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Der Sylter Mann

Von all diesen Geschichten hörte Lorens Petersen der Hahn nur im Winter, wenn er daheim war; im Sommer fuhr er auf Grönland. Wie der Kapitän, so ist das Schiffsvolk, und wie die Frau, so ist das Haus. Daher kam es, daß Lorens draußen wie drinnen in reiner Luft lebte. Nur die Nachbarinnen, die zu seiner Frau kamen, wußten in jedem Winter schlimmere Dinge zu berichten von Diebstahl und Untreue, Schlägereien und bösen Hexengeschichten. Ah mei – wie viele der Frauen, deren Männer auf See fuhren, folgten ihnen heimlich nach oder trieben inzwischen Unzucht mit dem Teufel und seinen Burschen. Man wagte kaum, im eigenen Hause darüber zu reden, denn die Hexen hörten durch die Wände hindurch, und wenn man sie erzürnte, rächten sie sich auf ihre Art: sie zogen den Kühen die Milch aus dem Euter in die eigenen Schüsseln; sie machten das Vieh krank oder ließen gar die Kinder sterben; sie schickten Stürme hinter den Schiffen drein, auf denen die Männer ausgefahren waren; sie schnüffelten auch aus, wenn die Männer draußen in den großen Hafenstädten ein Liebchen fanden, und machten den Frauen damit das Herz schwer. Nein, es war gefährlich, die Hexen zu erzürnen.

Inge wurde immer ängstlicher. Außer Peter, dem Erstgeborenen, hatte sie nun drei kleine Mädchen am Rockschlippen hängen, lauter kralle, rotbackige Dinger, eins wie das andere. Auch das Vieh im Stall gedieh unter ihrer Hand und die Schafe in den Dünen. Das Haus stand fest, und der Silberhaufen in der alten Truhe mehrte sich von Jahr zu Jahr. Nur Peter, ihr Liebling, ihr einziger Sohn, wollte nicht hoch kommen. Immer war er blaß und mieserig, kaum so groß wie Gondel, die doch gut zwei Jahre jünger war als er, und kaum halb so schwer. Kein Zweifel, da steckte Hexenneid dahinter. Inge war diensteifrig und betulich zu jedem alten Weib, das ihr nur irgend ins Haus oder sonst in Sicht kam, aber das half Peter alles nichts.

Es war in diesem Winter, kurz nach dem Petrithing – Lorens fing schon an, für die Sommerreise zu rüsten – als den kleinen Peter ein Helligding anfiel. Ihm war heiß am kalten Tage; dann fror er wieder in der warmen Küche, daß seine Zähne klappernd aufeinander schlugen, und nachts hustete er, bis die Schwestern davon aufwachten und heulend nach der Mutter riefen. Sie holte Peter zu sich ins Bett, aber das Husten und Keuchen ließ nicht nach.

»Höre nur, wie er tut,« sagte sie angstvoll zu ihrem Mann; »es zerreißt ihn ja.«

Lorens nahm den zuckenden kleinen Körper in seine Arme und drückte ihn an sich.

»Schlaf doch nur, Litjpidder, ich bin doch bei dir.«

»Ich kann nicht, Vater, ich kann nicht,« stöhnte das Kind; dann verlangte es zur Mutter zurück.

Das ging so zwei – drei Wochen hindurch und wurde immer schlimmer, obgleich alle alten Weiber von Westerland, Rantum und Tinnum kamen, um das Kind zu besprechen, denn jeder gab Inge einen Klump Butter oder ein Säckchen Grütze oder einen Eimer Milch mit, wonach ihnen eben das Gelüste stand. Es half aber alles nichts. Der kleine Peter starb doch. Inge war wie außer sich, und es tröstete sie durchaus nicht, daß Lorens ihr half, eine Leichenfeier auszurichten wie für einen vollwertigen Mann. Sie weinte am Tage und saß die Nächte hindurch am offenen Sarge.

»Pidder, mein Pummelke, wach doch wieder auf!«

Vergebens suchte Lorens ihr gut zuzureden; sie hörte ihn kaum. Und als sie den kleinen Sarg ins Grab senkten, warf sie sich neben der offenen Grube auf die Erde und streckte die Hände aus, um ihn wieder herauf zu holen. Sie war wie von Sinnen,

»Bleibe über Sommer daheim, Lorens,« sagte der alte Erk Andresen, als er zum Leichenschmaus ins Haus kam und sehen muhte, daß Lorens die Gäste bediente, weil Inge sich in einen Winkel verkroch. »Inge hat es schon einmal so gehabt, damals als Jens Grethen starb. Da ließ sie das Vieh hungern und das Korn auf dem Felde verkommen. Mag wohl sein, daß sie auch die kleinen Mädchen nicht gut versorgt, wenn du fort bist.«

Daheimbleiben – über Sommer? Daran hatte Lorens noch nie gedacht. Er schüttelte nur den Kopf, aber nun kam auch noch Steffen Taken, der Landvogt, von der andern Seite.

»Erk Andresen hat recht, Lorens: fahr nicht mehr aus. Mir ist angst, ich schaff es nicht mehr lange, und dann muß wenigstens ein ehrlicher Mann an Bord sein. Peter ist ein altes Weib.«

»Ihr denkt gut von mir, Steffen Taken,« entgegnete Lorens zögernd.

Der Landvogt sah zu ihm auf und überblickte prüfend die hohe Gestalt mit dem schmalgeformten klugen Kopf, den hellen Augen unter der starken Stirn und dem festgeschlossenen Munde mit den schmalen Lippen. Dann antwortete er bekräftigend:

»Bei den Raben – das tue ich, Lorens!« –

Der Gedanke, daheim zu bleiben, lag Lorens aber noch so fern, daß er sich nicht schnell dazu entschließen konnte, doch gingen ihm die Worte der beiden Männer Tag und Nacht im Kopf herum. Es wurde wirklich so schlimm mit Inge, wie ihr Vater gefürchtet hatte. Sie sprach kein Wort, das sie irgend vermeiden konnte, und schleppte sich nur so durch den Tag, so daß Lorens die Angst ankam: wenn ich ausreise, legt sie sich hin und stirbt dem Jungen nach. Die kleinen Mädchen, die drall und lustig wie immer waren und nichts davon merkten, daß der Bruder fehlte, fingen an, sich vor der Mutter zu fürchten. Wenn sie ihr aber scheu aus dem Wege gingen, weinte Inge.

Eines Nachts lag Lorens allein, denn Inge war zu den kleinen Mädchen ins Bett gekrochen und Lorens mochte es ihr nicht wehren. Er konnte nicht schlafen; seine Gedanken ließen ihm keine Ruhe, und endlich schob er die Türen zurück und stieg in die Stube hinunter. Hell lag der Mondschein außen auf den grünen Fensterchen und drang als dämmernde Helligkeit auch in die Stube ein. Dabei sah Lorens, daß der Raum voll war von Schatten, die er kannte. Da war sein Vater, der sich ihm so lange nicht gezeigt hatte; da war eine alte Frau, von der er gleich wußte, daß es Greth Skrabbel sein müßte, denn sie hatte den kleinen Peter an der Hand, wie nur eine Großmutter tun kann. Das müßte Inge sehen, dann würde sie wieder froh werden, dachte Lorens, doch da wandelten sich die Schatten. Er sah Haulk Erken und sah Jens Grethen mit seinem freundlichen Lächeln und sah – ganz undeutlich nur – auch Gerson Cruppius, aber auch der hatte nichts Ungutes.

Was wollt ihr alle von mir? dachte Lorens; wollt Ihr, daß ich daheim bleibe?

Ja, das wollten sie; da blieb kein Zweifel. Er fühlte es deutlich, aber gleichzeitig fühlte er, daß sie noch mehr von ihm wollten. Da kam ihm zum erstenmal der Gedanke, als sollte er nicht nur für diesen Sommer seine Grönlandfahrten aufgeben, sondern als sollte er sich nun ganz und gar für die See bedanken und für alle Zeit auf Sylt bleiben. Betroffen sah er zu Boden. Das hatte er nicht erwartet. Da durfte ihm niemand dreinreden, auch die Toten nicht. Oder wußten sie besser als er selbst, was gut und recht für ihn war?

Langsam hob er wieder den Blick. Da war eine Wolke vor den Mond gezogen, und er sah nichts mehr. Ihm schien aber, daß sie alle noch bei ihm wären und ihn mit leichten Händen anrührten.

