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Die Sylter

Lustig hatte der Winter begonnen, aber er war noch nicht alt, da störte Tam Bleiken wieder den Frieden der Westerländer. Seit er herausgefunden hatte, daß der Branntwein allen Kummer löscht, wenn man nur genug davon überholt, ging er seiner Frau heimlich über das Fäßchen, aus dem sie den Branntwein selbst auf Krüge zog. Zunächst merkte sie nicht, aus welcher Quelle er schöpfte, und ärgerte sich nur über sein aufgeregtes Wesen; fast täglich gab es Streit und Schlägereien zwischen den Eheleuten. Als aber das Fäßchen leer war, machte er sich an die Krüge. Dabei ertappten ihn seine Stiefkinder, riefen die Mutter herbei, und die fiel wie Ran selbst über ihn her mit Schelten, Keifen, Kratzen und Beißen, bis sie ihm endlich ein paar schallende Ohrfeigen versetzte. Darüber brachen die Kinder, die johlend die beiden umtanzten, in lautes Gelächter aus, und nun überfiel Tam Bleiken wieder einer seiner gefährlichen Wutanfälle. Er packte einen hölzernen Schemel und schlug damit unter die lachenden Kinder. Als aber seine Frau sie schützen wollte, griff er nach dem Messer, das offen auf dem Tisch lag und stach sie mit voller Gewalt in die Brust.

Gellend schrie sie auf. Ein breiter Strom roten Blutes schoß aus der Wunde, und heulend warfen sich die Kinder über die Mutter. Tam Bleiken aber stürzte – das blutige Messer offen in der Hand – zu Lorens und Inge.

»Ich – ich – Margaretha tot,« schrie er. »Mörder – Mörder –«

Lorens und Inge, die friedlich bei der Abendgrütze saßen, sprangen entsetzt auf. Sie versuchten, durch Fragen mehr aus dem verstörten Menschen herauszubringen, aber er schüttelte nur immer wieder den Kopf und stierte schaudernd auf das Messer in seiner Hand.

»Geh in den Krug, Inge, und sieh, was du helfen kannst,« sagte Lorens endlich. »Ich werde Tam zum Landvogt bringen, der muß da eingreifen; so geht es nicht weiter.«

Er machte sich mit dem armen Kerl auf den Weg nach Tinnum, zur Landvogtei, und fand Steffen Taken, den Landvogt, ebenfalls bei der Abendgrütze. Aber Steffen Taken war nicht gesonnen, sich stören zu lassen.

»So, du hast deine Frau totgestochen, Tam Bleiken – na, wird wohl nicht so schlimm sein. Hat sie geschrien wie ein Schwein, hee?«

»Wie ein Schwein!« wiederholte Tam Bleiken schaudernd.

»Wurde sie danach auch still wie ein Schwein, wenn es tot ist?«

Tam Bleiken schüttelte sich.

»Nicht still, nein, nein – hat geschrien wie ein Schwein,« wiederholte er noch einmal.

»Dann wird sie wohl noch leben,« meinte der Landvogt. »Komm, Lorens, halt mit. Inken holt dir einen Krug Bier und eine Pfeife. Und du, Tam, du gehst nach Keitum. Weißt du Jacobus Cruppius, den Schiffsbarbier?«

»Jacobus –? Jee, ja.«

»Dann gehst du zu ihm und sagst ihm, was du getan hast, zeigst ihm auch das Messer, hörst du? Der wird dir deine Frau schon wieder zusammenflicken.«

Der Mörder zog ab, und Lorens setzte sich mit seiner Pfeife an das Ende der Bank.

»Es geht nicht mehr gut mit Tam Bleiken, Landvogt,« eröffnete er bedächtig die Unterhaltung.

»Das sagst du so, aber was soll ich dazu tun?« Steffen Taken zündete sich auch eine Pfeife an und fuhr dann fort: »Wenn er die Frau wirklich totgestochen hätte, ja dann – aber glaube mir, der alten Hexe schadet ein Stich in die Brust rein gar nichts. Ich werde die Sache vors Petrithing bringen; das ist alles, was ich tun kann, und niemand wird ein Wort dazu sagen. Kümmere du dich um deine Nachbarn, das wird mehr nützen.«

Lorens schwieg, und der Landvogt paffte ebenfalls schweigend eine Weile vor sich hin, ehe er weitersprach:

»Ich kann ja gar nichts tun. Drüben –« mit einer Kopfbewegung nach Osten – »brüten sie Gesetze aus nach der Schwierigkeit, aber wenn ich sie auf dem Thing verlese, lacht ihr nur. Niemand darf an den Strand gehen, denn das Strandgut ist des Herzogs Eigentum – aber ihr lauft allemann an den Strand und nehmt das Strandgut als Bergelohn vorweg. Jedermann soll die Waffen abliefern, damit ihr des Herzogs Hasen nicht schießt – aber wenn ich in die Häuser komme, sind nirgend Waffen zu finden, und doch wird es in der Hochzeitswoche wieder in allen Dörfern knallen.«

»Jee, Landvogt,« antwortete Lorens; »es heißt auch: jedermann soll seinem Hunde die rechte Vorderpfote abschlagen, damit er am Hause bleibt und nicht des Herzogs Wild in den Dünen scheucht. Aber mich dünkt, ich sah Euern Köter auch noch auf allen vieren laufen.«

»Soll ich der einzig Dumme sein?« gab Steffen Taken ärgerlich zurück. »Ich will dir eins sagen, Lorens: ich halte die Pest für weniger schlimm als solche Gesetze, die nicht befolgt werden und nicht befolgt werden können; dazu gehören die meisten Gesetze, die von drüben kommen. Aber ganz ohne Gesetze kann ein Volk auch nicht leben; wenn es sich nicht selbst in Zaum und Zügel hält, verkommt es.«

Wieder fand Lorens es klüger, sich in Schweigen zu hüllen wie in Pfeifenrauch. Er verstand nicht recht, worauf der Alte hinauswollte, aber der fing nach einer Weile auch von selbst wieder an.

»Lange tue ich nicht mehr mit, dann wird Peter wohl Landvogt werden; du kennst ihn?«

Lorens nickte nur. Wohl kannte er des Landvogts Jüngsten, der sich heute schon als seines Vaters künftiger Nachfolger Peter Taken II. nannte, aber mit seinem Vater hatte er wenig Ähnlichkeit und noch weniger, mit seinem Großvater Peter Taken I., der ein rascher und mutiger Mann gewesen war. Peter Taken II. war ein fauler, weichlicher Mensch wie auch sein älterer Bruder Take Steffen, den der Vater nach Niß Bohns Ermordung in die einträgliche Rantumer Strandvogtei geschoben hatte. Der klagte dauernd über Strandraub und konnte doch nichts gegen die Rantumer ausrichten.

»Wenn Peter erst Landvogt sein wird,« spann der Vater trübselig an seinem Garn weiter, »wird auf Sylt alles drunter und drüber gehen. Ich wünschte, er hätte deinen Kopf und – deine Frau.«

Er seufzte tief auf, und Lorens rückte etwas unbehaglich auf seinem Sitz, denn Tay, Peter Takens Frau, war seit der Geburt des ersten Kindes blöde geblieben und brachte nun nur noch blöde Kinder zur Welt, und Take Steffens Frau Maren war gar als Hexe verschrien. Nein, Steffen Taken hatte kein Glück mit seinen Söhnen, so viel stand fest; der älteste war völlig verschollen.

»Es muß aber einer auf Sylt fein, der die Hand ans Ruder legt, wenn sie mich erst unterm Rasen verstaut haben werden,« fuhr der Landvogt fort und sah mit klugen Augen zu seinem Gast hinüber; »du bist der einzige, der das können wird – ich wollte es dir lange schon sagen. Ich kannte deine Großeltern noch. Du hast viel von Greth Skrabbel geerbt und viel von Jens Grethen –«

Lorens hörte kaum mehr hin. Seine Hand schloß sich fest um das Pfeifenrohr. Er war nicht ehrgeizig, das lag nicht in seiner Natur, aber das gute Zutrauen des Alten machte ihm das Herz warm. Erst als das Wort Rantum fiel, merkte er wieder auf.

»– Rantum, ja, da sieht es böse aus. Take ist der Bande durchaus nicht gewachsen, und wenn es wahr ist, was die Leute reden, daß dein Vater überfällig ist und sich Merret Lüt Bleiken als Gonger gezeigt hat –«

Lorens legte die Pfeife auf den Tisch.

