließen nur hier und da rotglühende Gesichter, blutunterlaufene Augen, schreiend aufgerissene Mäuler erkennen. Die blanken Schmuckknöpfe an Frauenhauben und Männerwämsern waren längst von Staub und Rauch überzogen, alle Farben erstickt, kaum, daß man noch schwarz und weiß unterscheiden konnte. Zunächst aber ging noch alles gut.

Zum Abend gab es Fische und Schinken – gut im Salz, daß der Durst neu geweckt wurde – Grütze in Bier gekocht, Kohl mit fettem Speck, und für die Weiber ganze Berge von Kuchen. Da stieg die Lust noch höher. Kai, die alte Großmutter des Bräutigams, wurde über die Maßen ausgelassen, und plötzlich stimmte sie das Lied an, das einzige, das sie singen konnte: »Die blaue Flagge weht –« Es paßte nicht so recht, denn wenn der blaue Peter erst weht, müssen die Männer an Bord, und es gibt Abschied und Tränen. Aber es zündete doch. Brausend fiel der Chor ein, als sollten die Wände bersten, und Kai mußte mächtig mit schriller Stimme gegenan arbeiten, um sich selbst noch hören zu können. Sie hatte aber zu hoch angestimmt und konnte dann das höchste »Hei – hei –« nicht mehr herausbringen. Blaurot schwoll ihr Gesicht an, noch einmal spannte sie ihre Kraft aufs äußerste an: »Hei – hei –« ein gellender Schrei, und tot fiel sie in das Wandbett zurück, auf dessen vorderer Kante sie mit baumelnden Beinen gesessen hatte.

Die Leute fielen fast um vor Lachen.

»Kai Nissen hat sich totgeschrien – totgeschrien –« sie wollten es Boh Nissen begreiflich machen, aber der war längst über jede Verständigungsmöglichkeit hinaus. Niß Bohn aber, der lange vergeblich um Anna Cruppius geworben hatte, sah heute von jedem Ding nur die lustige Seite.

»Mann über Bord – ein Fresser weniger,« schrie er schallend. Dann packte er mit an, und unter Geschrei und Gelächter schleppten sie die Alte hinaus und legten sie vorläufig auf den Kirchhof, als den einzigen Ort in und um Rantum, an dem selbst heute nacht wohl kein Betrunkener über sie stolpern würde.

Von nun an gesellte sich zur Lust noch die Spannung: wer wird der nächste sein? Denn eine ordentliche Hochzeit mußte Tote bringen, so gut wie junge Brut zum nächsten Herbst. Manch einer sah Lorens mit spöttisch neugierigen Blicken an, denn Gerson Cruppius, der bis dahin nur trinkend und finster brütend in einer Ecke gehockt hatte, fing nun an zu spektakeln und zu prahlen: er wollte dem Hahn schon noch den Hals abdrehen! Lorens hatte mit Vorsicht getrunken. Ganz nüchtern hatte er am Morgen berechnet, wie er sich halten wollte. Er wollte einen Streit eher vermeiden als suchen; später würde ihm sonst doch angehängt werden, wenn es zum Schlimmen kam. Im Branntweintaumel würde er als Held gelten, in der Nüchternheit dagegen als Mörder. Nein, Gerson Cruppius war ihm nicht wert, daß Inge vor ihm zurückschaudern mußte. So hielt er sich im Trinken zurück, goß im Dunkeln manches Glas über seine Schulter, lachte und prahlte aber wie jedermann, obgleich er völlig Herr seiner Sinne blieb.

Plötzlich aber stand er doch Gerson Cruppius gegenüber. Als der auf ihn eindrang, taumelnd, geifernd, trat Lorens einen Schritt zurück, als wiche er vor ihm aus. Nun hatte er die Wand im Rücken; nun konnte ihm nichts mehr geschehen. Mit raschem Blick rief er Aaners und Niggels heran, die in dem Gewühl der Köpfe vor ihm auftauchten. Im übrigen aber stand er reglos, scheinbar lässig an die Wand gelehnt und sah Gerson Cruppius ruhig entgegen. Gerade seine Ruhe aber reizte den Trunkenen.

»W–w–was stehst du da, du Hahn?« schrie er, gegen ihn antorkelnd. »Ich w–w–will dir den Hals abdrehen –«

Lorens entgegnete kein Wort. Er schob den Angreifer nur zurück, aber so nachdrücklich, daß der seinen Freunden, die sich schnell um ihn sammelten, in die Arme flog. Der Mann kochte vor Wut. Er fühlte, daß Lorens ihm überlegen war, und stachelte sich selbst auf:

»Du Hahn – du Hahn –!«

»Hand vom Messer!« schrie in diesem Augenblick eine Stimme, die sich noch knabenhaft überschlug. Es war Niggels, der zu Gerson durchzudringen versuchte. Johannes Cruppius – des Gerson Bruder – stieß ihn vor die Brust. Aaners schlug Johannes mit der Faust derb auf die Nase, und im nächsten Augenblick sah Lorens nichts mehr als ein wildes Getümmel. Um seine Brüder kümmerte er sich nicht; die konnten und würden sich selbst helfen. Aber sein Blut fing nun auch an zu singen. Nun suchte er Gerson Cruppius. Er wollte ihn nicht kalt machen – bewahre! Nur wollte er ihn ein wenig seine Fäuste schmecken lassen und ihm einen kleinen Denkzettel mitgeben.