Soll ich nun ganz und für immer daheim bleiben? Ist es das, was ihr von mir wollt? fragte er sich selbst, und sein Herz antwortete ihm:

Ja, das ist es! –

So kam es, daß Lorens in diesem Sommer die Genossen allein ausfahren ließ. Er gab seinem Bruder Manne einen Brief an David Worms mit, in dem er dem Reeder für diese Fahrt absagte und ihm zusicherte, daß er im Herbst Bescheid schicken würde, ob er ganz auf Sylt bleiben müßte. Als aber Manne ihn anging, er sollte ihn David Worms als Nachfolger empfehlen, schüttelte Lorens den Kopf:

»Du hast nicht die Kenntnisse dazu.«

»Die hattest du auch nicht im Anfang.«

»Doch, Googe hatte mich gelehrt.«

»Jee, du warst ja auch sein Einziger,« spottete Manne bitter. »Aber weshalb gabst du uns nicht weiter, was du von ihm gelernt hattest? Dann könnten wir andern wohl auch als Kommandeur fahren.«

Lorens schwieg verstutzt.

»Wenn du willst –« meinte er nach einer Weile; »ich tue es gern. Aber für diesen Sommer ist es nun zu spät.«

»Dann im Winter für den nächsten Sommer,« sagte Manne zäh. »Bei den Raben – ich habe es satt, für jedermann Hansquast zu spielen, nur weil ich die Wissenschaft nicht habe. –«

Lorens merkte bald, wie gut es war, daß er sich zum Daheimbleiben entschlossen hatte. Es gab Tage, an denen Inge still und stetig bei der Arbeit war, aber es gab auch andere, an denen sie nach einer durchweinten Nacht völlig unbesinnlich war; wo sie vergaß, den Milcheimer zu bergen, so daß das Kalb aussoff, was sie der Kuh abgenommen hatte; oder gar vergaß, den Kindern die Bettüren zu öffnen, ehe sie selbst aufs Feld ging, so daß die kleinen Mädchen den halben Tag in dem engen dunklen Raum eingesperrt waren und wie unklug schrien und tobten. Wenn Inge hinterher merkte, was sie angerichtet hatte, weinte sie wieder über die eigene Unbesinnlichkeit und wurde immer elender. So fing Lorens heimlich an, ihr aufzupassen und hinter ihr drein zu räumen, was sie etwa vergessen hatte. Ohne daß sie es selbst merkte, verließ sie sich bald darauf, und allmählich wurde es dadurch besser mit ihr.

Es kam der Frühling und die Sonne stieg. Die Erde strömte einen warmen Duft aus, und über Watt und Weiden balzten die Vögel, daß Lorens wunderlich vom Zuschauen wurde. Er fing wieder an zu lachen, was er fast verlernt hatte, und pfiff wohl gar, was niemand sonst auf der Insel tat. Als er so eines Abends in die Küche kam, noch heiß und rot von der ungewohnten Feldarbeit, die kleine Merret auf dem Arm, die sein Liebling war und immer mit dem Finger in seinen Mund zu bohren suchte, wenn er ihr eins pfiff – da sah Inge von ihrer Arbeit auf, und zum erstenmal ging auch über ihr Gesicht wieder der Schatten eines Lächelns.

»Greth Skrabbel –« sagte sie, und er verstand wohl, was sie meinte, denn von der Großmutter mußte er das Pfeifen und den Singsang geerbt haben, so gut wie das helle Lachen, das weder Vater noch Mutter vor ihm gehabt hatten und auch keiner seiner Brüder kannte.

Lorens setzte das Kind auf die Erde und trat zu seiner Frau.

»Inge,« sagte er leise und umschlang sie heiß; »Inge, wenn du wieder lachen könntest – ich habe Hunger danach, Inge.«

Ihr schossen die Tränen in die Augen. Sie hob die Hand und strich mütterlich über den Kopf, der fest an ihrem Halse lag.

»Habe ich dich hungern lassen, mein armer Junge? Ich wußte es nicht mehr, aber nun soll auch alles wieder besser werden – bald – bald – habe nur noch ein wenig Geduld mit mir.«

Von nun an wurde es täglich heller um sie. Es war, als hätte sein Anruf sie geweckt und als setzte sie nun ihren Willen dahinter, wieder fröhlich zu werden. Die langen Tage und hellen Nächte, die Lorens seit Kinderzeiten nicht mehr auf der Insel erlebt hatte; das lebendige Leben von Mensch und Vieh; und die sommerliche Wärme, die er kaum noch kannte, machten sein Blut so rasch und so heiß, daß Lachen und Singsang im Hause nicht mehr verstummten. Wenn die kleinen Mädchen auch nicht singen konnten, so lachten sie desto mehr mit dem Vater. Immer öfter aber stimmte Inge leise ein wenig ein, und als die schönen Tage um Pfingsten kamen, wo die Felder bestellt und der erste Grasschnitt noch nicht angesagt war, da lag sie Lorens wieder im Arm, als hätte der Pastor sie gestern zusammengegeben – war wieder weich und warm, lachend und selig wie eine ganz jung-junge Frau. –

Kurz ehe die Heuernte begann, kam der alte Erk Andresen aus Tinnum zu seinem Schwiegersohn und bat ihn, ob er wohl mit ihm nach Hoyer fahren möchte; er wollte Fohlen kaufen, um sie aufzuziehen, denn er hielt nichts von denen, die auf Sylt zur Welt kamen. Lorens war die Abwechselung recht; auf die Dauer behagte ihm die feste Erde denn doch nicht. So reisten die beiden Männer aus, kauften drüben drei Fohlen – denn Lorens wollte Inge auch mit einem überraschen – und gingen am fünften Tage mit ihnen wieder an Bord des Fährschiffes. Als die Flut an zu steigen fing, wollten sie gerade loswerfen, da kam ein Mensch über den Deich gelaufen, der ihnen mit allen Zeichen von Angst winkte, vom Deich heruntersprang und ins Watt hinauswatete. Das Wasser ging ihm bis an die Brust – an den Hals – da warf ihm der Schiffer ein Tau zu und zog ihn an Bord.

Der Mann rang nach Atem, keuchte und stieß ein paar Worte im plattesten Dänisch hervor. Dann wies er ihnen seinen Rücken, der von blutigen Striemen zerfetzt war.

»Ein entflohener Leibeigener,« meinte der Schiffer und ließ den Anker hiewen, so schnell es nur anging; »verfluchte Bande!«

Als der Mann merkte, daß die Sylter ihn nicht zurückstießen, sondern mitnehmen wollten, fiel er vor ihnen auf die Knie und streckte die Hände gegen sie aus, als wären sie Engel vom Himmel; die Tränen stürzten ihm nur so hervor, während er Dankesworte zu stammeln versuchte. In dem Augenblick aber, als der Anker hochkam, tauchte in einiger Entfernung auf dem Deich eine Gruppe von Reitern auf; da wußten alle, was es galt. Lorens sprang hinzu und half dem Schiffer, die Segel zu setzen. Es wehte ein lustiger Nordwest und war viel Wasser, so konnten sie hoffen, glatt übers Hoyerwatt hinauszukommen. Der Flüchtling selbst aber saß, seitdem er die Reiter entdeckt hatte, völlig teilnahmslos und stierte mit verglasten Augen zum Deich hinüber.

Jetzt deckte die Reiterschar die Mühle von Emmerleff, nun den Kirchturm, doch nun fuhr der Wind knatternd in die Segel und das schwerfällige Fährschiff gewann Leben.

»Kriech unter Deck; wenn sie dich sehen, werden sie schießen,« sagte Lorens zu dem Dänen, aber der Mann verstand ihn nicht oder war vor Angst völlig verdummt. Da packte ihn Lorens, schleppte ihn zur Luke und stieß ihn in den Raum hinunter. Dann trat er mit Erk Andresen neben den Schiffer, der selbst am Ruder stand, und schaute gleichmütig den Reitern entgegen. Schon sprengte der erste vom Deich herunter über das grüne Vorland zum Wattrand und wollte sein Pferd ins Wasser hinaus zwingen. Aber das stemmte die Vorderfüße auf und stand wie ein störriger Bock.

»Halt!« schrie der Reiter zum Schiff hinüber; »halt!«

Lorens spuckte vor ihm ins Wasser.

»Als ich noch mit dem glücklichen Matthis fuhr, hatten wir einmal einen an Bord,« sagte er und dachte an Gottfried Köhler; »der fütterte von der roten Tonne bis zum Land hinaus die Fische, so gütig war er. Aber ehe es ihm ankam, daß er den Kopf über Bord stecken mußte, schrie er auch immer: Halt, halt! In des Allmächtigen Namen bitte ich Euch: haltet an!«

Die andern Männer lachten, aber dann duckten sie sich, denn der nächste Reiter, der nun den Deich heruntergeflogen kam, als rührte seines Pferdes Huf kaum den Boden, hob die Hand, und pfeifend fuhr eine Kugel über das Schiff fort.