»Mein Vater –? Ihr irrt, Steffen, mein Vater ist in diesem Sommer gar nicht mehr gefahren.«

»In diesem Sommer nicht, aber Anfang der Woche noch einmal, sagen die Leute, und gestern nacht hätte er sich Merret Lüt Bleiken gezeigt.«

Das ging Lorens wie ein Stich durchs Herz; er stand auf. »Verzeiht, Landvogt, ich muß hören, was daran Wahres ist.«

»Nun – nun – die Leute reden viel, und wenn du noch nichts davon gehört hast – Ich meine nur: er ist doch auch ein alter Mann, und wenn er einmal mit Tode abgeht, wird Take nicht mehr durchkommen. Gewiß, dein Vater war nicht, was seine Eltern waren und was du von ihnen geerbt hast. Aber er war ein ordentlicher Mann – vielleicht ist er es noch – die Leute reden viel –«

Doch Lorens ließ sich nicht mehr halten, sondern verabschiedete sich hastig. Als er mit dem Landvogt aus der Haustür trat, flog eine blaue Helligkeit über den Himmel, der ein deutliches Grummeln folgte.

»Es kommt ein Wetter; bleib und warte es ab,« meinte Steffen Taken, aber Lorens hörte nicht mehr auf ihn. Mit langen Schritten machte er sich auf den Weg, doch das Wetter war schneller als er. Immer geschwinder folgte dem Blitz der Donner. Als Lorens bei Tinnumburg vorüberkam, hingen die schwarzen Wolken dicht über ihm, und Blitz und Donner krachten knatternd in eins zusammen. Lorens stolperte und fiel zu Boden. Betäubt blieb er liegen, bis der niederrauschende Regen ihn weckte. Ihm war aber, als rührte ihn wohl ein anderes an, und als er sich mühsam aufrichtete, schien ihm, daß eine dunkle Gestalt von ihm wiche.

»Vater – Vater – bist du es?«

Aber er bekam keine Antwort, nur das Grauen packte ihn im Nacken und trieb ihn noch schneller an. Als er endlich daheim ankam, fand er Inge schon in Angst seiner wartend. Mit Margaretha Tamen stand es nicht schlimm. Jacobus Cruppius war wirklich von Keitum gekommen, hatte die Blutung mit Moos und Erde gestillt und die Wunde verbunden. Aber eine Menge Weiber war im Kruge zusammengeströmt – Gott allein mag wissen, woher das Weibervolk immer gleich Kundschaft von solchem Unglück bekommt – und zwei von ihnen hatten Inge angesprochen, ob es wahr wäre, daß Peter Jens Grethen auf See geblieben wäre. Dazu kam das Wetter. Lorens blieb so lange fort, der Junge schrie und das Vieh im Stall wurde unruhig. Am liebsten wäre Lorens gleich nach Rantum weiter gegangen, aber Inge ließ ihn nicht fort; er mußte nach dem Vieh sehen und die Feuereimer am Brunnen füllen, das Wetter stand so recht über der Insel.

Hell und freundlich brach der nächste Morgen an. Der Wind war nach Norden umgesprungen und trieb die letzten Wolken vor sich her wie eine Grönlandflotte unter vollen Segeln. Ueber den Aeckern gackerten die Möwen und jenseit der westlichen Dünen kreisten ein paar Seeadler hoch in der Luft. Lorens wurde wieder frei und heiter zumute; er konnte sich nicht mehr recht vorstellen, daß ein Unglück geschehen wäre. Wohlgemut kam er in Rantum an. Erst als er die Warf des väterlichen Hauses erstieg und kein Zeichen von tätigem Leben ringsum erblickte, legte sich ihm die Beklommenheit wieder aufs Herz. Mit gefalteten Brauen sah er auf den Dünger im Jauchetümpel, die trüben Fenster und das wie von Schafen angefressene Rohrdach – seine Inge hielt ihr Haus anders! Dann aber hörte er einen Ton von drinnen, der seine Gedanken zerriß.

Er fand das Haus voll heulender Weiber. Noch war keine sichere Bestätigung von seines Vaters Tode gekommen – konnte ja auch nicht sein. Aber der Wiedergänger, der sich vor zwei Nächten Merret Lüt Bleiken gezeigt hatte, war in der letzten noch einmal gekommen.

»Und – bei den Raben! – Lorens, es war dein Vater.«

»Wann war Vater ausgefahren?«

Das war nicht mehr klar zu kriegen. Von den Brüdern war keiner im Hause; die hatten vor den heulenden Weibern Reißaus genommen. Von den Weibern aber meinte die eine dies, die andere das; ob er zwei, drei oder vier Tage schon fortgewesen, wußte nicht einmal Gondel mehr.

»Mit wem fuhr er denn aus?«

»Allein mit deiner alten Schlupe. Andrees Muchels und Manne Peters hatten so schöne Schollen, da wollte er auch welche holen.«

»Aus dem Watt?« fragte Lorens erstaunt, denn die alte Schlupe konnte keine See halten; »Vater ging doch sonst nicht ins Watt.«

Davon wußte die Mutter nichts; sie heulte nur. Lorenz suchte sie zu trösten, aber da ihm der Blitzschlag der letzten Nacht noch in den Gliedern rumorte, glaubte er selbst nicht an den eigenen Trost, und so verfing der auch nicht.

Peter Jens Grethen kam nie wieder heim, aber er meldete sich noch zweimal bei Merret Lüt Bleiken, und endlich kam er eines Nachts auch zu Lorens, öffnete die Bett-Türe und faßte ihn an; der Sohn erkannte ihn sogleich.

»Kannst keine Ruhe finden, Vater?«

»Wer im Watt ertrinkt –«

War es der Alte, der die Worte gesprochen hatte? Lorens wußte nicht: hatte er sie wirklich gehört oder nur einen tiefen Seufzer. Nun war die Tür wieder zugeschoben und das tiefe Atmen Inges, daneben das schnaufende Schnarchen Lütpidders füllten den Raum. Am Morgen aber fand Lorens eine Pfütze rinnenden Wassers vor dem Bett und nasse Fußspuren durch Pesel und Stube bis zur Haustür hinaus. Als er das Wasser aber mit dem Finger probte, schien es ihm brackig zu sein. Mit Inge sprach er nicht darüber, wohl aber mit dem Rantumer Pastoren, den er bat, den Toten von der Kanzel abzubeten. Das tat der aber erst, nachdem Lorens ihm einen Totenschein vom Landvogt verschafft hatte. Danach zeigte sich Peter Jens Grethen fürs erste nicht wieder. –

Der Rantumer Prediger war ein Landfremder und blieb seiner Herde Zeit seines Lebens auch innerlich fremd. Er war ein Studierter und fand keine Fühlung mit seinen Pfarrkindern, die er im innersten Herzen allesamt für räudige Schafe und schwarze Böcke ansprach. Er verstand die Sylter nicht. Er sah keinen Reiz darin, in pechschwarzer Winternacht unter Sturm und Regen oder – besser noch! – Schneetreiben am Strande umherzulaufen. Noch weniger ging es ihm ein, daß Männer, die im Kirchenrat saßen und als Gemeindevertreter auf dem Thing erschienen, ohne alle Scham stahlen, was sie am Strande fanden. Ihm ging es zu Herzen, daß im »Syldringer Dingfellung- und Brücheregister« vermerkt werden mußte, daß »Nafolgende in Rantum Ein Oxhoft Franschwien Süden Rantum by dem Strande Egenmächtig genamen vnd Pardiret« hätten, und dann die Namen von neunzehn der angesehensten Männer Rantums folgten, als erster unter ihnen »Jan Peters de Han«, der durch des Vaters Tod zum wohlhabenden Hausbesitzer geworden war. Der aber lachte nur, als der Prediger ihn sanft zu vermahnen suchte, setzte ihm ein Glas Wein vor und sagte:

»Solltest mal mitkommen, Pastor, wenn eine schöne Nacht ist.«

Und als der Pastor verärgert nach seinem Glase griff und es, um einer Antwort zu entgehen, auf einen Zug lehrte, fügte Jan Petersen Hahn freundlich hinzu:

»Ist auch von unserem Oxhoft Franschwien; nicht übel, hee?«

Entrüstet ging der Pastor fort. Er verstand den Mann nicht; er verstand das Volk nicht; er verstand seine Sitten und seine Rechtsprechung nicht. Er begriff nicht, weshalb eine Ohrfeige mit Halsfällung und drei Talern Brüche bestraft wurde, Tam Bleiken aber für den Stich in die Brust, durch den er seine Frau fast vom Leben in den Tod gebracht hatte, nur einen Taler zahlen mußte, und der Mörder des Niß Bohn gar von der irdischen Gerechtigkeit überhaupt nicht verfolgt worden war.

»Gott findet Haulk Erken auch ohne mich,« hatte Steffen Taken dem Prediger geantwortet, als der gemeint hatte, ihn an seine Versäumnis mahnen zu müssen.