Gerade hatte er in dem Gewühl einen Kopf erwischt, einen Kopf ohne Perücke, derb, vierkantig, mit abstehenden Ohren und aufrechten Haarborsten, der ihm ganz gut zu dem Gesuchten zu passen schien. Gerade hatte er den Mann, der dazu gehörte, niedergezwungen und fing an, den gefundenen Kopf zur Eröffnung der Freundlichkeiten ein paarmal recht nachdrücklich auf den hartgestampften Fußboden zu stoßen – da flog ein gellender Schrei über das Getümmel hin, ein Schrei, der selbst den hitzigsten Männern das Blut in den Adern erstarren machte, und durch die augenblickliche atemlose Stille, die diesem Schrei folgte, klang das Wimmern einer Frauenstimme:

»Niß Bohn –!« und noch einmal: »Niß Bohn –«

Lorens sprang auf und sah sich um. Ja, da lag Niß Bohn am Boden – zuckend – stöhnend – und über ihn hatte sich eine Frau geworfen in reichem Hochzeitsstaat, und ihr weißer Schafpelz färbte sich rot in der trüben Sache, in der sie kniete. Lorens griff nach einem erloschenen Kienspan, der im Halter an der Wand steckte, zündete ihn an einem noch brennenden an und leuchtete damit über Mann und Weib hin – Blut – Blut –! Ein Schauer rann durch die Menge – der Bräutigam selbst –? Das war hart. Da, indem Lorens sich wieder aufrichtete, sah er dicht neben sich eine Hand, die ebenfalls mit Blut besudelt war; sie hielt ein Messer, von dem schwere Tropfen herabfielen. Die Hand des Totschlägers? Wer war es? Haulk – Haulk Erken? Nicht möglich – aber das bleiche Gesicht mit den stier aufgerissenen Augen sprach sich selbst schuldig. Als Haulk dem entsetzten Blick begegnete, wachte er aus seiner Erstarrung auf.

»Flieh nicht,« raunte Lorens ihm hastig zu; »wir stehen alle für dich ein.«

Aber da war Haulk schon verschwunden, und als sie hernach den Totschläger zu suchen begannen, fanden sie nur noch das blutige Messer, dessen Griff sein Zeichen trug. Andern Tags suchten sie ihn dann auf der ganzen Insel, aber er hatte die erste Verwirrung zu nutzen gewußt und war nach dem Festlande geflohen.

»Das ging noch gut ab,« meinte Mutter Gondel befriedigt, als sie am zweiten Tage aus ihrem Rausch erwachte, aber ihr Mann knurrte. Seine Hand schmerzte ärger als zuvor, und er fand, daß Lorens sich nicht eben als Held gezeigt hatte.

Am Abend ging Lorens zu Inge. Er ging langsam, in Gedanken versunken, mit geneigtem Kopf und hatte jede Vorsicht vergessen. So traf er auf Gerson Cruppius. Der fuhr mit geballten Fäusten auf ihn los:

»Verfluchter Hund –!«

»Selbst!« gab Lorens wütend zurück und schlug ihn mit der Faust in den Magen, daß der Angreifer stöhnend zusammenbrach. Ein schallendes Gelächter kam aus dem nächsten Graben.

»Mußt dich schneller rühren, Kommandeur, der Steuermann läßt dir nie Zeit, Segel zu setzen.«

Das waren Gersons Freunde. Lorens wartete lieber nicht ab, daß ihr Gelächter sich legen würde, sondern ging ruhig mit langen Schritten weiter, und nach wenigen Augenblicken schon deckte ihn die Dunkelheit.

Bei Andresens fand er alles, wie er es gewohnt war. Vater und Brüder verhielten sich gleichmütig dem jüngsten Geschehen gegenüber.

»War dumm, daß er fortlief,« sagte der Alte nur.

Aber Inge hatte rote Augen, und als sie mit Lorens allein unter der Tür stand, klagte sie ihm ihre Not.

»Haulk war mir der liebste; er hielt auch zu dir. Die andern werden nie zugeben, daß du mich freist, und Vater kommt nicht gegen sie auf.«

Lorens legte den Arm um sie, und Inge schmiegte sich hinein, wie sie nur einmal bisher – in jener ersten Gewitternacht – getan hatte. Es ging Lorens warm ins Blut. Er zog sie ganz eng an sich, streichelte sie und küßte sie, fühlte ihre weichen jungen Glieder, drückte die Lippen durstig auf ihren kühlen Hals und wühlte sich immer mehr in sie hinein. Sie aber war wie aufgelöst.

»Hilf mir – hilf mir doch, Lorens! Ach, wenn ich doch immer bei dir sein könnte –!«

Doch Lorens achtete nicht ihrer Not; er lachte selig:

»Weine nicht, weine doch nicht, Liebchen,« bat er zwischen den Küssen. »Nein, jetzt will ich dich noch nicht haben, erst muß ich ein Haus für dich bauen. Aber wenn die Brüder dich nicht hergeben wollen – was hilft's, Inge? Dann müssen wir sie eben zuerst verheiraten!«

Sie hob das liebe Gesicht, noch von Tränen überströmt, und doch lachte der rote Mund schon wieder; nie war es Lorens je so süß erschienen.

»Bist du aber klug!« sagte sie zwischen Lachen und Weinen. »Wenn wir das fertig brächten – dann – ja dann vielleicht –«

Am folgenden Tag ging der Thingwall von Haus zu Haus, und am Abend sammelten sich alle, die der unglücklichen Hochzeit beigewohnt hatten, vor dem Hause des Rantumer Strandvogtes. Da standen die beiden Särge von Großmutter und Enkel auf hölzernen Bänken vor der Tür. Als die Kirchenglocken zu läuten begannen, trat Boh Nissen aus dem Hause, ein riesiges altes Schwert in der Hand. Er hob es und schlug damit dreimal auf den Sarg des ermordeten Sohnes:

»Rache! Rache! Rache!«

Bei diesem Ruf griffen alle, die in Waffen erschienen waren, nach ihren Schwertern, Messern, Feuerbüchsen und Äxten, schlugen daran, schüttelten sie und wiederholten gedämpft:

»Rache! Rache! Rache!«

Dem jungen Prediger, der noch nicht lange auf der Insel war, blieb das segnende Wort im Halse stecken bei diesem wilden Gebaren. Ratlos sah er sich um. Dabei fiel sein Blick auf Lorens, der kein Gewaffen trug und wie ein Unbeteiligter in einiger Entfernung stand; er trat auf ihn zu.

»Was soll das heidnische Rachegeschrei?« fragte er zürnend.

Lorens maß ihn prüfend.