»Halt in des Königs Namen!« rief er in deutscher Sprache; »das Vieh ist mein.«

»Wir haben unsere Fohlen ehrlich bei Teide Todsen am Ruttebüller Koog gekauft,« antwortete Lorens lachend, aber er nahm sich nicht die Mühe, es laut zu rufen, denn eben gebot der Schiffer: »Ree!« und da der Junge halbtot vor Angst sich hinter den Fohlen geborgen hatte, griff Lorens zu und half selbst den Baum umlegen.

Während sie nun hart unterm Winde sich schnell vom Lande entfernten, hielten die Reiter drüben einen Rat. Sie ritten den Deich hinauf – hinunter – spähten nach allen Seiten und wiesen mit lebhaften Gebärden immer wieder auf das Fährschiff hin. Dann betrachteten sie die Schiffe, die hier und da im Watt an ihren Ankern rissen, deuteten endlich auf eins, das einen unklug hohen Mast hatte, und stoben davon.

Der Schiffer machte ein finsteres Gesicht.

»Wenn sie die Jacht vom Amtmann bekommen, steht die Sache faul.«

»Seit wann hat Herr von Pincier eine Jacht?«

»Pincier? Oha, der ist gar nicht mehr Amtmann.«

»Nicht mehr Amtmann? Seit wann?«

»Seit voriger Woche; hat Teide Todsen Euch nicht davon erzählt?«

»Nein, wie ging das denn zu?«

»Jee –« der Schiffer steckte sich einen Priem in die Backe, stellte den Jungen ans Ruder und ging mit den Männern vor den Mast; »ihr wißt doch: der Minister Görtz kauft und verkauft alles, was ihm in die Hände kommt –«

»Wie ein Trödeljude,« stimmte Lorens zu. »Was meint Ihr, Vater, ob wir ihm nicht doch einmal Eure ledernen Buxen anbieten?«

Erk Andresen knurrte. Die ledernen Hosen hatte er einmal von einem Strandgang heimgebracht; die hielten ihn seit zehn Jahren wohl schon warm und trocken.

»Ja – und nun verkauft er auch Amtmannsbelehnungen,« fuhr der Schiffer gemächlich fort, »und hat Tondern an einen Claas Stövike verkauft.«

»Wie kann das angehen?«

»Weiß nicht, ist mir auch justament egal,« sagte der Schiffer. »Aber diesem Stövike gehört das Beest da mit dem langen Mast, und dazu ein Junge, der segelt wie der fliegende Holländer selbst. Der läuft Euch durch die Osterley, über die Draght und Mittelplate und fängt Euch ab, ehe Ihr nach Keitum kommt.«

»Und dann –?«

»– holt er uns im Namen des Königs den Mann wieder von Bord.«

»Was geht uns seines Königs Namen an?«

Der Schiffer griente.

»Nichts – aber die Sorte Leute ist mit blauen Bohnen nicht sparsam, und damit verstehen sie besser umzugehen als du und ich.«

Lorens schwieg.

»Bist du sicher, daß er leibeigen ist?« fragte Erk Andresen nach einer Weile.

»Ich habe schon mehr von der Sorte an Bord gehabt,« antwortete der Schiffer. »Wißt ihr, sie sind nicht mehr als ein Stück Vieh, das ist schon wahr; ich möchte so einen auch nicht gegen meine beste Kuh oder ein gutes Fohlen tauschen.«

»Weshalb hilfst du ihnen denn?«

»Jee – Mensch ist doch Mensch, nicht wahr? Ob der nun auch mal ausgeschlafen hat?«

Der Schiffer riß die Luke auf und rief in den Raum hinunter, aber da regte sich nichts. So stieg er selbst in das Loch und kam nach einer Weile wieder hoch.

»Hee, Lorens, kannst mir mal helfen! Viel Leben ist da nicht mehr drin, und wenn er uns tot geht, verklagt uns sein Herr auf Mannbuße.«

Sie zogen den Bewußtlosen ans Tageslicht, rieben ihm den Rücken mit Branntwein, flößten ihm auch ein, so viel er schlucken konnte, und als er wieder zu sich kam, gaben sie ihm ein paar getrocknete Fische. An denen sog er mit großer Gier. Dann fingen sie an, ihn auszufragen, soweit sie sich mit ihm verständigen konnten. Dabei kam eine Geschichte zutage, wie sie unter den leibeigenen Jüten nicht gerade selten war, die aber den freien Syltern doch das Blut zu Kopfe jagte.

Der junge Mensch, Bitte Sören mit Namen, gehörte dem Freiherrn Christian Ditlef Rantzau auf Löwenholm im Amte Randers. Unter dem Vater dieses Christian Ditlef war es ihnen so gut gegangen, wie Bitte Sören treuherzig versicherte, aber der junge Herr hatte zu schöne Pferde im Stall. Die wollte er nicht an die Feldbestellung wenden. So spannte er die Leibeigenen vor Pflug und Wagen.

»Wenn uns der Vogt nur mehr Ruhe gelassen hätte, würden wir es wohl geschafft haben,« meinte Bitte Sören. »Aber ehe die Feldbestellung fertig war, hatte er schon fünf von uns totgeschlagen, und meine Mutter, die Köchin im Schloß ist, hörte von einem, der bei Tisch aufwartet, daß der Vogt zum gnädigen Herrn gesagt hatte: bei der Ernte würden wohl noch mehr draufgehen. Aber das wollte der Herr doch lieber, als seine Pferde dran zu geben – oh, die hatten es gut – den ganzen Tag zu fressen, so viel sie nur mochten, und brauchten nie zu arbeiten.«

»Und also rißt Ihr aus?« half der Schiffer ein. Er hatte inzwischen immer ein Auge im Segel und das andere drüben bei der Jacht gehabt, und in dem Augenblick, als nun ein Segel an dem unklug hohen Mast hochging, nahm er dem Jungen wieder das Ruder aus der Hand und drückte es schärfer Backbord. »Wollen mal 'n bütschen auf Listland fahren,« meinte er, und wer ihn kannte, wußte, daß sein Kompaß Mißweisung hatte, wenn das Hamburger Platt bei ihm durchschlug.

Aber der Flüchtling merkte nicht, was vorging; er sog an seinem Dorsch.

»Ja,« antwortete er auf des Schiffers Frage; »wir dachten: wenn wir doch sterben müssen – meine Mutter kam zu mir und gab mir Geld; sieh.«

Er holte zwei holländische Deut aus dem Hosensack und liebäugelte damit. Offenbar hatte er vordem noch nie ein Stück Geld in der Hand gehabt und betrachtete die blankgeputzten Kupferstücke mehr als Amulette denn als Gebrauchsgegenstände. Dabei war er gewiß zwanzig und einige Jahre alt.

»Und wenn sie deine Mutter fangen?« warf Lorens ein.

Betroffen sah der junge Mensch auf; dieser Gedanke war ihm entschieden noch nicht gekommen. Doch dann ging ein schlaues Lächeln über sein breites Gesicht.

»Sie machen sie nicht tot, sie kocht so schön, sagen sie.«

Lorens schwieg. Ihm war ein Fall zu Ohren gekommen, wo sich der Besitzer an die Frau eines geflohenen Leibeigenen gehalten hatte. Er hatte die Frau auch nicht tot gemacht, aber er hatte sie mit daumesdicken Weiden peitschen lassen, solange die Stöcke nur halten wollten. Danach hatte er sie so zwischen zwei Pfähle schließen lassen, daß die Frau wohl liegen, aber nicht sich aufrichten konnte. Sie war nicht gleich tot gewesen – oh nein, aber am dritten Tage war sie dann doch gestorben. Immerhin – vielleicht hatte sie nicht so gut kochen können wie Bitte Lorens Mutter – und weshalb sollte man ihm das Herz schwer machen? Kein Mensch konnte der Mutter mehr helfen, wenn ein Verdacht auf sie fiele und sie in den Händen ihres rechtmäßigen Herrn war.

Ree! Wieder wurde ein Schlag nach Nordosten geführt. Wenn der Schiffer ihn bis ins Römöer Tief hinauf nahm, konnte er mit dem nächsten in den Königshafen einlaufen. Die Frage war nur, ob die schmucke Jacht mit den mächtigen Flügeln ihn auf diesem Wege noch überholen konnte, denn die Jacht war dem Fährschiff gefolgt, statt Kurs durch die Osterley auf Keitum zu nehmen.