So kam es, daß der Seelsorger von Rantum sich immer mehr von einem persönlichen Verkehr mit seiner Gemeinde zurückzog und sich in seiner Studierstube unter gelehrten Schriften vergrub. Am Sonntag kroch er dann hervor, stubenblaß mit müden Augen und donnerte über die Köpfe der Ruchlosen hin, denn wenn sie auch nicht taten, was er ihnen sagte, so hörten sie es doch im allgemeinen gutwillig an. Nur Jan Petersen Hahn unterbrach eine gar zu lange Bußpredigt des Pastors einst mit einer Gegenpredigt:

»Wirfst du meine Sünde mir vor? Wo hat Gott befohlen, daß ich unterm Höllentor soll mein Urteil holen? Wer hat dir die Macht geschenkt, andre zu verdammen? Da du selber liegst versenkt in der Höllenflammen!«

Die Gemeinde brach in lärmenden Beifall aus und ging friedlich nach Hause; Jan Petersen Hahn hatte es nicht böse gemeint. Aber das verstand nun der Pastor am allerwenigsten; er wurde krank vor Aerger und kümmerte sich von nun an gar nicht mehr um die Rantumer.

Take Steffen aber, der Strandvogt, war ihnen ebensowenig gewachsen. Wohl war Maren, seine Frau, eine Hexe und konnte ihm jederzeit sagen, wer Strandgut gestohlen hatte und von welcher Art das Gut war. Sie hatte auch das Oxhoft französischen Weines zutage gefördert, aber damit war freilich auch noch nicht viel erreicht. Im folgenden Jahr lief eine Hamburger Schmack auf mit Leinwand und Garnen; als aber von den Eigentümern danach geforscht wurde, mußte Take Steffen berichten, daß »sämptliche Berger Ihren Antheil Berglohn, daß Feine Linnen bereitz hin und wieder Verkauffet, das Grobe zu Hembden, Lakens und sonsten zu Ihrer Eigen Nottorfft verbrauchet« hatten. Nach dem Gesetz stand allerdings den Bergern ein Drittel des geretteten Gutes zu, das zweite dem Landesherrn, dessen Strand das Gut gerühret hatte, und das dritte dem Eigentümer des Schiffsgutes. Die Rantumer hatten sich aber von 576 Stücken geborgener Leinwand ohne weiteres 380 Stücke als Bergelohn zugeeignet – ganz zu schweigen von den Garnen, die überhaupt nicht mehr erwähnt wurden. Den Rest nahm der Herzog. So konnte sich der Eigentümer wohl den Mund wischen.

Wieder ein Jahr darauf strandeten in einer bösen Dezembernacht vier Schiffe auf der Halbinsel Hörnum, darunter ein russisches mit Roggen, Hanf und Juchten, und ein holländisches mit Tuchstoffen, feiner Leinwand, Seide und kostbaren Spitzen. Die Ladung allein schon des holländischen Schiffes wurde auf sechs Tonnen Goldes geschätzt. Von dem Schiffsvolk kamen 38 Mann in der Brandung um, darunter 29 Holländer. Der Kapitän des holländischen Schiffes war der einzige unter allen Schiffbrüchigen dieser Nacht, der auf einem Brett noch lebend angespült wurde. Aber er war so schwer verletzt, daß er auch nach einigen Wochen starb.

Nun hatte freilich Maren Taken ihrem Mann schon am Abend vorher von diesen Schiffen gesprochen, hatte ihm auch genau den Platz angezeigt, an dem der Holländer auflaufen würde. Take Steffen hatte sich auch noch bei dunkler Nacht aufgemacht und war im Morgengrauen wirklich der erste an Ort und Stelle gewesen. Aber bald kamen die Strandläufer in Scharen – von Rantum, Westerland, ja auch von Amrum und endlich von Föhr und den Halligen. Was sollte der Strandvogt tun? Geborgen mußte das Gut werden, sonst wurde es von der See wieder mitgenommen, oder es verdarb im Regen. Aber Take Steffen konnte nicht allein der antreibenden Massen Herr werden; er konnte die Leute nicht kurzerhand vom Strande fortschicken. Es würde ihm auch wenig genützt haben, wenn er einen derartigen Vorschlag gemacht hätte. Ein kurzes Lachen, ein gutmütiges: »Halt's Maul, Take –« wäre das äußerste gewesen, was er im günstigsten Fall erreicht hätte. Maren traf ein paar Stunden später auch ein als Anführerin einer beutegierigen Weiberhorde. Die Männer konnten auch nicht alles allein schaffen – ha, was wußten die reichen Handelsherren von Hamburg oder Amsterdam oder London davon, was es heißt, zentnerschwere Getreidesäcke oder Zeugballen stundenweit durch Sturm und Regen zu schleppen! Gut, daß ein paar Fäßchen Branntwein sich unter den Schiffstrümmern fanden! Die halfen kräftiger mit als Take Steffens Aufsicht.

Aber Take störte das Vergnügen. Er lief hierhin und dorthin, verlangte, daß die Rantumer erst alle andern verjagen sollten, ehe sie mit Bergen begönnen – verlangte gar, daß ihm jedes Stück gemeldet werden sollte, ehe Weiber und Kinder es fortschleppten. Beides war unmöglich, denn jeder Augenblick war kostbar. In einer halben Stunde würde das Wasser anfangen zu fallen. Dann würde der Ebbestrom manches mit forttragen, was bei Flut wohl geborgen werden konnte. Aber Take gab keine Ruhe. Da packte Maren kurzerhand den halb toten Kapitän auf eine Karre und riet ihrem Mann, ihn vor allen Dingen unter Dach zu schaffen.

»Bringen wir ihn durch, so wird er schon aussagen, was recht ist.«

Das leuchtete Take ein; er trottete ab. Als er aber den bewußtlosen Mann daheim im festen Bett verstaut hatte, kam doch die Unruhe wieder über ihn, und er machte sich auf und ging zu seinem Vater.

»Bist ein Narr,« sagte der Alte; »hast keine Fäuste? Lorens Hahn hätte dir schon geholfen, um nachher einen ehrlichen Bergelohn zu verdienen, und Muchel Carstensen auch.«

Trübselig saugte Take an seiner Pfeife. Muchel Carstensen war der Westerländer Strandvogt. Der hatte eine Wut auf Take, weil er vor ein paar Tagen ein leckeres Kistchen aus den Westerländer Dünen mitgenommen hatte, das Muchel für sich selbst zurücklegen wollte. Knapp, daß er Take nicht angezeigt hatte, eben weil seine eigenen Finger nicht ganz rein gewesen waren. Aber das alles mochte er dem Vater nicht erzählen.

»Bist ein Narr,« wiederholte der Landvogt mißmutig. »Was, sagst du, hat der Holländer geladen?«

Take berichtete, doch als das Wort »Spitzen« fiel, hellte sich des Alten Gesicht auf.

»Spitzen – sagst du? Spitzen? hm, hm – Brabanter? Lütticher? Brüsseler? Weißt du nicht? Bist ein Narr, Take.«

»Was sollen uns die Spitzen, Vater?« gab Take mürrisch zurück, denn er liebte es nicht sonderlich, immer wieder Narr benamst zu werden. Aber der Vater achtete nicht mehr auf ihn. Er rief den ganzen Haushalt zusammen, alles, was noch an Kindern und Enkeln bei ihm im Hause wohnte. Dann zogen sie allemann nach Hörnum hinaus, doch unterwegs gab Steffen Taken allerlei geheimnisvolle Anweisungen.

Der Tag war schon stark im Verdämmern, als Steffen Taken mit seiner Sippe den Strand westlich Puansklint erreichte, wo das Unglück geschehen war. Freilich war wohl nicht einer unter den Bergern, der das Geschehene gerade als ein Unglück auffaßte. Die Leute lachten und scherzten unter der schweren Arbeit; dabei aber mußten sie eilen, so sehr sie nur konnten. Noch war die Flut im Steigen; schwer rollten die brandenden Wogen auf den Strand, und fast jede brachte reichen Segen. In einer Stunde jedoch würde die Ebbe wieder einsetzen und in die offene See hinausziehen, was noch nicht geborgen war. Dazu zeigte die rötliche Färbung der westlichen Wolken, daß hinter ihnen die Sonne schon ins Meer sank. Ein scharfer Regen schlug nieder, und plötzlich stieg ein prachtvoller siebenfarbiger Bogen im Osten fast bis auf 90 Grad hoch in den Himmel hinauf. Da galt es zu schaffen, was jeder nur irgend leisten konnte. In der Dunkelheit wurde die Arbeit in der Brandung zwischen rollenden Fässern und stoßenden Balken zu gefährlich; da mußte schon hinter den Dünen verstaut sein, was man als sicheren Besitz schätzen konnte. Das wär nicht wenig; die Dünentäler schienen in Warenlager verwandelt zu sein.

Doch als die Dunkelheit dann wirklich hereingebrochen war, zeigte sich, daß die Waren in den Dünen noch längst nicht ein sicherer Besitz genannt werden durften. Was am Strande geraubt und gestohlen war, wurde hier zum andernmal geraubt und gestohlen, denn: wer vom Diebe stiehlt, den Gott liebt, und nicht selten kam es dabei zu Raufereien. Es trugen manche die reichste Beute heim, die sich nicht einmal in der Brandung die Füße naß gemacht hatten. Steffen Laken, der Landvogt, hielt sich für zu gut zum Stehlen. Aber er tauschte von einem kleinen Mädchen eine breite Brabanter Goldspitze gegen eine Handvoll Zuckerpflaumen, und er kümmerte sich durchaus nicht darum, was seine Söhne und ihre Weiber taten.