»Ist man halb so schlimm, Pastor,« gab er gleichmütig zurück; »es wird nicht zur Rache kommen. Die Andresens werden wohl Mannbuße zahlen.«

»Weshalb dann noch das Geschrei?« wiederholte der geistliche Herr entrüstet.

»Niß Bohn fände sonst keine Ruhe im Grabe.«

»Wenn er christlich bestattet wird?«

Auf diese Frage hin hob Lorens nur halb abwehrend die Achseln, und sein Gesicht verschloß sich so, daß der Prediger keine weitere Frage zu stellen wagte.

Noch zweimal, vor der Kirchhofspforte und am offenen Grabe, wiederholte sich das heidnische Rachegeschrei. Dann aber hörten die Leute auch geduldig an, wie der Prediger viele und schöne Worte fand, um die Trefflichkeit des armen Ermordeten zu loben, der nun im dunklen Grabe vom kalten Tod umfangen wurde, statt im warmen Hochzeitsbett von seinem liebenden Weibe; viele harte Worte aber fand er, um die Verruchtheit des Mörders recht schwarz zu malen. Da Niß Bohn jedoch ein geiziger und ungerechter Mann gewesen war, der eher dem Reichen als dem Armen ein Spierchen Wrackholz gegönnt hatte; und da andererseits Haulk Andresen allgemein beliebt war, so trieben diese Reden den Leuten steuerbord ein und backbord wieder aus, und blieb in ihren Köpfen nicht mehr haften als Wasser, das man auf eine Gans gießt.

Ehe der Sarg eingesenkt wurde, trat Erk Andresen vor und erklärte sich in kurzen Worten bereit, die Mannbuße für seinen entflohenen Sohn zu zahlen.

»Bist du alsdann willig, die Rache aufzuheben, so sprich, Boh Nissen.«

Der Alte neigte bestätigend den Kopf und wollte gerade erwidern, als Anna, die Braut – Witwe geworden, ehe ihr Mann sie berührt hatte – dazwischen trat.

»Schweige, Boh Nissen!« herrschte sie ihren Schwiegervater an. »Nimm meinetwegen, was Erk Andresen dir für deinen Sohn geben will. Mir aber gibt er damit noch nichts für meinen Mann – ich klage – klage weiter –«

Ein wütendes Schluchzen erstickte ihre ferneren Worte. Sie rang damit, warf die Arme hoch – alle starrten sie an. Es war ungewöhnlich, was sie tat, aber sie war schön in ihrer Wildheit, in dem flackernden Licht der lodernden Fackeln. Selbst Lorens schlug das Herz, als er sie so sah, obgleich Inge im Dunkel neben ihm stand und seine Hand hielt; sie war mitgekommen, um des Bruders Schicksal zu erfahren.

Jetzt trat Gerson Cruppius neben seine Schwester, das große Schwert des Boh Nissen in der Hand und rührte noch einmal mit der Spitze den schon geweihten Sarg:

»Rache – Rache – Rache!«

Achselzuckend trat Erk Andresen zurück.

»Mehr als Mannbuße zahle ich nicht.«

»Es geschah binnen der Herren Friede.«

»Und wenn schon!«

Wieder wandte sich der Pastor an Lorens.

»Was heißt das: binnen der Herren Friede?«

»Es sind noch nicht sechs Wochen seit dem Herbstthing verflossen,« antwortete Lorens zerstreut, denn er fühlte, wie Inges Hand sich um die seine krampfte.

»Bitte deine Brüder,« flüsterte er ihr zu.

Sie glitt durch die Menge, aber ehe sie Andrees Erken, den ältesten, erreicht hatte, trat er von selbst schon vor:

»Ich biete dir, Anna Niß Bohn, für deinen erschlagenen Mann noch einmal die volle Mannbuße, obgleich du kein Recht hast, sie zu fordern. Ich will sie dir zahlen, ehe das neue Jahr beginnt, oder ich will, wenn ein Jahr um ist und es dir sonst recht ist, dich für mich zum Weibe nehmen.«

Eine mächtige Bewegung ging durch die Menge; dies Anerbieten hatte niemand erwartet.

»Wie kann er das tun?« sagte Mutter Gondel leise zu Lorens; »man nimmt doch keine, die schon einen Mann hatte.«

»Sie ist heute noch, was sie vor vier Tagen war,« gab Lorens mit halbem Gedanken zurück. Er achtete nicht viel auf seine Mutter. Seine ganze Aufmerksamkeit war bei Andrees Erken. Wenn er wirklich Anna freien wollte – mit den andern würde Inge dann schon fertig werden. So hörte Lorens gar nicht mehr hin, als Gondel noch einmal murrte:

»Was sind das für Reden! Das war doch noch nie, daß jemand eine Witwe freite. Ich mag lieber, wenn alles bleibt, wie es immer gewesen ist – Anna kann wohl lachen –«

Aber Anna Niß Bohn zögerte zuzugreifen.

»Du kannst sterben, Andrees Erken, oder auf See bleiben,« sagte sie ohne jede schamhafte Scheu. »Gib mir die Mannbuße erst. Wenn du dann übers Jahr noch gleichen Sinnes bist und mich freien willst, werde ich nicht nein sagen. So wird das Geld wieder dein.«

Welch ein Schacher! dachte der Pastor entsetzt, aber die Leute ringsum fanden Annas Rede nur recht und verständig, und niemand außer dem geistlichen Herrn wunderte sich, daß Andrees Erken gelassen zustimmte:

»So soll das wohl gehen, Anna.« –

Zwischen den Heiligen kam Nachricht nach Tinnum, daß Haulk sich in Hoyer bei Verwandten aufhielte. Auf Inges Bitten fuhr Lorens hinüber, um ihn heimzuholen. Er fand Haulk krank an einem bösen Fieber.

»Das Helligding packte mich am ersten Abend, als ich hier ankam,« sagte er zu Lorens; »sonst wäre ich hier nicht geblieben. Es ist schrecklich, wenn man einen erschlagen hat; Niß Bohn ist bei mir Tag und Nacht.«

Seine Stimme klang heiser, und seine hager gewordenen Backen brannten. Lorens legte ihm die Hand auf die Stirn.