Lorens der Hahn und Erk Andresen sahen wohl die Gefahr, fanden es aber nicht nötig, Bitte Sören damit bekannt zu machen. Der hatte sich inzwischen mit den Fohlen angefreundet, hatte ihnen vorsichtig die Fesseln gelockert, ohne ihnen doch Raum zum Beinbrechen zu geben, fütterte sie mit dem Stück Brot, das Lorens ihm geschenkt hatte, und ließ sie vorsichtig ein wenig saufen. Man konnte leicht sehen, daß er sich auf den Umgang mit Pferden verstand.

»Er kann Euch die Fohlen nach Tinnum treiben,« meinte Lorens, aber Erk Andresen seufzte:

»Wollte, wir wären erst daheim. Ich habe keine Lust mehr zu dem Ding, Lorens, dazu bin ich zu alt.«

»Schade, Vater, ich finde, es macht mächtig Spaß. Donnerschlag, hat die Deern flinke Füße!«

Welche Deern? Der Jüte sah sich um, aber auf die Jacht achtete er nicht, und verstand nicht, weshalb Lorens ihn wieder ins dunkle Loch steckte. Er fragte aber nicht; er war an Gehorsam ohne Worte gewöhnt.

Beim nächsten Schlage kreuzte die Jacht dicht hinter dem plumpen Fährschiff auf, aber sie konnte so noch nicht gegen den scharfen Nordwest an die Einfahrt gewinnen, mußte noch einmal nach Nordost hinauf. Dem Fährschiffer aber kam seine bessere Kenntnis der Rinne zugute. Er rutschte dicht unter Ellenbogensodde in den Hafen, hielt so gut er konnte nördlich von Uthörn ab und kam in flachem Bogen scharf in die äußerste Westecke des Hafens. Um diese Jahreszeit war er meist recht besucht. Doch heute lagen hier nur zwei Austernfänger und ein Fanöer Küstenfahrer vor Anker. Der Fährschiffer konnte sogleich an den Dukdalben festmachen, die Segel polterten herunter und Lorens und Bitte Sören liefen, was sie laufen konnten, und jeder dabei ein weißes Tuch schwenkend, nach der Hütte des Lister Eierkönigs, die im Winkel zwischen Listland und dem Ellenbogen eingeklemmt in den Dünen lag.

Als die Jacht eine gute halbe Stunde später neben dem Fährschiff festmachte, grasten die drei Fohlen friedlich drüben auf dem Weideland, und der Schiffsjunge saß an Deck und schnitzelte an einem Stück Holz herum; sonst war niemand zu sehen. Neugierig schaute er auf die feinen Herren in ihren reichen Gewändern; er sah sie an, wie man wohl ein schönes Stück Vieh betrachtet.

»Verfluchter Bengel! Wo ist der Schiffer?«

»Meint Ihr mich?« fragte der Junge erstaunt.

Ein böser Fluch in dänischer Sprache war die einzige Antwort des ersten Fragers. Dann mischte sich ein zweiter ein, der ein ruhiges, stolzes Gesicht zeigte.

»Wo ist der Schiffer?«

»Da,« antwortete der Junge und deutete auf die Luke; »er schläft.«

»So wecke ihn.«

»Das darf ich nicht.«

Der Stolze winkte einem jungen Menschen in wunderlich bunter Kleidung. Der sprang gewandt auf das Fährschiff hinüber, versetzte dem Jungen ein paar tüchtige Ohrfeigen und riß die Luke auf. Der Junge erhob ein mörderisches Geschrei, und im nächsten Augenblick kletterte der Schiffer mit zornrotem Gesicht an Deck, packte den jungen Menschen und stieß ihn rücklings vom Schiff hinunter, wo er im Schlamm zappelte wie ein Maikäfer, den man auf den Rücken legt. Die Herren brachen in zornige Rufe aus, aber der mit dem stolzen ruhigen Gesicht hob die Hand, und nicht einer griff zur Pistole, was Erk Andresen, der nun auch an Deck kam, sicher erwartet hatte. Er ahnte nicht, daß der entflohene Leibeigene ein besonders wertvolles Besitzstück war, und daß seinem Herrn alles daran lag, ihn auf gütlichem Wege wieder zu bekommen.

»Ihr seid unhöflich,« bemerkte der, dem alle andern gehorchten. »Wir wünschen nur Euch zu fragen, ob Ihr nicht noch andere Fahrgäste hattet?«

»Dazu brauchst du mich nicht aus dem Schlaf zu wecken,« brummte der Schiffer grob und verschwand mit halbem Leib wieder in der Luke.

»Bleib oder ich schieße!«

Der Schiffer kam wieder hoch.

»Was hast du davon? Ein toter Mann gibt auch keine Antwort. Aber wenn du schießt, bist du dein Leben auch los. Ihr sitzt in der Mausefalle, ihr Herren!«

Unwillkürlich sahen die Herren sich um und bemerkten nun zwei Boote, die von Ellenbogens Odde nach Uthörn übersetzten.

»Sie schließen das Fahrwasser. So bleibt nur noch die schmale Rinne zwischen Uthörn und Melhörn. Da findet von Melhörn aus wohl mehr als eine Kugel den Weg zu euch, und wenn ihr den Hafenfrieden brecht, schießen sie euch das Schiff leck.«

Die Herren tobten, nur der Stolze wahrte seine Ruhe.

»Wir wollen nichts als unser Recht. Der Mann, der auf deinem Schiff übersetzte, ist mein Eigentum.«

»Kann jeder sagen! Wohl, ich hatte noch zwei an Bord, einen langen und einen kurzen. Der Kurze sah aus wie ein Leibeigener, das ist wahr; aber der Lange bezahlte mit für ihn, so fragte ich nicht.«

»Wo sind die beiden geblieben?«

»Sie gingen zum Eierkönig.«

Die Laune der Herren schlug bei diesem Wort plötzlich um.

»Eierkönig – Eierkönig!« und sie brüllten vor Lachen.

»Darf man fragen, ob dies hier das Reich Seiner Majestät des Eierkönigs ist?«

»Wohl, das ist es.«

»Und dort drüben sein Schloß?«

»Wohl, wohl.«

»Nun, dann wollen wir Seiner Majestät unsere Aufwartung machen, Messieurs.«

Der Schiffer zog ein bedenkliches Gesicht, als er sah, daß die Herren zu ihren Waffen griffen.

»Laßt die Waffen hier und geht nicht allesamt; ihr würdet nicht lebend hinkommen.«

»Das wollen wir doch sehen!«

Nun mischte sich Erk Andresen ein.

»Der Schiffer hat recht, ihr Herren. Der Eierkönig läßt niemand in sein Gebiet, der nicht von einem Befreundeten geführt wird. Ehe ihr die Hütte erreicht, müßt ihr durch die Dünen. Die Leute, die dahinter liegen, könnt ihr nicht sehen, wohl aber sehen sie euch, und sie treffen gut. Es sind Lille Peers eigene Söhne.«

»Werden sie mich durchlassen, wenn ich allein komme?« fragte der Herr des Flüchtlings.

Erk Andresen sah fragend auf den Schiffer; der hob gleichmütig die Achseln.

»Kann sein, kann auch nicht sein,« antwortete er mürrisch; dann verschwand er endgültig in seiner Luke.

Die Herren redeten heftig durcheinander, doch da sie halb dänisch, halb französisch sprachen, verstand Erk Andresen nicht eben viel davon. Nur soviel begriff er, daß sie die Verfolgung des Flüchtlings nur wie ein Jagdvergnügen ansahen, und daß es den andern allen ziemlich gleichgültig war, ob sie ihn lebend oder tot fingen. Nur der Besitzer selbst, der also wohl der Herr von Rantzau war, schien Wert darauf zu legen, Bitte Sören noch lebend und möglichst unbeschädigt wieder in seine Hände zu bekommen. Er hörte auch nicht viel auf das Gerede der andern, sondern ließ sich ein Brett vom Schiffsrand nach dem Lande hinüber legen und machte sich wirklich auf den Weg.