Zwei Tage später fuhr der Landvogt von Sylt nach Tondern und besuchte den Herrn Amtmann von Pincier und Königstein. Als die gnädige Frau dazu kam – denn Tondern war ihr, die am Kopenhagener Hof aufgewachsen war, dermaßen langweilig, daß sie von jedem Besuch ihr Teil abhaben müßte – fing Steffen Taken in seiner gemütlichen Art an, von den letzten Stürmen zu erzählen, von den Strandungsfällen –

»Mein Sohn schickt die Berichte darüber, sobald er alles klar hat,« schob er zum Amtmann gewendet ein. Dann öffnete er ein Kistchen, das er mitgebracht hatte: »Ich würde gern einmal die Ansicht der gnädigen Frau über diesen Kram hören –«

Frau Eva von Pincier schaute neugierig auf die klobigen Hände, die mit möglichster Vorsicht in das Kistchen griffen. Dann stieß sie einen hellen Schrei des Entzückens aus, schob seine Hände beiseite und begann selbst das Kistchen auszupacken; sein Inhalt bestand aus Spitzen – Spitzen – und nochmals Spitzen. Da waren geklöppelte und genähte Spitzen, seidene Spitzen und gar eine mit Goldfäden kunstvoll durchzogen. Frau Eva schaute und konnte sich nicht genug tun im Schauen. Sie besaß selbst eine kostbare Spitzensammlung und beschäftigte hier in Tondern mehrere Klöpplerinnen. Die arbeiteten in dem feuchtesten Keller des Schlosses, denn das Garn, das ihnen die Frau Amtmann selbst dazu lieferte, war so spinnewebfein, daß es in trockener Luft gebrochen wäre. Ärgerlich war wohl, daß diese Frauen nach kurzer Zeit schon an der Auszehrung starben; immerhin hatte Eva von Pincier auf diese Art mehrere schöne Stücke für ihre Sammlung bekommen. Diese Spitzen jedoch, in Steffen Takens Kistchen, stellten alles in den Schatten, was sie je besessen hatte.

»Was die Weibsleute doch für Spaß an solchem Kram haben,« bemerkte Steffen Taken endlich, indem er schon aufstand, um fortzugehen; »wenn die gnädige Frau ihn behalten will –«

Eva von Pincier starrte ihn an, als traute sie ihren Ohren nicht. Behalten –? Aber ihr Mann mischte sich hastig ein.

»Behalten? Unsinn, Landvogt, das kann ich nicht bezahlen.«

Steffen Taken lachte gutmütig.

»Wenn die gnädige Frau es als Verehrung von meiner Frau freundlich annehmen will –«

Der Amtmann hob abwehrend die Hand, aber seine Frau sah ihm mit funkelndem Blick in die Augen.

»Ja, ich will!«

Er duckte sich wie unter einem Peitschenhieb, aber Steffen Taken spielte blind und taub. Er hob die Goldspitze hoch und ließ sie im Abendschein funkeln.

»Kinderkram –« sagte er leichthin. »Ich kaufte sie einem Kinde ab, dessen Vater mit unter den Bergern war; es kam mehr und Besseres als dies auf sein Teil.«

»Unmöglich,« antwortete der Amtmann mühsam; »Ihr kennt den Wert dieser Dinge nicht, Landvogt.«

»Desto besser sind sie bei mir aufgehoben,« sagte die gnädige Frau mit heller Stimme. »Bestellt Eurer Frau meinen Dank, Steffen Taken – ich habe einen geizigen Mann, wie Ihr seht!« Dabei lächelte sie holdselig, als scherzte sie.

»Einen ehrlichen Mann, Eva,« berichtigte Herr von Pincier ernsthaft; dann reichte er Steffen Taken die Hand. »Gute Nacht für heute, Landvogt, und meinen Dank auch für Eure freundliche Absicht. Aber Ihr kennt den Wert dieser Sachen nicht; wir müssen in Ruhe darüber sprechen. Kommt morgen noch einmal vor, ehe Ihr abfahret.«

Steffen zog ab, aber am andern Morgen in aller Herrgottsfrühe bekam er eine persönliche Botschaft durch den kleinen Pagen der gnädigen Frau: er brauchte nicht noch einmal aufs Schloß zu kommen. Der Herr Amtmann wäre über Nacht krank geworden und ließe ihm sagen, daß alles in Ordnung wäre.

»Freue dich, Take, deine Sache liegt in den besten Händen,« schmunzelte Steffen, als er die Botschaft mit gebührendem Ernst entgegen genommen hatte; dann fuhr er befriedigt nach Sylt zurück.

Nach Anweisungen seines Vaters machte Take Steffen einen wunderschönen Bericht über die verschiedenen Strandungen und vergaß dabei nur das holländische Schiff zu erwähnen. Es kam auch keine Gegenfrage von dem Amtmann zu Tondern, und so verlief sich die Angelegenheit, wie sich inzwischen auch die hohe Flut von den Weiden und Ackerländereien der tiefliegenden Sylter Marsch wieder verlaufen hatte. Aber was es heißt, salzes Wasser auf dem Lande gehabt zu haben, das spürt man erst im nächsten Frühjahr, und von der Strandung des Holländers gab es im nächsten Sommer auch noch Mißwuchs.

Vor einigen Jahren war Herzog Friedrich IV. von Holstein-Gottorf in Polen gefallen, wo er eigentlich auf Gottes weiter Welt nichts zu suchen gehabt hatte; er war nur eben mit seinem Freunde und Schwager, dem Könige Karl XII. von Schweden, auf Abenteuer ausgezogen. Sein Sohn, Carl Friedrich, war erst zwei Jahre alt, als der Vater fiel. So kam er unter die Vormundschaft seiner Mutter und seines Oheims Christian August, Coadjutor zu Lübeck. Aber die Herzogin ging mit ihrem Kinde zu ihrem Bruder nach Schweden zurück, und Christian August war ein schöngeistiger Herr, der sich nicht ohne Not mit praktischen Dingen befaßte. So überließen die beiden Vormünder des kleinen Carl Friedrich die Verwaltung seiner Herzogtümer fast ohne jegliche Beschränkung dem Minister Görtz, einem macht- und prachtliebenden großen Herrn. Aber der große Herr scheute sich nicht, zu kleinlichen Mitteln zu greifen, wenn es galt, seinen Beutel zu füllen. Überall hatte er seine Kreaturen, die für ihn nach Geldquellen gruben. Solch ein Schnüffler kam im Frühjahr auch nach Sylt und schnüffelte bei Muchel Carstensen, dem Strandvogt von Westerland herum. Der tat harmlos, als merkte er nicht, was der Mann wollte, und erzählte ihm ganz beiläufig von dem holländischen Kapitän, der so lange bei Take Steffen krank gelegen hatte.

So kam bei kleinem doch dies und das zur Sprache und endlich an die große Glocke. Die läutete, daß man es bis Amsterdam hören konnte, und an einem schönen Frühsommertag legte sich eine holländische Jacht unter Keitum ins Watt. Der entstieg ein kleines Männchen mit scharfem verrunzelten Gesicht, in dem eine wunderlich gebogene Hakennase den Blick des Beschauers so fesselte, daß man ganz vergaß, auf die Augen zu achten, die rechts und links davon, eng an den schmalen Nasenrücken gedrückt, in tiefen Höhlen lagen. Die aber waren klug und wachsam mit stechendem Glanze. Es stellte sich heraus, daß dieses Männchen der Amsterdamer Jude Nathanael Rothschild und Eigentümer des im Dezember gestrandeten holländischen Schiffes war, der sich, wie er sagte, vor allen Dingen nach dem Schicksal seines Kapitäns Jan Jacobs erkundigen wollte. Der Kapitän war inzwischen gestorben; das konnte Take Steffen einwandfrei nachweisen, und der Prediger zeigte ihm auf seinen Wunsch auch das Grab und die Eintragung im Kirchenbuch. Dann aber fragte der Jude Rothschild auch nach dem Verbleib der Schiffsgüter, und da war freilich guter Rat teuer. Take schickte nach seinem Vater und setzte den unbequemen Gast derweil hinter ein gutes Glas seines eigenen Schiffsweines. Steffen Taken kam in aller Eile, aber trotz aller Schlauheit gelang es ihm nicht, den kleinen Juden einzuwickeln. Als Nathanael Rothschild wieder abfuhr – nicht mit seiner Schmack, sondern mit dem Fährschiff nach Hoyer – blieb der Strandvogt von Rantum in einiger Beklemmnis zurück. Wohl klopfte ihm sein Vater herzhaft auf die Schulter und meinte:

»Es kann nicht toller werden, als tot und in der Hölle sein, und auch das gewöhnt sich wohl –« aber Take fand nicht viel Trost in dieser Erwägung.