»Das macht die Krankheit. Komm heim, Inge wird dich pflegen.«

Aber Haulk wollte nicht.

»Wenn ich gesund bin, gehe ich gleich von hier nach Hamburg. Nach Sylt komme ich nicht wieder. Er hat mich gewürgt – Niß Bohn meine ich – als ob er noch am Leben wäre. Am dritten Tage habt ihr mich gebannt, dreimal drei Schläge. Ich dachte, nun würde er von mir ablassen. Aber dann fühlte ich die Spitze eines Schwertes an meinem Herzen; da starb ich.«

»Du lebst!« sagte Lorens stark; »du bist nur krank. Es ist das Fieber, daß du meinst, Niß Bohn sei noch bei dir. Wenn der Totschläger gebannt ist, hat der Tote Ruhe im Grabe.«

»Nein,« antwortete Haulk mit scheuem Blick; »wenn es in der Hochzeitsnacht war, dann nicht. Jetzt tut mir Niß Bohn auch nichts mehr; er ist nur bei mir. Er. lacht: Erk Andresen hat Mannbuße gezahlt, Andrees Erken zahlt mehr. Was meint er damit?«

Da erzählte Lorens ihm, daß Andrees übers Jahr Anna Niß Bohn freien wollte.

»Das ist gut,« sagte der Kranke erleichtert; »das ist gut. Übers Jahr also, dann werde ich gesund.«

Übers Jahr nahm Andrees Erken wirklich Anna Niß Bohn zum Weibe, und ihre Ehe wurde später nicht anders als die meisten Ehen sind. In der Hochzeitsnacht aber starb Haulk, der immer noch drüben in Hoyer bei den Verwandten krank lag, und er starb mit einem Schrei, der denen, die bei ihm waren, wie ein langes und scharfes Messer mitten ins Herz drang. –

Es war ein toller Winter, dieser zweite, in dem Lorens der Hahn zu Inge Erk Andresen ging. Im Frühjahr hatte er vergebens versucht, ein eigenes Schiff in die Hand zu bekommen; so mußte er wieder als Steuermann fahren. Aber vor der Ausreise hatte er Engelbert Jans aufgesucht, seinen alten Kommandeur vom »Koning Salomon«, und den so beschnackt, daß er versprochen hatte, über Sommer ein Auge für Lorens offen zu halten.

»Und im Notfall nehme ich noch den Kieker davor, mein Junge,« hatte er gutmütig hinzugesetzt. »Wenn du doch freien willst – jee, ja, habe ich auch mal getan. Aber meine Alte ging beizeiten auf dem Kirchhof zu wohnen, und nun muß ich mich mit meiner Schwester was rumquälen; die ist über jeden Kommandeur. Und Kinder habe ich auch nicht mehr – niemand, der mich noch etwas angeht. Weshalb soll ich da nicht mal an dich denken?«

Der alte Kommandeur war so gut gewesen wie sein Wort. Er hatte Lorens Petersen Hahn genannt, als David Worms, wie er wohl im Sommer gelegentlich tat, an einem schönen Sonntagmorgen bei ihm auf der Bank vorm Haus gesessen und die alten Zeiten beschnackt hatte. David Worms war nun auch der Jüngste nicht mehr, und wenn er vor Wind und Wetter, Regen und Kälte auch sein Lebtag geschützt im warmen Stadthause gesessen hatte, und deshalb nicht so vom Leben mitgenommen war wie sein alter Kapitän, so war ihm schließlich doch auch der Schnee aufs Dach gefallen, und im Gemäuer spürte er ein leises Rieseln und Knistern. Er hatte sich aufs Altenteil gesetzt, hatte die Reederei seinem Sohn und Schwiegersohn übergeben und spielte seinerseits mit den Enkelkindern. Die alte Firma war nun in »David Worms und Jan Jasper de Rüscher« umgewandelt und fuhr nun außer den alten Schiffen noch »Salomons Gericht«; ferner »de Koning David« und »de dree Helden Davids«. Es war ein großmächtiges Unternehmen geworden, in das die beiden Schwäger mit leichter Hand alles Geld hineinsteckten, das der alte David Worms im Laufe seines langen Lebens Taler bei Taler erworben hatte. Diese Leichtigkeit bereitete dem Alten heimlich manche böse Stunde, aber das ließ er sich Engelbert Jans gegenüber nicht merken.

»Will sehen – will sehen –« brummte er nachdenklich vor sich hin und sog an seiner Pfeife; »wenn Dirk Eschels ausscheidet –«

Und im Herbst schied Dirk Eschels wirklich aus. Er war auf der letzten Reise ganz krumm geworden, so riß ihn der Nebel im Rücken, und er war falsch auf jeden Fisch, den er nicht bekommen hatte. Das war aber gar mancher gewesen, denn in diesem Sommer hatten sechsundzwanzig Hamburger Schiffe zusammen nur siebenundzwanzig und einen halben Fisch gefangen, und nur der halbe war auf Dirk Eschels gefallen, da ein Bremer zu gleicher Zeit von der andern Seite auch eine Harpune geworfen und den Fisch ebensogut festgekriegt hatte als er selbst; so mußten sie ihn miteinander teilen.

Es kam also Lorens der Hahn in diesem Winter wie die meisten andern Grönlandfahrer nur mit einem mageren Geldbeutel heim, dafür aber mit der festen Zusage von Worms & Rüscher, daß er zum Frühjahr als Kommandeur »Salomons Gericht« fahren sollte. Inge freute sich mit ihm. Auch sie war den Sommer über nicht müßig gewesen. Ihr Vater war zum erstenmal nicht auf Helgoland gefahren. Mit Pay Payens dem jüngeren, dem Sohn seines alten Partners, stand er sich nicht zum besten. So war er Schlickrutscher geworden, hatte im Watt ein wenig geschiffert und gefangen, was ihm eben in den Fischgarten kam. Daneben hatte er sich gutmütig von Inge beim Heuen anstellen lassen, hatte im Hause herumgepöselt und war ihr so allmählich in die Hand gewachsen, ohne selbst etwas davon zu merken.