Er war nicht gewöhnt zu Fuß zu gehen, der Freiherr Christian Ditlef von Rantzau, doch schritt er, solange er noch grünes Weideland unter den Füßen hatte, recht stattlich aus. Dann aber wurde der Weg weich; der Dünensand war darüber gelaufen, und in den Dünen selbst wurde das Schreiten zum mühsamen Waten. Dazu kam, daß es gegen Abend ging, und die Sonne ihm blendend in die Augen stach. Die Seevögel, die hier herum in Mengen brüteten, gingen schreiend auf und stießen von allen Seiten auf ihn hernieder, hackten nach den bunten Federn auf seinem Hut, und bald war er übel bekleckert. Ein paar riesige Hunde von unangenehmem Aussehen folgten ihm auf den Hacken, aber ihm wurde nicht behaglicher zumute, als ein scharfer Pfiff aus unbekannten Regionen die Tiere plötzlich unsichtbar machte. Er war ein tapferer Herr, der junge Herr von Rantzau auf Löwenholm, aber er war nicht gewöhnt, allein zu sein, und das Schweigen der hellen Sandberge beklemmte ihn.

Endlich sah er die Hütte vor sich. Dicker Rauch quoll unter dem niedrigen Strohdach hervor, und als er in die Türöffnung trat, die nach Osten ging, sah er in der schwarzen Höhle nichts als das flackernde Herdfeuer. Aber ein drohendes Knurren warnte ihn, weiter zu gehen, und als er sich umblickte, standen die beiden bösartigen Hunde wieder neben ihm.

»Hallo!« rief er.

Da krabbelte es in der Hütte, und heraus trat ein nur eben mittelgroßer Mann, aber schwer und breit wie ein unbehauener Eichenklotz.

»Was willst du hier? Eier stehlen? Scher dich dahin, woher du gekommen bist!«

Dem Edelmann schwollen die Adern an den Schläfen, aber er bezwang sich.

»Ich suche einen entflohenen Leibeigenen.«

»Das ist ein ander Ding, und soviel an mir liegt, will ich dir dabei wohl helfen.«

Der Eierkönig pfiff auf zwei Fingern, und aus einer Dünenschlucht kam ein jüngerer Mann, lang mit schlenkerigen Gliedern, aber gut im Zeug und mit einem Gesicht, das an stolzer Ruhe dem des Edelmannes nichts nachgab.

»Jee – Vater?« fragte er, ohne dem Herrn von Rantzau mehr als einen halben Blick zu gönnen.

»Hast du nicht vorher einen Mann laufen sehen?«

»Wohl, wohl.«

»So zeige dem Herrn, wo er lief, aber sieh zu, daß er keine Eier stiehlt.«

Die Hand des Herrn von Rantzau fuhr an die Pistole, die er gegen Erk Andresens Rat im Gürtel trug, aber der andere kam ihm zuvor und preßte mit einem einzigen Griff seiner harten Faust des Edelmanns Arm so, daß der schlaff herunter fiel; dann zog er ihm die Pistole seinerseits aus dem Gürtel.

»So, mein Junge, das Ding kannst du dir auf dem Rückweg wieder abholen. Ja – wir sind nicht deine Leibeigenen. Nun geh nur den Pfad dort hinauf, Lorens wird schon auf dich aufpassen.«

Herrn von Rantzaus Augen glühten, aber er wandte sich schweigend und schlug den bezeichneten Pfad ein. Lorens der Hahn folgte ihm. Im stillen bewunderte er die Selbstbeherrschung des Edelmannes; ihm mußte wirklich besonders viel an Bitte Sören liegen.

Der Pfad kroch an einer Düne hoch, lief auf einem langgestreckten Kamm weiter und stieg dann einen mächtigen weißen Sandberg hinauf. Als Herr von Rantzau den gewaltigen Rücken nicht ohne Mühe im weichen Sande watend erstiegen hatte, blieb er unwillkürlich stehen. Vor ihm – unter ihm dehnten sich weite Täler, dahinter neue Dünenketten. Die Sonne stand nun schon tief; lang fielen die Schatten der hohen Dünen in die dunklen Täler hinein, die widerhallten von dem Geschrei unzähliger Seevögel. Wieder stießen die Vögel voller Wut auf die einzeln stehenden Menschen – kreischend, flügelschlagend, so daß der Freiherr kaum ruhig Umschau halten konnte.

Lorens war inzwischen weiter gestiegen und stand nun – schwarz gegen den hellen Abendhimmel – hoch auf einer Kuppe, die sich noch über dem großen Sandberg erhob und dann als vorspringende Nase schroff gegen das Tal abfiel. Herr von Rantzau trat neben ihn, da wies Lorens nach Süden hinüber, wo sich eine Dünenkette hinter die andere schob – ein unübersehbares Gewirr.

»Dort lief ein Mann; nun mag er wohl schon halbwegs Sylt sein.«

Bitte Lorens Herr schirmte die Augen vor der tiefstehenden Sonne und sah scharf nach der bezeichneten Richtung. Da wimmelte und krimmelte es von weidenden Schafen – weißen – braunen, und noch ganz schwarzen Lämmern. Was der Herr auch immer für eine menschliche Gestalt hielt, erwies sich im nächsten Augenblick doch wieder als ein Schaf; dazu verwirrten ihn die flügelschlagenden Möwen. Wie sollte er hier Bitte Sören finden? Und Eile tat not – zwischen Listland und Sylt ging die Grenze quer über die Insel. Erreichte der Flüchtling sie zuerst, so war er damit dem Machtbereich des dänischen Königs und des Freiherrn von Rantzau zugleich entronnen.

»Hole deine Hunde, daß ich sie auf die Fährte setze; habt ihr auch Pferde?«

»Sie würden dir nicht gehorchen, weder Hund noch Pferd,« antwortete Lorens und tat, als merkte er nicht, daß dem Herrn wieder die Zornesröte ins Gesicht schlug, weil er ihm das »Du« zurückgab.

»So komm mit, es soll dein Schade nicht sein.«

»Das erlaubt der Vater nicht,« sagte Lorens scheinheilig; bei sich aber griente er: »mir würden die Biester doch ebensowenig gehorchen!«

»Dann werde ich meinen eigenen Hund von Bord holen.«

»Lille Peers Hunde werden ihn zerreißen.«

Da brach des Edelmannes so mühsam gewahrte Selbstbeherrschung; seine lang gedämpfte Wut kochte über. Er machte eine heftige Bewegung – vielleicht wollte er in Ermangelung anderer Waffen seine freiherrlichen Fäuste an Lorens erproben – aber der Boden, auf dem er stand, war nicht für heißblütige Edelleute geschaffen. Das dünne Wurzelgeflecht des Dünengrases, das den losen Sand zusammenhielt, zerriß. Der Vorsprung, auf dem die beiden Männer standen, kam ins Rutschen. Doch während Lorens, wie er es in Kindertagen hundertmal getan hatte, sich sofort zu Boden warf, sich mit beiden Händen in den noch feststehenden Halmbüscheln festkrallte und vorsichtig daran wieder hochzog, rollte der Fremde, der stehenden Fußes wieder Halt gewinnen wollte und sich dabei mit seinen Sporen in dem zähen Geflecht verwickelte, mit dem ganzen Ballen zusammen kopfüber kopfunter den steilen Dünenhang hinab.

Lächelnd schaute Lorens ihm nach, bis er unten angekommen war. Dann schlenderte er selbst vergnüglich pfeifend zur Hütte Lille Peers, des Eierkönigs von Listland, zurück, und ließ sich von dessen Frau zwei gute Dutzend Seeschwalbeneier zur Abendgrütze in die Pfanne schlagen. Dazu trank er warme Schafmilch und klaubte einen geräucherten Fisch aus seiner Haut. Von allem aber gab er auch ein gut Teil an Bitte Sören ab, der unter der nächsten Düne in einer behaglichen kleinen Höhle lag. Der Herr von Rantzau aber krebste mit einem verstauchten Fuß suchend und fluchend jenseit des Dünenkammes im Gelände umher und kam erst im Morgengrauen hinkend und etwas herabgestimmt an den Hafen zurück. Die Gefährten lachten schallend, als sie ihn so wiedersahen: gelb vor ohnmächtigem Zorn, mit geknickter Hutfeder und von oben bis unten mit Möwendreck bekleckert. Sie wollten einen Rachezug in das Reich des Eierkönigs unternehmen, aber er erlaubte es nicht.

»Gegen Vögel und Sandberge hat man keine Waffen,« sagte er, als hätte er überhaupt keine Menschen dort drüben angetroffen. Dann gab er Befehl, die Segel zu setzen. –

Bald nach Mittag, als die Jacht nur noch wie ein weißes Wölkchen über dem Watt zu sehen war, kamen Lorens der Hahn und Lille Peer zum Fährschiff.