Der kleine Jude hielt sich nicht lange beim Amtmann von Pincier in Tondern auf, sondern fuhr geradenwegs zum Minister Görtz, der sich um diese Jahreszeit auf seinem Landsitz bei Schleswig vergnügte. Aber dies Vergnügen wußte ihm der Jude reichlich zu versalzen. Görtz platzte fast vor Wut, als ihm klar wurde, welche Summen der Staatskasse und somit auch seinem eigenen Beutel entgangen waren. Er zitierte den Amtmann von Pincier und den Landvogt Steffen Taken nach Schleswig, aber der eine konnte aus den Berichten des Rantumer Strandvogtes einwandfrei belegen, daß ihm niemals Kunde von der Strandung eines holländischen Schiffes zugekommen war; und der andere spielte den biederen Dummen und behauptete: wenn jemals solche Güter den Strand gerührt hätten, würde sein Sohn sie selbstverständlich geborgen haben. Soviel er – Steffen Taken – aber wüßte, wäre der Hauptteil viel weiter südlich angeschwemmt und den Amrumern in die Hände gefallen. Nun gehörte Amrum freilich – wie der Herr Jude wohl wüßte oder vielleicht auch nicht wüßte – der dänischen Krone an, und somit täte der Herr wohl besser, sich dieserhalb nach Kopenhagen zu wenden. Im übrigen wäre er natürlich gern bereit, eine allgemeine Haussuchung in Rantum und Westerland zu veranstalten.

Höflich nahm Nathanael Rothschild dies Anerbieten an, ohne den Vorschlag mit Kopenhagen weiter zu beachten. Er ging mit Steffen Taken nach Sylt zurück, und der Amtmann gab ihnen von Tondern zwölf Soldaten zur Hilfe mit. Irgendwie empfanden Amtmann und Landvogt, daß der höfliche kleine Jude gefährlicher wäre, als selbst der allgewaltige Minister Görtz, und was Steffen Taken irgend noch den Syltern abknöpfen konnte, verstaute er in verschwiegener Nacht eigenhändig in der holländischen Jacht; war es auch nicht viel, so hatte es doch die Reise von Amsterdam her gelohnt. Für die Staatskasse fiel nun freilich gar nichts mehr ab, und da doch ein Sündenbock geopfert werden mußte – Görtz hätte sonst wahrhaftig einen Schlaganfall bekommen – so wurde Take Steffen, der Strandvogt von Rantum, mit Schimpf und Schande seines Amtes entsetzt. Er war vielleicht der einzige, der bei dem ganzen Handel noch reine Hände behalten hatte, aber wo der Deich am niedrigsten, da läuft die Flut über.

Vorderhand blieb nun Muchel Carstensen, Lorens Hahns Nachbar in Westerland-Süderende, der einzige Strandvogt auf dem fast zwanzig Seemeilen langen Distrikt von Wenningstedt bis nach Hörnum Odde hinaus. Er war ein alter Mann, und schon bei schönstem Sommerwetter wäre er nicht mehr fähig gewesen, den langen Strand abzuschreiten, geschweige denn bei Sturm in dunklen Winternächten. So kam es wieder dahin, daß die Rantumer Burschen wie in alten Zeiten sangen:

»Frei ist der Fischfang,
Frei ist die Jagd –
Frei ist der Strandgang
Und frei ist die Nacht!«

Leider darf nicht verschwiegen werden, daß es unter ihnen manche gab, die das böse Räuberlied ganz durchnahmen und auch vor dem dritten Verse nicht zurückschreckten, der da beginnt: »Priester sind knurrig – lache sie aus!«

Ja, der Herr Pastor hatte sich ganz und gar von dem wilden Treiben zurückgezogen und ließ die Dinge laufen, wie sie wollten. So tat auch Take Steffen. Zwar saß er immer noch in der Rantumer Strandvogtei, eben weil kein Nachfolger ernannt wurde, aber er kümmerte sich um nichts und niemand mehr, und sein Vater, der Landvogt, wurde auch nicht jünger mehr und fand es immer weniger geraten, auszugehen, um sich den Ärger zu suchen, der ihm nicht von selbst ins Haus kam.

Der einzige, dessen Gewissen biß wie eine Herde Flöhe, war der Herr Amtmann von Pincier und Königstein drüben in Tondern, obgleich Frau Eva ihm täglich predigte:

»Görtz stiehlt im großen, weshalb also sollen wir es nicht wenigstens im kleinen tun?«

Aber der arme Pincier gehörte nun einmal nicht zu den Adamssöhnen, die den Apfel ruhig verspeisen und hinterher zum lieben Gott sagen: »Das Weib, das du mir gegeben hast –« Ach nein, der Amtmann von Pincier war sich dessen nur zu wohl bewußt, daß er sein Weib nicht von Gott empfangen, sondern sich gegen den Willen seines rechtlichen Vaters und seiner frommen Mutter selbst erobert hatte. Er versuchte auch gar nicht, den Spitzendiebstahl vor sich selbst zu beschönigen, sondern strebte nur danach, sein Gewissen etwas zu entlasten dadurch, daß er die Sylter von nun an straffer an die Zügel nahm. Da sein Entwaffnungsgebot vor vier Jahren durchaus keinen Erfolg gezeitigt hatte, erneuerte er es jetzt mit dem Zusatz, daß vier Taler Brüche zahlen oder vier Stunden im Halseisen vor der Kirchentür stehen sollte, bei wem etwa noch Waffen gefunden werden würden. Steffen Taken aber hütete sich wohl, nach Waffen zu suchen; auch hatte Herr von Pincier keine Kreaturen auf Sylt, die zu solchem Dienst zu brauchen gewesen wären; Soldaten lehnte der Landvogt entschieden ab.

Jedes Gesetz nun, das nicht in ganzer Schärfe durchgeführt werden kann, vermindert die Achtung vor der Obrigkeit. Das bedachte der Amtmann nicht, sondern verschärfte die Strafandrohungen nur immer mehr, ohne sie doch je in die Tat umsetzen zu können. Je größer die Zahl der Niederfälligen oder zu Halse Gefällten wegen unbedeutender Vergehungen wurde, desto geringer wurde die damit verbundene Schande der Ehrlosigkeit geachtet. Viele kümmerten sich gar nicht mehr darum, aus diesem Stande der Niederfälligkeit erlöst und aufs neue in die Rechte ehrlicher Leute gehoben zu werden oder, wie die Sylter sagten: ihre Upresung nachzusuchen. Für die Upresung ließ sich das Amtshaus drei Pfund englisch und vierzehn Schillinge in bar zahlen; die konnte man besser für andere Dinge brauchen. So traf denn eines schönen Tages folgendes Schreiben in der Landvogtei ein:

 

»Nachdem mir glaubwürdig an und vorgebracht wird, die Erfahrung auch bezeuget, daß diejenigen, so durch Urtheill und Recht Niederfällig erkandt, und ihre Aufriesung zu suchen von rechtswegen verbunden, dennoch solches gar auß der Acht laßen, die Aufriesung weder gebührend suchen noch dieselbe abfordern; Alß wirdt allen und jeden Ambts-Unterthanen, die in verwichener Zeit biß anhero also Niederfällig erkandt oder künfftig dazu condemniret werden möchten, gantz ernstlich gewarnet und befehliget, dem Rechten und Herkommen nach, ein jeder die gewöhnliche Aufriesung zu suchen und zu fordern; beym wiedrigen und da solches in den negsten drei Wochen nicht also gesuchet noch diesem gelebet wird, sollen allsolche Niederfälligen Persohnen zu ehrlichen Ämbtern, noch zu Zeugen, noch zu anderen Ehrlichen Handlungen nicht gezogen, sondern ihres Ehrlichen Läumunths und Nahmens, biß sie ihre Aufriesung gesuchet und erhalten, unfähig sein. Haben sich gäntzlich darnach zu achten.

Auf dem Ambt-Hauße Tondern.
J. L. v. Pincier v. Königstein.«

 

Wie es seines Amtes war, fertigte der Landvogt von diesem Schriftstück Thingwälle aus und ließ sie durch die Dörfer laufen. Die meisten lasen die Botschaft, zuckten die Achseln und dachten nicht weiter daran. In Rantum aber gab es ein großes Gelächter; dort führten nun die Brüder Hahn das große Wort.

»Die niederfällig sind, sollen zu Zeugen unfähig sein,« sagte Manne ehrbar; »bei den Raben – dann wird Sylt bald aussterben.«

Die Männer brüllten vor Lachen, nur Aaners verzog kaum das Maul; er gönnte es seinem Bruder nicht, daß er solch guten Schnack gemacht hatte. Manne aber tat, als ginge ihm daran erst die wahre Meinung der Verordnung auf.

»Ah mei – mir scheint fast, der Herr Amtmann meint, daß wir dadurch Zeugnis abzulegen unfähig werden. Desto besser! Außer dem Pastor sind wir wohl alle schon zu Halse gefällt, ein Zeuge allein aber gilt nicht. So kann uns also nichts mehr geschehen.«

Mannes Worte liefen auf Sylt um, schneller als der Thingwall, und fanden viel Beifall, nur nicht bei dem eigenen Bruder.