Inge aber zog sich den Alten mit Bedacht. Seit Lorens damals zu ihr gesagt hatte: »Wenn deine Brüder dich nicht hergeben wollen – was hilft's, Inge, dann müssen wir sie zuerst verheiraten –« seitdem hatte sie dies Ziel nicht aus den Augen gelassen. Früher waren selten junge Mädchen zu ihr ins Haus gekommen. Inge konnte besser mit Männern umgehen, und ließ die Brüder lieber zur Nacht vor andere Türen gehen. Jetzt zog Inge ein und die andere Nachbarin an sich heran und brachte sie dem Vater ins Haus. Ehe die Brüder noch heimkamen, war er schon ganz daran gewöhnt, daß die weißblonde Ose mit dem breiten Mund und dem lauten Lachen an Sonntagabenden bei Inge im Herdwinkel saß und strickte, und daß zum Wollekratzen eine halbe Stiege lustiger Frauen und Mädchen ins Haus fielen und ihm den Kopf wirbelig machten mit ihrem Geschnatter. Die lachende Ose hatte Inge in Gedanken für Moghels bestimmt, den zweiten ihrer Brüder; der konnte auch so laut lachen, daß das ganze Haus schütterte. Heik, der dritte, und Haulk, von dem sie immer noch hoffte, daß er gesund werden und heimkehren sollte, mußten eben selbst suchen; da wollte sie nur beizeiten für Auswahl sorgen.

Als Lorens heimkehrte, hatte Inge das Haus voll. Er lachte, aber Moghels und Heik machten große Augen. Anna Niß Bohn kam auch zum Schlachterpunsch, als Andrees Erken ein Schwein vors Messer forderte, um zur Hochzeitswoche schon einen frischen Schinken anschneiden zu können. Er hatte sein Vorhaben durchaus nicht aufgegeben, und Anna Niß Bohn sprach ohne Ziererei ihr Ja zu seiner Werbung; so rüsteten sie zur Hochzeit. Es sollte ein großes Fest werden, und je länger desto mehr fanden Moghels und Heik auch Geschmack an der Küsserei, wenn so Andrees mit Anna und Lorens mit Inge sich betaten, und sie nur zusehen und sich selbst die Lippen lecken konnten. Da lernten sie bald ihren Lex, nur das eine wurde Inge ärgerlich: daß Heik die lachende Ose küßte, und daß Moghels das in aller Ruhe mit ansah.

»Das geht nicht – das geht nicht gut, sagte sie beklemmt zu Lorens. »Erst läßt Moghels sich das gefallen, denn gutmütig ist er nun einmal. Aber bald wird es ihm doch zu viel werden, und dann – dann – Heik ist so böse, so gewalttätig; ich habe Angst, Lorens.«

»Wenn ich bei dir bin –?« Und er küßte sie, daß sie die Brüder vergaß und sich in heißer Liebe in seine Arme warf.

Von nun an ließ Lorens der Gedanke nicht los, daß um Oses willen eine Schlägerei zwischen den Brüdern entstehen könnte; die wollte er Inge ersparen. Der Wunsch war stark in ihm, noch stärker aber wurde er, als Andrees nun aus dem Hause freite und als bald danach aus Hoyer die Nachricht kam, daß Haulk drüben gestorben wäre. Nun galt es nur noch Moghels und Heik, Moghels aber sollte die lachende Ose freien und Heik mußte von ihr lassen – das stand Lorens so fest wie die Keitumer Kirche.

Lorens fing an, Heik aufzulauern und seinen Wegen nachzuspüren, denn er meinte bei sich, daß erst einmal Moghels freie Fahrt geschaffen werden mußte, ehe man von ihm verlangen konnte, daß er den Kurs nehme, den Inge für ihn gesetzt hatte. Bald hatte Lorens denn auch ausgekundschaftet, daß Heik an all den Abenden zu Ose ging, an denen sie nicht gerade zu Inge kam. Da suchte er ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen. Er ließ Heik heimliche Botschaften zukommen, als wäre Ose bei Nacht in Burg Tinnum zu treffen oder draußen in der Heide. Wenn Heik dann aber an den bezeichneten Platz kam, überfiel Lorens ihn und verprügelte ihn weidlich. Dazu verkleidete er sich stets und schwärzte sorgfältig sein Gesicht, denn ihm lag gar nichts daran, mit Inges Bruder Streit zu bekommen. Er war ihm ja auch nicht böse, er prügelte ihn nur, um ihn abzukühlen, aber Heik, der ihn für einen eifersüchtigen Nebenbuhler hielt, wurde dadurch nur immer hitziger. Zu Ose wollte er und zu Ose ging er, und als er nicht mehr allein zu ihr durchdringen konnte, brachte er seine Freunde zur Hilfeleistung auf. Unter diesen Freunden befand sich auch Gerson Cruppius, der, seit Inges Bruder seine Schwester gefreit hatte, von neuem Hoffnung für sich selbst schöpfte und sich leidenschaftlich an Heik anschloß.

Als Lorens das merkte, wurde er doppelt vorsichtig. Er wußte, daß Gerson ihn kraft seines eifersüchtigen Hasses erkennen würde, wenn er ihm einmal in die Hände geraten sollte. So vertraute er sich seinen Brüdern an, die waren zu jedem Streich bereit. Noch überwog die Rauflust bei ihnen jede zartere Regung; desto brauchbarer waren sie für Lorens. Er takelte sie als alte Weiber auf, daß die Bengels schier vor Lachen bersten wollten. Sie sprangen wie die Besessenen in den kurzen Schafpelzen; darüber trugen sie weite Mäntel und die Köpfe vermummelten sie mit dicken Tüchern. Der eine nahm ein Ding, das sie wie ein Spinnrad zusammengestückt hatten. Die andern trugen ihre Waffen verborgen unter den Mänteln – sonderbar vielgestaltige Waffen, die scheinbar nicht leicht zu tragen waren. So schlichen sie sich in die Nähe von Oses Haus; das lag an dem nördlichen Wege von Tinnum. Heik pflegte einen Bogen bis halbwegs Keitum zu schlagen, seitdem sein vermeintlicher Nebenbuhler ihm mehrfach die Südostecke abgekniffen hatte.