»Den billigen Knecht sind wir los, Vater,« sagte Lorens zu Erk Andresen; »Lille Peer will ihn behalten.«

»Dann haben wir wieder die Zahl voll,« sagte der Eierkönig, dem vor Jahren sein Jüngster von fremdem Schiffsvolk geraubt war; »die Fohlen will ich euch dafür wohl an Bord bringen; legt nur das Laufbrett aus.«

Das taten sie, und Lille Peer, von dessen Stärke die Sylter Wunderdinge zu erzählen wußten, kroch unter die Fohlen – eins nach dem andern – faßte ihre Vorder- und Hinterbeine in je eine Hand und trug die wild schlagenden Tiere so auf das Fährschiff hinüber, nicht anders, wie sonst ein Schäfer wohl neugeborene Lämmer trägt. –

Als Lorens am späten Abend in Süderende ankam, empfing ihn seine Frau mit blanken Augen. Sie freute sich über das kräftige Fohlen – sie freute sich noch mehr, daß sie ihren Mann wieder hatte.

»Ist doch schön, daß du nicht auf Grönland gefahren hast. Seemannsfrau ist immer halb Witwe.«

»Seemannsleben – Freimannsleben,« sagte der Mann und lachte, denn ihn kam schon wieder die Sehnsucht an; »einmal Kapitän – immer Kapitän! Da wird doch nur ein halber Landwirt daraus.«

Am Sonntag in aller Frühe kam Botschaft vom Landvogt: Lorens müßte unbedingt vontage in Keitum Kirchgang halten; es wäre ein Brief vom Herzog gekommen, der müßte noch in der Kirche besprochen werden. Aergerlich schüttelte Lorens den Kopf.

»Kann Steffen Taken nicht bis zum Petri-Paulthing warten, wenn es sich um Wichtiges handelt? Und wenn nicht – weshalb soll ich denn nach Keitum laufen?«

Aber er tat doch, wie der alte Mann wünschte, und Inge trieb die Neugier, daß sie mit ihm nach Keitum gehen mußte.

In der Kirche gab es wie stets im Sommer nur wenig Männer, aber desto mehr Frauen. Es schien schon etwas durchgesickert zu sein von des Herzogs Brief, denn die Weiber kicherten und tuschelten unter der Predigt, besonders die jungen Mädchen, denen das verhaltene Lachen die Wangen rötete. Nach Schluß des Gottesdienstes zog denn auch der Pastor, Herr Paul Hansen, ein Blatt hervor, das unter seiner Bibel auf dem Altar lag, und sofort wurde es so kirchenstill, wie er nur irgend wünschen konnte.

»Liebe Gemeinde«, hob er an; »Steffen Taken hat mich gebeten, diesen Brief hier zu verlesen, weil keine Zeit mehr ist, bis zum Thingtage zu warten. Wie ihr wißt, ist unser Herzog – Gott schenke ihm alle Gnade – noch ein Kind, und sein Oheim, Herzog Christian August, führt für ihn die Regentschaft. Nun ist Herzog Christian August vontage auf Föhr, um sich dort mit Wasserfahren und Fischen zu erlustieren. Wer ihm da etwas in die Ohren geblasen hat, können wir nicht für sicher wissen, aber ihn ist ein Gelüste angekommen, auch uns Sylter kennenzulernen. So hat der Landvogt heute um Mitternacht diesen Brief von des Herzogs Schreiber erhalten.«

Er hob das Blatt, an dem ein großmächtiges Siegel hing, an seine blöden Augen und las:

 

»Es wolle der Herr Landvoigt sofohrt 12 Sildringer Mägdgen in ihrer ordentlichen Kleydung herüber senden Morgen gantz früh nebst zwei Kerls mit Plückfidelß, welche hierselbst vor Ihr. Hochfürstl. Durchl. Tantzen sollen. Ihr müßt es ja nicht versäumen, damit keine Ungnade daraus im Verbleiben entstehe. Knud Früdden soll sie her bringen, zu welchem Ende Er hingesand wird sie abzuhohlen. Alles einem jeden bei 10 Rthlr. Hochfürstl. Brüche.

Wiek d. 25 Junius. Auff Special Befehl.«

 

Als der Pastor geendet, entstand zunächst eine tote Stille, denn jeder wartete, daß der andere erst reden sollte. Nur ein paar ganz junge unter den Sildringer Mägdgen kicherten leise, und auch Inge lächelte ein wenig. Dann trat Steffen Taken aus den Reihen der Männer vor.

»Heute ganz in der Frühe, wie der Herr Herzog wünschte, konnte Knud Früdden nicht zurückfahren, weil wir Ostenwind haben. Aber in einer Stunde, meint er, wird genug Wasser sein, daß er über Stenak Grund kommen kann. Dann will er fahren. Sein Kutter liegt in der Kreuzwehle, und wer nun also Lust hat, soll sich gleich dahin aufmachen.«

Aber nichts rührte sich auf der Weiberseite, obgleich wohl einer oder der andern die Füße zucken mochten. Aber es war nicht Sitte, daß die jungen Mädchen für sich sprachen, nicht einmal auf dem Weiberthing am Petri-Paultage, ob sie gleich nach altem Gesetz schon vom vierzehnten Lebensjahr an mündig waren. Endlich trat eine Frau vor, die drei lustige Töchter hinter sich hatte, und sprach bedachtsam: »Mich dünket, daß dieser Tanz wohl nicht anders gemeint ist, denn der der Herodias Tochter. So finde ich es nicht recht, wenn wir unsere christlichen Töchter dorthin schicken.«

Herr Paul nickte beifällig mit dem Kopf, aber der Landvogt knurrte:

»Jee, Inken, das sagst du wohl, aber magst du zehn Reichstaler Brüche zahlen?«

Zehn Taler Brüche? Die Frauen steckten die Köpfe zusammen, aber nun mischte Lorens sich ein.

»Wer soll denn die Brüche zahlen? Die zwölf, die nicht kommen wollen. Aber wer sind die zwölf, wenn keine will? Der Herzog wird sie nicht fassen können.«

»Magst recht haben oder auch nicht,« gab Steffen Taken zurück. »Aber Knud Früdden meint, es wäre der Minister Görtz gewesen, der dem Herzog die Ohren voll geblasen hat. Jedenfalls ist Görtz auch auf Föhr, und er denkt immer noch an den Holländer, der damals auf Hörnum strandete. Görtz vergißt nichts, da könnt ihr sicher sein. Und ich bin ein alter Mann und lebe gern im Frieden mit aller Welt. Deshalb rede ich zum Guten. Seid untertan der Obrigkeit, die Gewalt über euch hat – steht nicht so in der Bibel, Herr Paul?«

Der Pastor neigte bestätigend das Haupt.

»Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott,« vollendete er.

Aber da wurde Lorens zornig.

»Sind wir Leibeigene, Pastor?« rief er, daß es durch die Kirche schallte; dann deutete er auf Bitte Sören, der mit Lille Peer zur Kirche gekommen war und vergnügt um sich schaute, obgleich er kein Wort verstand von dem, was um ihn vorging. »Seht, da steht einer, der einem harten Herrn mit Leib und Leben angehörte, aber das kann ich nicht recht finden, und wenn der Apostel Paulus zehnmal so predigte. Jesus sagte nur: gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist. Wohl, wir zahlen unsere Schatzung und Steuern, wie sich das gehört. Aber daß wir unsere Mädchen vor den hohen Herren herumspringen lassen wie die geputzten Affen auf dem Hamburger Dom, das kann kein einer von uns verlangen. Wir sind nicht leibeigen, das sage ich!«

Herr Paul Hansen stand vor dem Altar und starrte den erregten Mann mit offenem Munde an; er stammte selbst von Nordfriesen ab und hatte eine langsame Zunge, wie die Sylter meist auch. Aber der Landvogt schmunzelte:

»Greth Skabbel!« sagte er und klopfte Lorens wohlwollend auf die Schulter; »man hätte ihr Maulwerk doch noch extra totschlagen sollen – nun ist es in dich gefahren. Jee, du hast ja recht, mein Junge, hast ja so sehr recht, aber im Verkehr mit dem Herrn Minister gilt das gute Recht keinen mageren Hering; das weiß ich nun besser als du. Er vergißt nichts und wird uns den Pelz gehörig kämmen, wenn wir ihm nicht zu Willen sind. Wißt ihr, daß jetzt niemand mehr Salz sieden darf außer dem Staat? Der Staat aber ist der Minister Görtz ganz allein.«

Lorens zuckte die Achseln. Noch in seiner Kinderzeit war in Rantum aus Seetorf Salz gewonnen. Seit immer mehr Männer und junge Bursche auf Grönland fuhren, hatte das Salzsieden aufgehört, denn die Weiber hatten über Sommer auch ohne das genug zu tun, und im Winter stand meist zu viel Wasser im Watt, um den Seetorf stechen zu können.