Seitdem Lorens Jens Grethen seine Inge heimgeführt hatte, lebte er in einem sauberen Hausstand, in dem ihm über die Maßen wohl war. Es war alles klar und wahr um ihn herum, das gab ihm eine ruhige Selbstachtung. In seinen jungen Jahren war er wohl wie der Hahn auf dem Mist gewesen, der sich größer dünkt, nur weil er von oben her krähen kann. Allmählich aber wurde er bedachtsamer und hielt auf sich und die Seinen. Zu dem kleinen Peter war eine noch kleinere Gondel gekommen, und nun war schon ein drittes unterwegs. Auch Inge war ruhiger geworden, immer gelassen und freundlich, und stand dem Hauswesen mit Umsicht vor. Wenn sie auch an schönen Dingen ihre stille Freude hatte, so war sie daneben doch genau und sparsam mit dem baren Gelde. Was Lorens im Herbst heimbrachte, schüttete er in die alte Truhe, aber Inge nahm nicht ohne Not davon. So wuchs der Haufen von Jahr zu Jahr, und niemand zählte die blanken Silberlinge, die in der faulen Ruhe allmählich schwarz wurden. Das bare Geld wurde auf Sylt auch nicht besteuert, und da Inge nur ein Pferd im Stall hatte – im Gegensatz zu andern, die sich größer dünkten, wenn sie vier oder sechs Pferde fütterten – waren ihre Steuern gering und sie galten als kleine Leute, die einfach leben konnten.

Aber Lorens gefiel nicht, was ihm von seinen Brüdern gelegentlich zu Ohren kam. Jan, der jüngste, hatte die älteren nach des Vaters Tode mit Recht und Brauch aus dem Hause, das ihm als Erbteil zustand, ausgeschiftet. Nun lebte er allein darin mit Mutter Gondel, die immer mehr in Dreck und Faulheit verkam. Manne hatte auf dem Nachbarhof eingefreit, und die beiden anderen, Aaners und Niggels, hausten mit zwei Freunden zusammen in einer halb unter Dünensand versunkenen jämmerlichen Hütte. Es hieß aber, daß hinter dieser Hütte tief unter der Düne noch ein geheimer Verschlag läge, der mit kostbarstem Strandgut proppevoll gestopft wäre. Niemand wagte, die Wahrheit dieses Gerüchtes nachzuprüfen, denn die vier Hausgenossen waren vier der verwegensten Gesellen auf Sylt, und niemand spürte große Lust, ein kaltes Messer zwischen den Rippen zu fühlen. Tatsache aber war, daß nirgend so guter Wein geschenkt wurde wie in dieser Hütte, und daß nirgend so tolles Leben herrschte. Die wildesten Burschen nur verkehrten hier und allerhand Weibsleute, die eben nicht den besten Ruf hatten; unter ihnen auch die jüngste, schwachsinnige Tochter der Westerländer Krugwirtin, Ingeborg Clausen, die in jedem Jahr ein totes Kind zur Welt brachte, das sie – wo sie gerade ging oder stand – auf dem Acker oder in den Dünen verscharrte.

Lorens gefiel dies alles durchaus nicht, aber er fühlte sich nicht berufen, sich einzumischen, solange die Mutter lebte. So zog er sich nur immer mehr zurück, wie die Prediger von Westerland und Rantum auch taten, und hielt sich still für sich, wenn er daheim war. Es ist aber so: Wenn die besseren sich zurückhalten, heben die schlechteren desto frecher die Köpfe. Je stiller Lorens der Hahn sich selbst hielt, desto mehr mußte er von Dingen hören, vor denen er lieber die Ohren verschlossen hätte. Die Rantumer verwilderten völlig. Muchel Carstensen wurde immer unfähiger, den großen Distrikt zu beherrschen. Steffen Taken berichtete über ihn voller Wut an Pincier:

»Was bey Rantum angestrandet, kan ich nicht schreiben, der große Möns. Muchell Carstensens der newe Strandt Vogdt daselbst nachdem ich ihm sagen laßen Er möchte mihr wy die andere Strandvoigdte getan haben und von Alters her gebrauchlich gewesen schrifftlich zu schicken was in diese Winter bey Rantum angestrandet, Läßt Er mihr sagen Er schreibe Solches was alda gestrandet selber an dem Herrn Haußvogd, dahero ich nicht gebührlich Referieren kann.«

Danach gerieten Steffen Taken und Muchel Carstensen sich gegenseitig in die Haare wegen des bei Westerland angetriebenen Wrackholzes. Ein langer Prozeß war die Folge, und anstatt daß Landvogt und Strandvogt am gleichen Strange zogen, wie sich das wohl gehört hätte, befehdeten sie sich ingrimmig. Lorens, der innerlich für Steffen Taken Partei ergriff, suchte trotzdem sich auch gut nachbarlich mit Muchel Carstensen zu stellen, aber der Alte fühlte doch das verschwiegene Urteil des Jüngeren, und das Verhältnis wurde allmählich kühler.

Auf der andern Seite schloß Margaretha Tamen sich immer enger an Inge an, und das behagte Lorens noch weniger. Seit die Kinder im Kruge vollends herangewachsen waren, wurde das Leben dort immer wüster. Die Mädchen trieben sich mit allerlei Mannsvolk umher, und die Brüder wurden die geriebensten Strandläufer von Westerland. Immer wieder versuchte Tam Bleiken, sich seiner Frau zu nähern, aber ohne Erfolg. Mit Hilfe ihrer Kinder schlug sie seine Annäherungsversuche immer wieder, ab. Dies Schlagen ist durchaus wörtlich zu verstehen. Einmal trug Steffen Taken in sein »Dingfellung- und Brücheregister« ein: »Ingeborg Claußen zu Westerland, daß Sie Tam Bleicken 3 Löcher im Kopf geschlagen, daher Sie zu Halße gefält, hat nichts und ist wahnwitzig.« Und ein andermal: »Tam Bleicken und seine Frau sind beyde jeder für sich zu 40 Schilling gefället, weil sie sich mit Schlägen und Gewaltthätigkeiten einander bepacket.« Das ging so hin und her, und da niemand von Tam Bleikens Verwandtschaft ihn wieder im Hause haben wollte, biesterte er hilflos auf der Insel umher, verlor sich nach Listland und verunglückte dort schließlich unter einem Haufen Wrackholz, unter dem er wohl die Nacht hatte verbringen wollen. Wie der Augenschein lehrte, war das Holz ins Rutschen gekommen und hatte ihn erschlagen.

Tam Bleiken hatte zu den Menschen gehört, die jedermann quer im Fahrwasser liegen. Zu jeder nützlichen Arbeit unfähig, töricht und halsstarrig zugleich, dabei immer hungrig und gierig im Fressen, war er seiner ganzen Sippe nur zur Last gewesen. Nun wurde er in Ehren begraben, und jedermann war bereit, ihn so schnell wie möglich zu vergessen. Aber da begab sich etwas Schauerliches. Als Maren Jensen, Tams älteste Schwester, eines Abends spät mit ihrem Manne zusammen von Braderup nach Keitum heimging, blieb sie unter der Kirche plötzlich stehen und packte ihn am Arm.

»Höre, Jens, so weinte Tam, als er klein war und bei mir im Bett schlief.«

Der Mann hielt auch inne, um zu horchen, und deutlich meinte er, durch das Heulen des Nordwest hindurch, der brausend um den Turm fuhr, ein jämmerliches Kinderweinen zu vernehmen; hastig zog er seine Frau weiter:

»Uuha, mich gruselt's!«

Sie liefen, was sie laufen konnten, den Weg hinab, der nach Keitum führt, und es geschah ihnen nichts. Aber Maren Jensen konnte den Mund nicht halten, ihr Schiff sprang leck, und so wußte bald die ganze Nachbarschaft, was sie erlebt hatten. Danach wurde das Geschrei noch von vielen gehört, so daß endlich die Leute am hellen Tag nicht mehr wagten, allein auf den Kirchhof zu gehen.

Als Margaretha Tamen zuerst davon erfuhr, lachte sie nur und meinte:

»Maren Jensen ist wohl durchgedreht, wie Tam auch war.«

Aber als die Leute, die zu ihr in den Krug kamen, wieder und immer wieder beteuerten, daß man ganz deutlich Tam Bleikens Stimme erkennen könnte, da klang ihr Lachen allmählich immer weniger sicher, und eines Nachts machte sie sich heimlich auf, um das rätselhafte Geschrei auch einmal mit eigenen Ohren zu hören. Sie war ein resolutes Weibsbild und hielt nicht viel von Gespenstern. Vielleicht könnte sie dies bannen, dachte sie bei sich, denn es tat ihrer Wirtschaft Abbruch, daß Tam Bleiken keine Ruhe im Grab finden konnte. Es war eine warme Sommernacht mit hellem Mondschein, als Margaretha zu diesem Zweck auszog, und so still, daß sie meinte, sie müßte von weither schon das Geschrei hören können, aber sie kam bis unter die Kirchhofsmauer, ohne auch nur einen Ton vernommen zu haben.