Sie lagen noch nicht lange im Graben unterm Weg hinter einem vertrockneten Rosenstrauch, da hörten sie einen Trupp Leute kommen. Unbekümmert schallte Heiks Stimme aus dem allgemeinen Gerede hervor, denn es waren so viele bei ihm, daß er sich völlig sicher fühlte. Dann aber vernahmen die Lauscher im Graben ein schweres Geräusch, wie wenn ein Mann stolpernd zu Boden fällt, gleich darauf einen wütenden Fluch und ein jämmerliches Mauzen.

»Alle guten Geister!« rief eine heisere Stimme; »sind vonnacht die Hexen unterwegs?«

Das Mauzen nahm zu, das Stolpern und Fluchen.

»Du hast mir ein Bein gestellt –«

»Wenn du nicht das Kratzen nachläßt –!«

»Verfluchtes Biest –!«

Die fünf Brüder im Graben lachten. Vorsichtig lugten sie durch den Dornbusch über den Rand des Weges. In der Dunkelheit war aber nichts zu erkennen als ein Gewusel von schwarzen Gestalten, die sich in wirrem Knäul auf der Erde wälzten. Die Leute hatten sich in den Leinen verfangen, die von den Brüdern kreuz und quer über den Weg gespannt waren, ehe sie in den Graben krochen. Dazu ertönte immer kläglicher und jämmerlicher, immer wütender – schreiend, daß es den Menschen durch Mark und Bein ging, das Jaulen geängstigter Katzen. Bis dahin hatten die Tiere sich still verhalten, denn Manne, der sie als Waffen vorgeschlagen, hatte sie klüglich zwei Tage hungern lassen und dann – als er sie an den Punkten, wo die Leinen sich kreuzten, festband – jeder von ihnen einen guten Vorrat getrockneter Fische vor die Nase gelegt. Darüber waren sie hergefallen wie der glückliche Matthis über die Walfische und hatten kaum gespürt, daß sie gefesselt waren. Nun empörten sie sich desto grimmiger gegen die Störenfriede, die ihnen in die Mahlzeit fielen, über sie stolperten, sie traten und quetschten.

Die Katzen jaulten und kreischten; die Burschen schrien und fluchten. Es war ein Höllenlärm, daß die Brüder keine Vorsicht mehr nötig hatten. Sie lagen mit halbem Leib auf dem Wege, wälzten sich und brüllten vor Lachen, daß sich den andern, die in den Leinen zappelten, vor Grausen die Haare sträubten. Plötzlich aber sprang Lorens völlig aus dem Graben, packte einen der Burschen am Bein, stopfte dem Schreienden die eigene Mütze ins Maul, fesselte ihn und zog ihn in aller Schnelligkeit in den Graben hinunter.

»Ich habe ihn,« flüsterte er den Brüdern zu, und sie tasteten des Gefangenen Gesicht ab und fühlten die tiefe Narbe quer über der Nase, die ihn als Heik Erken kennzeichnete. Dann kroch Manne auf dem Bauch über den Weg, schnitt die Leinen durch, befreite die Katzen und diese – in der Siedehitze grimmigster Wut – stürzten sich auf Heiks Freunde. Diese aber, die gleichzeitig sich von den Katzen erneut angegriffen und von den Fußangeln plötzlich befreit fühlten, entflohen schreiend nach allen Seiten. Aaners half gründlich nach mit dem Spinnrad, das in tausend Trümmer barst und endlich nur noch als schwerer Knüppel den Feinden auf den Rücken fiel. Im Handumdrehen war der Weg wieder frei.

Als alles still geworden war, zog Lorens dem Gefangenen die Mütze aus dem Maul. Die Fesseln nahm er ihm vorderhand jedoch nicht ab, denn er war keineswegs sicher, wie Heik diesen kleinen Scherz auffassen würde; er war aber fest entschlossen, heute mit ihm klar zu kommen.

»So, Heik,« sagte er deshalb ganz gemütlich; »wir wollen dir gar nichts antun; wir wollen dich nur auf den rechten Kurs setzen.«

»Wer – wer bist du?« stotterte Heik verbiestert.

»Kennst mich nicht mehr? Ich bin Lorens Jens Grethen, und bei mir sind Manne und Aaners, Niggels und Jan.«

»Kannst ›Wahrhaftig!‹ drauf sagen? Wahrhaftig, so wahr mir Gott helfe?«

»Wahrhaftig, so wahr mir Gott helfe!« wiederholte Lorens feierlich, und der Gefangene ließ sich erschöpft ins Gras sinken.

»Das ist ein Mirakel, ein wahrhaftiges Himmelsmirakel,« seufzte er beklommen. »Vorhin warst du der Teufel, leibhaftig, ich habe doch deinen Schwanz gesehen.«

»Das war das Tauende, mit dem ich dir die Hände auf den Rücken binden mußte, mein Junge,« erklärte Lorens lachend. »Willst du im Guten hören, was ich dir zu sagen habe, dann will ich es wohl wieder lösen.«

Ja, das war Lorens der Hahn, seine Stimme, sein Lachen. Heik konnte nicht mehr zweifeln, aber nun wachte sein Ärger auf.

»Das ist durchgesteckter Kram!« schrie er wütend; »Gerson – Boy – Swen – hierher – zu Hilfe!«

»Schrei du nur, die sind alle längst zu Hause und stecken ihre zerkratzten Gesichter ins Wasser; die hören nicht mehr. Aber wenn dir dein Maul juckt – drüben ist der Graben halb voll, und ich kann dich gut 'mal ein Weilchen drin Kopf stehen lassen.«

Es war Manne, der in aller Sanftmut dies freundschaftliche Anerbieten machte. Daraufhin hielt Heik es doch für angebracht, etwas einzulenken.