»Wir haben schon eine gute Weile von Galmsbüll her bezogen, was wir an Salz brauchen.«

»Den Galmsbüllern ist das Salzsieden so gut verboten wie uns.«

»So lassen wir es aus Lüneburg kommen.«

»Das kostet wohl rein gar nichts, mein Junge,« spottete der Landvogt. »Tut wie ihr wollt, aber sagt hinterher nicht, daß ich euch nicht gewarnt hätte. Überlegt es euch in Ruhe, und wer dann mitfahren will, sei an der Kreuzwehle, ehe die Sonne steil im Süden steht; ich werde auch dort sein.«

Damit ging Steffen Taken aus der Kirche und schlug langsam den Weg nach Archsum ein. Es folgte ihm aber niemand. Die jungen Mädchen durften nicht den Mund auftun, und die Mütter waren knurrig.

»Inken hat recht, wir sind doch nicht wie die Herodias,« sprachen sie untereinander. »Ah mei – was hat der Lorens gepriestert! So kann es Herr Paul noch längst nicht. Aber das mit dem Galmsbüller Salz ist schlimm, wenn es wahr ist.«

Lorens und Inge gingen allein über die Heide auf Westerland zu. Beide schwiegen, aber Inge spürte wohl, wie es in ihm kochte, und als sie die Westerländer Kirche schon hinter sich hatten und den Süderweg hinunter wanderten, brach er aus:

»Hätte ich nicht dagegen geredet, würden Landvogt und Pastor die alten Weiber weiß Gott noch gefügig geknetet haben!«

Inge antwortete nicht, und er sah sie mißtrauisch von der Seite an.

»Haben sie dich etwa auch schon dumm gemacht?«

»Vielleicht bin ich von Natur dumm,« sagte Inge ruhig; »aber ich meine, es wäre besser gewesen, wenn du dem Ding seinen Lauf gelassen hättest.«

Lorens blieb mitten auf dem Wege stehen.

»Inge –« sagte er fassungslos; »Inge – hättest du vor den Herren auf Föhr tanzen mögen?«

»Ich nicht – nein, ich bin doch deine Frau, Lorens. Aber die Mädchen hätten wohl ihren Spaß dabei gehabt.«

»Die hohen Herren auch!« gab er bitter zurück. »Hättest du denn Gondel hinschicken mögen?«

»Wenn sie zehn Jahre älter wäre – warum denn nicht?«

»Inge, du weißt nicht, wie diese Herren sind!«

»Die Mädchen konnten sich an Knud Früdden halten. Wenn er sie holen kommt, muß er ihnen auch Schutz sein, er oder seine Frau. Die Föhringer Mädchen werden doch auch nicht gefressen, und – Lorens, wenn ein Mädchen sich nicht selbst schützt, dann kann ihr kein Gott helfen.«

Lorens war wie vor den Kopf geschlagen – so sprach Inge? Seine Inge?

»Du fürchtest wohl auch den Salzminister?« fragte er höhnisch, aber sie antwortete so ruhig, als nähme sie seine Frage ernst:

»Das tue ich; weshalb sollen wir ihn reizen? Wir Frauen sind doch machtlos gegen die Obrigkeit.«

»Wir Männer auch?«

»Die andern sind draußen, und allein kannst du nicht gegenan.« –

Es dauerte nicht lange, so kam eine Anfrage, wieviel friesisches und wieviel Lüneburger Salz in jedem Haushalt im Jahr gebraucht würden. Es war aber jedem Hausbesitzer bei 50 Reichstalern Brüche anbefohlen, die Frage genau zu beantworten. Inge machte ihre Berechnungen und bat Lorens, den Bescheid zur Landvogtei zu bringen.

»Brauchst kein langes Gesicht zu ziehen,« meinte Steffen Taken gutmütig, als Lorens bei ihm erschien; »dies gilt nicht uns besonders. Diese Anfrage geht durch die ganzen Gottorffschen Länder, und niemand darf mehr Salz aufkaufen und weiter verkaufen, als der Herr Minister selbst. Es heißt, daß er viermal so teuer verkauft, als er einkauft – er wird nicht ärmer davon werden, dünkt mich.«

»Dagegen muß man doch etwas tun können!« rief Lorens erbittert.

»Jee – brauchst ja kein Salz zu fressen! Aber wenn du die Anfrage nicht beantworten und die 50 Taler nicht zahlen willst, dann wird dir wohl ein Exekutionssoldat ins Haus gelegt werden, den du dann füttern magst, so lange es dir behagt.«

Lorens zog ab, und drei Wochen später kam das Salz, das er auf diese Art bestellt hatte. Es kostete, wie Steffen Taken vorausgesagt, genau viermal so viel wie das Salz, das die Sylter bisher direkt bezogen hatten, aber der Herr Minister gewann, wie man später erfuhr, durch dieses Salzmonopol sechzigtausend Taler aus den Gottorffschen Ländern, und das durfte seine Untertanen wohl billig trösten.

Die Sylter aber kamen nicht dazu, sich über des Herrn Ministers Wohlbefinden gebührend zu freuen. Gerade als das Gras gemäht auf den Weiden lag, erschien der neue Amtmann Stövike auf Sylt, um die Insel einmal höchsteigennäsig zu beschnüffeln. Er war ein hübscher, stattlicher Mensch, noch jung, und prächtig gekleidet, aber die Sylter Weiber mochten ihn doch nicht leiden.

»Er hat den bösen Blick,« sagten sie untereinander; »gebt acht, der bringt uns nichts Gutes!«

Und richtig – kaum hatte er die Insel verlassen und war heil wieder drüben auf dem Festlande angekommen, so brach ein arges Unwetter los. Bei fliegendem Sturm aus Südwesten stieg das Wasser so schnell von Süden herauf, daß kaum noch das Vieh geborgen werden konnte. Das Heu aber – das fast trockene duftende Heu – wurde vom salzen Wasser gefaßt. Von Wadens und Wester Inge, Dauwung und Langlaag, von den Holmen, Heinmarsch, Randeshörn, Nord Inge und Südermark wurde alles fortgeschwemmt und in Frud Jensens Fenne, süden Bahnert und bei Westen und Osten Klöweshoog aufgesackt, vieles aber auch ganz fortgetrieben. Das gab nun einen großen Jammer, denn jedermann war auf die Heuernte angewiesen, um sein Vieh durch den Winter zu bringen, und wenn der Landvogt sich auf seine alten Tage nicht noch einmal als Mann mit der eisernen Faust gezeigt hätte, würde unter den Händen der Weiber auch noch das angetriebene Heu in nichts zerronnen sein wie weiland der Hörnumer Strandraub.

Steffen Taken ließ das Heu Tag und Nacht von seinen eigenen Söhnen und Lorens Jens Grethen bewachen, bis es trocken war; dann machte er sich mit ihnen an die Teilung. Das war ein saures Stück Arbeit, und mit dem Ergebnis war doch niemand zufrieden. Alle zogen den Landvogt durch die Zähne; des Zankens und Streitens war kein Ende; jeder fühlte sich benachteiligt – und ganz mit Recht, denn das Heu hatte durch das salze Wasser viel von seinem Wert verloren, auch war ein gut Teil eben ganz fortgeschwemmt, in den Verlust aber mußten sich alle teilen, so gut wie in das, was gerettet war. Lorens mußte eine Handvoll Silberlinge aus der alten Truhe holen, um auf dem Festlande Heu für den Wintervorrat aufzukaufen. Das machte ihm den Kopf wirr – wie sollte das weitergehen, wenn man nur vom Haufen fortnahm und nichts wieder hinzu tat?

Im Herbst kam neuer Aerger. Der Amtmann Stövike forderte die 104 Fuder Torf für das Amtshaus in Tondern von den Syltern, die sie vorzeiten, als sie noch reichlich Seetorf stachen, wohl hatten liefern können. Vor zwölf Jahren waren ihnen diese Lieferungen ein für allemal erlassen worden, weil sie nachweisen konnten, daß sie auf der Insel für sich selbst schon nicht genügend Feuerung hätten, daß sie Dünger trocknen und Heidekraut reißen müßten, nur um das eigene Herdfeuer lebendig zu halten. Nun forderte der neue Amtmann die alten Lieferungen, und wenn die Sylter sich vor schweren Brüchen schützen wollten, mußten sie in Tondern selbst die 104 Fuder von dem Torf aufkaufen, den die Bauern aus dem Kongsmoor dorthin brachten.