Da – als sie eben auf die Pforte zugehen wollte, um in den Kirchhof hineinzuschauen – sprang plötzlich ein Geheul hinter der Mauer auf, das ihr das Blut in den Adern kalt machte. Ja – das war Tam Bleiken – wie oft – oh, wie oft hatte sie ihn so gehört, wenn sie ihn mit Steinwürfen vom Hause fortgetrieben hatte! Nein, das war kein Kinderweinen, wie die Leute sprachen, aus diesem Geschrei klangen Wut und Angst eines blöden Mannes. Ihr halbes Leben hätte Margaretha Tamen darum geben mögen, jetzt fortlaufen zu können, aber das Geheul zwang sie im Gegenteil mit unheimlicher Gewalt näher und näher an die Kirchhofspforte heran – nun konnte sie hindurchspähen – da lag Tam Bleikens Grab – daneben aber – daneben – hell vom weißen Mondschein beleuchtet, hockte eine Gestalt, die mit beiden Händen in der Erde grub und dazu leise wimmerte – wie wohl ein Kind tut, das sich allein im Dunkeln fürchtet.

Was war das? Margaretha packte mit beiden Händen die Gitterstäbe und beugte sich weiter vor. Da kreischte die Pforte grell in den Angeln – die Gestalt wandte sich um – sprang auf – warf die Arme hoch, und wieder scholl das heulende Geschrei grausig über die stillen Gräber hin – kein Zweifel, es war Tam Bleiken selbst!

Mit gellendem Hilferuf sprang Margaretha zurück und lief – lief, was ihre Füße nur laufen konnten, den Weg nach Keitum hinunter. Nur Menschen – warme lebendige Menschen suchte sie in ihrer Todesangst. In das erste Haus vom Dorf brach sie ein, das war das Pfarrhaus; dort allein würde sie sicher sein. Wie eine Wahnwitzige rannte sie durch alle Stuben und riß die Wandtüren auf, bis sie den alten Cruppius fand.

»Pastor – Pastor, rette mich – Tam Bleiken – der Teufel – huuh, der Satan –«

Sie wollte zu dem alten Mann ins Bett steigen, aber in seinem Schrecken stieß er sie von sich, daß sie rücklings in die Stube schlug und unter furchtbaren Zuckungen liegen blieb.

»Hilfe – Hilfe! Anna – Jacobus – Erk – Erk –«

Da wurde es im Hause lebendig. Die Schläfer erwachten und polterten aus den Betten, und Anna Andresen brachte einen Kienspan, den sie in aller Eile am glimmenden Tuul entzündet hatte, und beleuchtete damit die Handlung.

»Was ist –? Wer ist die Person?« zeterte der Ehrwürdige und Hochgelahrte; »ich werde in meinem eigenen Bett überfallen – das geht zu weit –«

»Regt Euch nicht auf, Vater,« bat die Tochter und beugte sich über die Einbrecherin, die sich noch immer auf der Erde wälzte, und der nun der Schaum dick vorm Munde stand. »Gott helfe uns, wie sie die Augen verdreht! Jacobus – Jacobus!«

Aber Jacobus, der Barbier, der über Sommer auf Sylt geblieben war, weil im Frühjahr eine Seuche unter den Kindern ausgebrochen war und er allein helfen konnte – Jacobus war nicht daheim, und Annas Kinder grauten sich nicht weniger als die Mutter selbst vor dem wild um sich schlagenden Menschenwesen.

»Wer ist es nur, was wollte sie denn von Euch, Vater?«

Aber Pastor Cruppius wußte es nicht.

»Schafft sie fort, sie ist besessen.«

Der Ansicht waren die andern auch, aber niemand wagte sie anzurühren.

»Ich glaube, es ist Tam Bleikens Frau aus dem Westerländer Kruge,« sagte endlich Erk Andresen, Annas Ältester, der Margaretha einmal bei Inge-Most getroffen hatte.

»Das mag wohl angehen,« stimmte der Großvater zu; »sie schrie, ich sollte sie vor Tam retten.«

Tam Bleiken – huuh, sie sahen sich mit weißen Gesichtern an, denn sie hatten alle schon das Weinen und Schreien unter der Kirche gehört.

»Gott schütze uns, er findet wohl keine Ruhe im Grabe – ob er seine Frau verfolgt?«

Sie redeten hin und her, wagten nicht fortzugehen, weil draußen vielleicht Tam Bleiken lauerte, und doch graute ihnen allen, im gleichen Raum mit der Besessenen zu sein. Die Kinder weinten vor Angst und Pastor Cruppius rief unaufhörlich:

»Schafft sie fort, sie ist besessen –« aber niemand fand den Mut, sie anzufassen, und der Pastor selbst konnte nicht aus dem Bette kommen, weil er sonst über die Frau hätte wegsteigen müssen – wer konnte wissen, ob Satanas ihn dabei nicht an der Ferse packen würde?

Endlich – der Morgen graute schon – kam Jacobus, der Barbier, heim und wurde von dem allgemeinen Geschrei in die Stube gezogen. Sie stürzten alle auf ihn zu, umklammerten ihn, schrien und schluchzten. Der Kienspan war längst verbrannt. Jacobus konnte in der dunklen Stube zunächst nichts unterscheiden, und es dauerte geraume Zeit, bis er begriff, was geschehen war. Dann holte Anna einen neuen Span und beleuchtete die Frau.

»Ja, es ist Margaretha Tamen – man muß ihr den Daumen ausdrehen, damit sie wieder zu sich kommt,«, sagte Jacobus und griff gleich selbst zu. Aber Margarethas Fäuste waren so ineinander verkrampft, daß er sie mit aller Gewalt nicht aufbrechen konnte.

»Satan hält sie fest,« klagte der alte Pastor; »schaffe sie fort, mein Sohn, sie ist besessen.«

»Das mag wohl sein,« gab Jacobus gleichmütig zu, der Margaretha nicht nur einmal unter den Händen gehabt hatte, und besser im Westerländer Kruge Bescheid wußte als in seines Vaters Kirche; »sollte mich nicht wundern, wenn Tam Bleiken sie sich holt.«

Er packte zu, faßte die Frau unter die Achseln und schleppte sie zum Hause hinaus quer über den Kirchenweg; dort ließ er sie liegen. Später – da der Tag wirklich angebrochen war – sahen sie nach ihr; da war sie verschwunden, und als sie ihr weiter nachforschten, fanden sie sie auf dem Kirchhof neben Tam Bleikens Grabe, splitterfasernackt und tot. Ihr Körper war zerkratzt und geschunden, ihr Mund voll Blut, und das Gesicht blau, als wäre sie an ihrem eigenen Blut erstickt. Trotz allen Suchens fand man kein einziges ihrer Kleidungsstücke. Gott allein mochte wissen, was mit ihr vorgegangen war – Gott – oder vielleicht auch der Teufel. Pastor Cruppius wollte sie neben Tam Bleiken ins Grab legen, aber die Keitumer sträubten sich dagegen: sie wollten keine Verdammten auf ihrem christlichen Kirchhof dulden. So wurde die Leiche nach Westerland gebracht und dort beerdigt, aber die eigenen Kinder grauten sich vor der Mutter und wagten nicht, ihr Grab zu pflegen. Der Krug verfiel. Alle andern zogen fort, und endlich blieb die blöde Ingeborg als einzige Bewohnerin darin übrig. –

Seit dem Tage, an dem Margaretha Tamen tot auf dem Keitumer Kirchhof lag, hörte das Schreien und Weinen unter der Kirche auf, das doch von Lichtmeß bis Jakobi die Sylter geängstigt hatte. Aber seit diesem Tage kränkelte der alte Pastor Cruppius. Er wurde wunderlich und fürchtete sich vor jedem Menschen, der ihm ins Haus kam. Anna Andresen suchte ihn nach Möglichkeit zu schützen, denn nur solange der Vater lebte, bot das Pfarrhaus ihr und ihren Kindern eine Zuflucht. Was danach werden sollte, daran wagte sie gar nicht zu denken. So hütete und schonte sie mit dem alten Vater herum, so gut sie nur konnte, und er wurde immer abhängiger von ihr.

Eines Tages aber – es mochte ein halbes Jahr seit der schlimmen Nacht vergangen sein oder vielleicht ein paar Wochen mehr – war Anna zu einer Nachbarin zum Wollekratzen gegangen. Da drang ein großes und starkes Weibsbild in das Pfarrhaus ein und trotz des Widerstandes seiner Enkelkinder bis zum alten Pastor Cruppius vor.

»Jee, Pastor, was ist das für ein Kram, daß man nicht zu Euch soll, wenn ich doch meinen Jungen taufen lassen will,« sagte sie erbost.

Der Pastor blinzelte scheu zu ihr auf.