»Und was wollt ihr von mir?«

»Daß du Ose in Ruh läßt.«

Heik preßte die Lippen zusammen, ohne zu antworten, und Aaners puffte ihn in die Seite.

»Schwören mußt du – bei den Raben! Sonst sollst du deine eigenen Zähne schlucken, so wahr –«

»Hand vom Ruder, hier bin ich Kommandeur!« fuhr Lorens ihn an, und Aaners fügte sich brummend. »Sieh, Heik, ich würde dir Ose von mir aus ja gern gönnen, aber Moghels soll sie doch freien.«

»Moghels –? Der geht doch zu Moy Ajen.«

»Zu – Moy –? Was will er da?«

»Jee – ja!«

Die Brüder sahen Heik an und sahen sich gegenseitig an, aber die Dunkelheit war zu schwer, als daß sie ihre Gesichtszüge lesen konnten.

»Moghels zu Moy – da soll doch –! Inge will, er soll Ose freien.«

Heik wälzte sich herum, und Lorens griff zu, seine Knoten zu lösen; diese Frage ging über Handgreiflichkeiten hinaus.

»Inge – was die schon weiß –!« sagte Heik verächtlich. »Moghels mag Ose gar nicht. Was soll ich mit Ose? sagt er; die lacht immer. Lachen kann ich selbst, aber Moy ist lieb, Moy ist sinnig. Nein, er mag Ose nicht, aber ich mag es gern, wenn Ose lacht. Was geht das Inge an? und was dich? Laßt uns doch freien, wen wir wollen.«

Lorens saß ganz benommen am Grabenrand und wußte nicht, was er sagen sollte. Niggels aber fing plötzlich an zu lachen, lachte wie toll und strampelte mit den Beinen, daß er Jan traf, der zusammengeknäult unten im Graben lag. Er hatte die Zeit benutzt, ein paar Augen voll Schlaf zu nehmen. Nun wußte er nicht mehr, wie der Kampf stand, packte zu, und im nächsten Augenblick rollten die beiden Brüder übereinander her auf dem Wege – Jans Faust an Niggels Kehle. Aber Niggels hatte Kräfte wie ein dreijähriger Bär; Jan war ihm keineswegs gewachsen. Er packte ihn am Rumpf, rüttelte und schüttelte ihn, daß ihm die Zähne im Maul wackelten. Dann stieß er ihn in den Graben zurück, mitten zwischen die andern hinein und – immer noch lachend – ging er seiner Wege.

»Das war doch Niggels?« sagte Jan und rieb sich die Augen. »Was ist denn? Ist hier nichts mehr los? Dann gehe ich auch nach Hause.«

Er tat es, und die Brüder taten wie er. Auch Heik verdrückte sich. Nur Lorens blieb am Grabenrande sitzen und wußte nicht, ob er nun lachen sollte wie Niggels oder sich ärgern. Endlich stand er auch auf und ging mit langen Schritten nach Süden. Erk Andresens Haus war dunkel, kein Fünkchen mehr auf der Feuerstelle. Lorens taperte ums Haus herum und klopfte an Inges Fenster. Aber die schlief im Wandbett hinter zugeschobenen Türen und schlief hart nach des Tages Arbeit. Ob er die Fenster auch fast einschlug – sie hörte nicht. Da ging er an die hintere Tür, steckte das Messer durch, hob den Riegel hoch und kroch zu dem Vieh in den Stall. Er schlief ein paar Stunden im Heu, und als Inge des Morgens früh kam, erschreckte er sie, da er mit dürren Grashalmen verputzt, unvermutet vor ihr auftauchte.

»Du mein –! Was ist denn geschehen, Lorens? Du bist aber auch – man kann ja den Tod davon haben!«

Sie drückte die Hand aufs Herz, und er berichtete schwermütig von den Ereignissen der Nacht.

»Es tut mir so leid, Inge, aber die verfluchten Bengels werden nicht davon abzubringen sein und wenn wir sie totschlügen.«

Da lachte Inge hell auf:

»So laß sie doch! Wenn sie nur überhaupt freien!«

Lorens staunte.

»Jee – ja, ist auch wahr. Das hatte ich wahrhaftig nicht gedacht –« und damit ging er nun endlich auch nach Hause. –

Immer freier wurde die Fahrt von Lorens zu Inge. Andrees war verheiratet. Haulk lag mit dem Grassoden auf dem Kopf drüben in Hoyer auf dem Friedhof. Moghels ging zu Moy, Heik zu Ose. Tagelang konnte Lorens bei Inge sitzen und ihr zuschauen, wie sie so im Hause ihr Wesen trieb, ohne daß jemand anders ihn aufstörte als Inge selbst. Sie hatte immer etwas zu sagen und zu fragen und zerrte an ihm herum, während er doch nichts anderes wollte als eben nur da sein. Aber er ließ alles gutmütig mit sich geschehen. Er tat manches für sie, was die Brüder sonst im Hause geschafft hatten. Es freute ihn, daß sie so geschickt zugriff und leichtere Glieder hatte als die andern Frauen, die unter der schweren Arbeit wie die Lasttiere wurden.

Eines Abends, als Lorens wie gewöhnlich zu Inge ging – auf dem kürzesten Wege durchs Watt, denn es war seit Tagen schon Ostwind und ungewöhnlich niedriger Wasserstand – da traf er, als er eben bei Wadens wieder festen Boden unter die Füße bekam, einen hochgewachsenen Mann. Er kannte ihn nicht gleich, sagte ruhig »Guten Abend« und wollte an ihm vorübergehen. Da blieb der Mann stehen.

»Geh nicht zu Inge!«

Nur wie ein Hauch flogen die Worte an seinem Ohr vorüber. Waren sie wirklich gesprochen oder hatte er selbst sie nur gedacht? Lorens faßte den Mann schärfer ins Auge – der halbe Mond beschien ein bleiches Gesicht, und entsetzt fuhr Lorens zurück:

»Haulk – so wahr mir Gott helfe –!«

Da war die Erscheinung verschwunden. Lorens rieb sich die Augen und drehte sich nach allen Seiten – vergebens! Niemand war um ihn als der Nachtwind, der mit leisem, frostkündenden Pfeifen vom Festland her übers Watt kam. Langsam ging Lorens weiter, aber während ihm sonst jeder Schritt, den er auf Inge zu tat, lieb war, wurde ihm heute jeder Schritt schwerer.

»Geh nicht zu Inge – nicht zu Inge –« raunte der Wind, und als Lorens zaudernd stehen blieb und endlich gar umkehrte und nach Rantum zurückging, tanzte der Wind lustig um ihn herum, druckte und schob ihn und ließ ihn nicht los, ehe er ihn wieder zu Hause hatte. –

Als Lorens am folgenden Abend zu Inge kam, fand er sie verstört.

»Gut, daß du gestern nicht kamst. Anna war bei mir, und abends holte Gerson sie ab. Weil ich freundlicher zu Anna war als zu ihm, wurde er zornig und fragte nach dir. Glaube mir, er will dir nichts Gutes.«

Da erzählte Lorens ihr, was ihm begegnet war, und Inge erschrak noch mehr.

»Er will dir nichts Gutes,« wiederholte sie ängstlich, »Geh ihm aus dem Wege, Lorens.«

Doch Lorens warf den Kopf zurück, daß sie in aller Angst plötzlich lachen mußte.

»Du Hahn!« sagte sie zärtlich. »Kräh nicht so hell; weshalb willst du Gerson reizen?«

»Ich werde ihn nicht reizen, aber aus dem Wege gehe ich ihm doch nicht,« antwortete Lorens hochfahrend; »wenn er sich quer in mein Fahrwasser legt, werde ich ihn übersegeln.«

»Er kreuzt nur vorüber; die See ist frei,« beschwichtigte Inge lächelnd.

»Dich freut es wohl, wenn er dir nachstellt?«

»Lorens –!«

»Jee – ja,« knurrte er mit rotem Kopf; »kenne sich einer mit euch Weibern aus!«

Inge sagte nichts weiter. Sie spürte, wie der Ärger an ihm fraß, daß er vor Gerson Cruppius umgekehrt war. In den nächsten Tagen merkte sie immer deutlicher, daß der Gedanke in ihm weiterbohrte, und als er dann eines Abends ungewöhnlich spät zu ihr kam und auf ihre Frage antwortete, daß er noch ein Stück auf Keitum zugehalten hätte, da wußte sie, daß er nun seinerseits Gerson Cruppius nachstellte.

Inge überkam die Angst, aber sie wagte nichts zu sagen. Sie sann und grübelte, wie sie die beiden Kampfhähne auseinanderbringen könnte. Lange vergebens, und endlich rückte der Petritag heran, der mit seinen vielfachen Festlichkeiten, den Tanzereien und Gastereien zwei Männern, die sich treffen wollten, nur zu gute Gelegenheit dazu bieten würde. Da kam sie in ihrer Not auf den Gedanken, selbst zu Gerson zu gehen und ihn zu bitten, doch von ihr abzulassen; in ihrer stolzen Reinheit bedachte sie nicht die Gefahr, der sie sich dadurch aussetzen konnte.

Am nächsten Sonntag machte sie sich in der Dämmerung auf den Weg, und da ein kalter Regen niederschlug von stößigen Winden begleitet, nahm sie ihrer verstorbenen Mutter alten Mantel um und setzte ihre enganschließende alte Kappe auf statt der hohen Hüf, die sie vormittags zum Kirchgang getragen hatte.

»Sei bei mir, Mutter, auf diesem Gange!« flüsterte sie scheu; doch dann schritt sie tapfer aus.

Gerson Cruppius und seine Geschwister waren im Keitumer Pfarrhause aufgewachsen. Doch nachdem die Mutter gestorben war, hatten sich verschiedene von den Geschwistern zusammengetan und sich ein eigenes kleines Haus in Archsum gekauft. Dort hausten sie nun ziemlich liederlich; sie tranken und prügelten sich, und in der Wirtschaft lag alles wie Kraut und Rüben durcheinander. Inge hatte gar nicht überlegt, was seine Geschwister für Schandmäuler ziehen würden, wenn sie Gerson aufsuchte. Nun sie das Haus in Sicht bekam, zögerte sie doch. Da sah sie ihn, den sie suchte, aus der Tür kommen und den Weg nach Süden einschlagen. Sie hastete ihm nach. Der Wind stand ihr entgegen. Der Regen überströmte eisig kalt ihr Gesicht. Endlich hatte sie ihn erreicht, und da er sie nicht gleich bemerkte, faßte sie – noch atemlos von dem Kampf gegen Regen und Wind – nur eilig nach seiner Hand. Mit einem Satz sprang er zur Seite:

»Huuh –!« Dann suchte er in der Dunkelheit ihre Umrisse zu erkennen; »wer bist du?«

»Gerson –!« Inges Stimme, der noch immer der Atem fehlte, war klanglos wie die einer alten Frau. Sie reckte die Hand gegen ihn aus und trat näher an ihn heran – da fiel er vor ihr auf die Knie.

»Mutter –!« stöhnte er; »Mutter, was willst du von mir?«

Inge stand erstarrt. Ein Grausen überkam sie vor dem eigenen Selbst. Sah sie denn aus wie eine Tote? Da schrie Gerson noch einmal qualvoll auf und schlug mit der Stirn vor ihr auf den Weg: »Mutter –!«

Entsetzt wich Inge vor ihm zurück. Dann wandte sie sich und lief davon – lief und hielt nicht inne, bis sie daheim war. Gerson aber wurde erst am andern Morgen von seinem Bruder Jacobus gefunden und fiel in ein hitziges Fieber, das ihn für Wochen im Hause festhielt; kaum, daß er zur Zeit nach Hamburg kommen konnte, um sein Schiff wieder zu übernehmen.

*


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