»Anna – wo ist Anna?« murmelte er ängstlich, und als er seinen ältesten Enkel gewahrte, der sich mit der Frau zugleich in die Stube gedrückt hatte, winkte er ihn herbei; »hole mir das Kirchenbuch vom Bort herunter, Erk.«

Der Junge tat es und legte das Buch aufgeschlagen vor den Großvater hin.

»So – so – nun werden wir das gleich haben. Du mußt nicht so ungeduldig sein – wie ist dein Name?«

»Name? Weiß ich nicht,« antwortete das Weib mißtrauisch; »Name – was ist das?«

»Ich meine: wie heißt du? wer bist du?«

»Wer ich bin? Wißt Ihr das nicht, Pastor? Wo ich doch im Winter all und jeden Sonntag zu Euch in die Kirche komme! Jappen Maer von Kampen bin ich.«

»Von Kampen –« der alte Mann dachte angestrengt nach; »bei wem wohnst du?«

»Bei niemand; bei mir selbst.«

»Welches ist denn dein Hof?«

»Hof – pah! Jee, ich möchte wohl einen haben, Pastor, aber ich habe keinen. Ich hüte doch die Schafe draußen auf Neuland.«

»So – so – du bist die Hirtin. Mußt nicht so ungeduldig sein. Ja, dann wohnst du wohl draußen in der Schäferhütte – hm, nun weiß ich wohl – und – also du hast einen Sohn.«

»Wohl, Pastor, den sollt Ihr mir taufen.«

»Bist du denn verheiratet?«

»Noch nicht, Pastor, aber das könnt Ihr dann auch wohl gleich richtig machen.«

»Hm, und wer ist denn der Mann?«

Die Frau zögerte.

»Jee, Pastor, müßt Ihr das wissen?«

»Gewiß muß ich das wissen; er muß doch auch mit zur Kirche kommen, wenn ich Euch kopulieren soll.«

»Das muß wohl sein – jee, ja – jee, ja – es ist nämlich Tam Bleiken, Pastor.«

Der alte Mann sah von seinem Schreibkram auf. Sein Gesicht verzerrte sich; der Unterkiefer fiel herab.

»Tam – Bleiken –?« lallte er, und dann, wimmernd – hilflos wie ein Kind: »Anna – Anna –!«

Heulend lief Erk Andresen aus der Stube und zum Hause hinaus, um seine Mutter zu holen. Als sie kam – noch keuchend vom schnellen Lauf – fand sie ihren Vater in den Lehnstuhl zurückgesunken, kraftlos hin und her schwankend unter den derben Fäusten der Jappen Maer. Anna stieß sie zurück und nahm den alten Mann in die Arme, der sich wie ein Kind an sie klammerte:

»Tam Bleiken, sagt sie – Tam Bleiken.«

Finster zog Anna die Stirn zusammen.

»Was soll der Unfug, Jappen Maer?«

»Kein Unfug; Pastor wollte wissen, wer mein Mann ist.«

»Tam Bleiken ist tot und begraben.«

Doch Jappen Maer schüttelte ruhig den Kopf.

»Ist er nicht, Anna. Den dein Vater begraben hat, das war ein fremder Mensch, den wir am Strande gefunden hatten. Wir zogen ihm Tams Kleider an und steckten ihn unter das Holz, als hätte das ihn erschlagen. Tam Bleiken lebt schon lange bei mir, und nun habe ich den Jungen von ihm.«

Da erhob sich Pastor Cruppius noch einmal und reckte die knöcherne Hand gegen Jappen Maer aus:

»Die Toten stehen auf, und die da begraben sind, kehren wieder,« sagte er mit hohler Stimme. Dann brach er zusammen. –

Jappen Maers Sohn, Tam Tamen, wurde erst von dem Nachfolger des alten Cruppius, Herrn Paul Hansen, getauft, und dieser gab auch erst die Eltern des Kindes ehelich zusammen. Der alte Cruppius lebte allerdings noch ein paar Wochen, aber er war nicht mehr imstande, Amtshandlungen vorzunehmen. Dann starb er und Paul Hansen zog ins Pfarrhaus ein, nachdem er vorher schriftlich hatte versprechen müssen: »Wenn auch die Gemeine aus Liebe gegen ihren alten Pastoren HE. Jac. Cruppius es gerne sehen, daß eine von dessen Töchtern bey dem Pfarrdienst verbleibe, alß laß ich mihr gefallen, im Fall mihr eine Jungfer davon werden kann, selbige künfftig nach Gottes Willen zu ehligen.«

Als Herr Paul Hansen aber von Hoyer herüberkam, fand sich, daß von den vielen Töchtern des seligen Cruppius wohl noch eine unbegeben war, aber das war Judith, die mit den Brüdern hinten in Archsum gehauset und ein dermaßen wildes Leben geführt hatte, daß Herr Paul Hansen auf diese Jungfrau verzichtete und statt ihrer die ehrsame Witib Anna Andresen freite, was der Gemeinde eben so recht war. Es fand sich aber ferner, daß der selige Cruppius außer einem guten Viehbestand noch ein recht Erkleckliches an Kleidung, Wollvorräten und barem Gelde hinterlassen hatte. Ueber diese unerwartet große Erbschaft konnten sich seine Kinder nicht einigen; die Männer der verheirateten Töchter mischten sich auch in den Handel: Bleik Bleiken, Tams Bruder, Erich Knudten und Erk Schwennen aus Keitum, sowie Jens Jensen aus Morsum, also daß der Landvogt Seiten und Seiten seines Brücheregisters mit ihren Heldentaten füllen mußte:

»Jacobus Croppen Balbirer tho Keytum Clagedt auer Syne Broder Johannis Croppen darsülwest und Syne Broder Steffen Croppen sambt Syne Schwester Elisabeth Knudten, deswegen dat Johannes tho Ehm in dat Pastoradts Huse gekamen vnd mit Hulpe van Steffen und Elisabeth Ehm Syne Hände gebunden vnd mit Ein Flegell Klapper Jammerlich geschlagen, Sine beide Ogen, Imglicken Sine beide Armen Rodt und Blauw geschlagen, Etliche Sulver Knöpen van sine Foderhemmedt affgereten, sine Brostdoeck vor vpgerehten, Imglicken Syne Bruck Etlichermalen Vp gereten vnd Syne Rechter Lände blauw geschlagen.«

»Elisabeth Knudten tho Keytum Claget auer Ehre Broder Jakobus Croppen deswegen dat he Ehr, doch Se Neuenst Ehre Andere Schwestern und Bröders in des Herrn Pastoren Huse thor Erffdehlung gefordert gewesen vpn Buten dehl in Etzliche Ehre Brödern vnd Schwestern Jegenwarth midt der Fuest geschlagen.«

»Johannis Kruppius ist vermöge Urthell und Recht zu Halße gefället, weil er Bleicke Bleicken in Keytum in seinem eigenen Hause Gewalt gethan.«

»Johannis Krupp ist nebst seyn Bruder Steffen Krupp und Schwester zu Halße gefället, weil Sie in der Herren Friede ihren Bruder Jacobus mit Schlägen und sonst sehr übell zugerichtet.«

»Hanna Jensen zu Morsum hat Erk Schwennen Frau gescholten und ist dahero zu Brüche erkand. Weil sie nur wenig in bonis hat, brüchet sie 3 Thaler.«

In Westerland war etwas vordem der alte Pastor Rhan gestorben. Seine Erben führten noch vier Jahre lang einen erbitterten Streit mit der Gemeinde, bei der es mehrfach zu Tätlichkeiten kam. Nun waren zwar die Pastoren als arme Hungerleider von den Syltern niemals groß angesehen, aber sie hatten doch auf sich gehalten und waren darum doch allgemein geachtet gewesen. Wie nun aber Frau v. Pincier zu ihrem Gatten sagte: Wenn Görtz im großen stiehlt, weshalb sollen wir es nicht im kleinen tun? – so sprachen jetzt auch die Sylter: Wenn sich des seligen Pastors Kinder um ihres verstorbenen Vaters silberne Knöpfe schlagen, weshalb sollen wir nicht auch mit Gewalt nehmen, was uns zusteht?

Es kam dahin, daß niemand mehr Achtung vor dem Eigentum oder der Person des andern behielt. Was durch den großen Hörnumer Strandraub seinerzeit auf die Insel gekommen war, wechselte oft dreimal oder viermal den Besitzer, ehe es wirklich angewandt wurde. Aber die Seuche, einmal eingeschleppt, griff noch weiter um sich. Nicht nur stahl jeder ohne Reue, was der Nachbar vordem selbst gestohlen hatte, sondern endlich war auch das nicht mehr sicher, was einer sich in ehrlicher Arbeit sauer verdient hatte. So wurde dem Andrees Nissen in Archsum seine ganze Roggenernte in einer Nacht vom Felde gestohlen. Es mußten aber mehrere Hofbesitzer an dem Diebstahl beteiligt gewesen sein, denn es gehörten mindestens acht Gespanne dazu, die ganze Ernte in einer Nacht abzufahren.

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