»Der Minister hat dem Amtmann anheimgestellt, sich unser freundschaftlich anzunehmen,« sagte der Landvogt zu Lorens Hahn. »Wie ich höre, hat der Amtmann ihn nun zu seiner Hochzeit nach Mögeltondern eingeladen. Dort werden sie gemeinsam in Liebe unser denken.«

»Was können sie uns tun? –« warf Lorens geringschätzig hin, obgleich ihm allmählich doch etwas beklommen zumute wurde.

»Jee nun, da findet sich wohl dies oder das. So steht die Antwort auf mein alljährliches Gesuch, die Steuerreduktion betreffend, noch aus. Ah mei, Lorens, weißt du nichts davon? Sieh, die Sache liegt so: vor hundert Jahren steuerte Sylt noch für 100 Pflüge. Nach dem Landverlust von 1634 wurde die Zahl der Pflüge auf 52 heruntergesetzt. 1668 beantragte mein Vater, daß die steuerbare Landfläche wegen der Verwüstungen durch Flugsand und Meer abermals verringert werden sollte. Es wurde auch eine Ermäßigung um ein Viertel bewilligt, aber nicht ein für allemal, sondern seitdem muß in jedem Jahr von neuem nachgewiesen werden, daß die Verhältnisse sich nicht gebessert haben.«

»Gebessert? Wie sollen Wasser und Sand zurückgehen?« fragte Lorens verbiestert.

»Ja, wie –? Das fragte ich meinen Vater auch, als er mir die Geschäfte übergab, und ich machte ebensogut wie du jetzt ein Gesicht wie ein umflutetes Schaf. Aber das Fragen nützt nichts, sondern ich muß alljährlich das gleiche Gesuch um die Reduktion machen, wie mein Vater es zwanzig Jahre hindurch auch getan hat. In jedem Jahr noch habe ich es innerhalb des Monats September mit glatter Bewilligung zurückerhalten – in diesem Jahr nicht. Merk meine Worte: Das bedeutet uns nichts Gutes.«

Mit grimmigem Gesicht sog Lorens an seiner Pfeife, und der Landvogt beobachtete ihn mit stillem Vergnügen. Es tat doch gut, alle Sorgen auf jüngere Schultern abzuwälzen. Sein Sohn Peter eignete sich leider gar nicht dazu, desto besser Lorens der Hahn – besonders seit er bei der Tanzgeschichte so frech gekräht hatte. –

Und wieder behielt der altbefahrene Kommandeur von Sylt recht: drei Tage nach diesem Gespräch mit Lorens Jens Grethen erhielt er folgendes Schreiben:

 

»Im Nahmen der durchlauchtigsten gnädigsten Herrschaft wirdt dem Landt Voigt und Eingesessenen der Insul Sylt wegen ihres Gesuches, daß die remission deß 4ten Theils ihrer praestandorum ferner gnädigst continuiret werden möge, Commissions wegen der Bescheidt ertheilet, daß, da diße Insul vor Alters auf 100 Pflüge gestanden und nachmahls auf 52 Pflüge reduciret ist, sei als nur hohe Gnade anzunehmen, daß demnach ihnen der 4te Theil von solchen Pflügen abzuführenden praestandorum so viel Jahre nach einander erlassen worden, da dasselbige Anfangs nur biß anderweitige Verfügung und zu ihrer Erhohlung ihnen testiret worden, nachdem aber nunmehro der Herrschaft kundt geworden, durch waß unzulässige Mittel sie solche remission erschlichen haben, als wirdt es in hoc casu d. 27. Jan. und den 7. Marty c. a. abgeschlossenen Hochfürstl. Decrets allerdings gelassen und Supplicanten mit dißem ihren Gesuch nach reiflicher Untersuchung aller Umstände ein vor allemahl abgewießen.

Tondern d. 6. October.
Goerz. Stövike.«

 

Das gab einen Sturm, in dem manch kleines Schiff zu kentern drohte. Da war mehr als eine Haushaltung auf Sylt, die nur mit Not die ermäßigten Steuern hatte aufbringen können, dem vollen Steuersatze von 50 Talern auf den Pflug aber tatsächlich nicht gewachsen war. Auch Lorens mußte tiefer in die Truhe greifen, als er je gewohnt gewesen war. Das Fohlen, das er Inge vom Festland mitgebracht hatte, taugte allerdings noch nicht zur Arbeit, aber es fraß wie ein Alter und zählte auch für ein ausgewachsenes Pferd. Seit er auf die Art zwei Pferde im Stall hatte, galt Lorens als Vollmann und mußte ein ganzes Loos steuern, das war ein Viertel Pflug. Als er seine dreizehn blanken Taler auf den Tisch der Landvogtei zählen mußte, hatte er ein Gefühl, als hätte er mit dem Fohlenkauf eine Dummheit gemacht. Aber er mochte mit Inge nicht darüber sprechen, denn es war nun wieder etwas bei ihr unterwegs, und sie fühlte sich dabei schlechter als bei den andern Kindern und überließ Lorens gern die ganze Steuerwirtschaft und was da als Rechenkram noch drum und dran baumelte.

Des weiteren bedrückte es Lorens, als trüge er selbst die Schuld daran, daß nun wahrhaftig Exekutionssoldaten auf die Insel kamen, weil viele die hohen Steuern nicht zahlen wollten oder nicht zahlen konnten. Die Soldaten waren rohe Kerls, die viel Unfug anrichteten, ohne daß die Hausbesitzer sich dagegen wehren konnten. Im Wirtshaus neben dem Keitumer Pastorat lag ein ganz schlimmer, der Musketier Hans Carstens Boye, beständig der Säuferei ergeben, der die Meinung vertrat, ein guter Landsknecht könne auch wohl den Wind totschießen. Und da um diese Zeit ein starker Südostensturm die Winterkälte vom Festland brachte, tat er mit Pistolen und Musketen starke und ganz verwegene Schüsse. Herr Paul machte eine de- und wehmütige Eingabe an den Herrn Amtmann Stövike: »weilen ich befahrenden Unglücks halber mein Hauß Tag und Nachtes bewachen lassen und folglich viele Kosten aufwenden muß, damit ich hinkünfftig in meinem Hauß Ruhe und Sicherheit haben möge« – aber er bekam nur den Bescheid zurück, daß er sein Geld besser dazu anwenden könnte, die rückständigen Steuern seiner Pfarrkinder zu bezahlen.

Schlimm hatte der Winter begonnen und wurde noch immer schlimmer. Niemand hatte Geld. Von Hamburg waren in diesem Sommer 32 Schiffe nach Grönland gefahren und hatten insgesamt nicht mehr als acht Fische heimgebracht. Die sich aufs Robbenschlagen verlegt hatten, waren noch am besten davongekommen, aber die Sylter kamen allermeist mit leeren Taschen heim. Was in den letzten Jahren an Strandgut auf der Insel angetrieben, war längst verschlemmt und verdemmt, und die Sylter hatten nichts davon zurückbehalten als die Kenntnis, daß andere Leute es reichlicher hatten als sie selbst. Es kam die Zeit, da die Frauen seufzten: wenn wir nur mehr Fische hätten, könnten wir uns wohl auch ohne Brot behelfen, wie unsere Eltern taten. Aber seit die Männer auf Grönland fuhren und von dort nur bares Geld mitbrachten, hatte niemand mehr einen Vorrat von getrockneten Dorschen am Haus wie zu der Zeit, als die Männer noch auf Helgoland fuhren. Die Seemannsfamilien fingen an zu hungern, und die Morsumer an zu spotten: In Keitum ist die schwere Not, Morsum hat doch Speck und Brot! Preise die See, aber bleibe an Land.

Zu Lorens Hahn kamen seine Brüder:

»Seemannsleben – Freimannsleben. Wer es einmal schmeckte, kann nicht mehr an Land bleiben als ein Bauer. Aber heutzutage muß man pumpen oder versaufen. Lehre uns, was du selbst weißt, daß wir das Maul über Wasser halten können.«

Dann saßen sie bei ihm in der kalten Stube, wenn die warme Küche voll schnatternder Weiber war, und er gab ihnen weiter, was Jens Grethen ihn gelehrt hatte, und manches von dem, was ihm durch eigene Beobachtung und Erfahrung klar geworden war. Da sie aber alle für Zahlen und Formeln begabt waren, wenn sie auch sonst harte Köpfe hatten, so machte ihnen die theoretische Navigation einen mächtigen Spaß. Als sich herumsprach, daß Lorens allerhand lehren konnte, fanden sich immer mehr junge Leute bei ihm ein, so daß er gegen das Frühjahr hin auch noch den ganzen Pesel vollsitzen hatte und Inge ihm eine tägliche Schande machte über den Schmutz, den die Junggäste ihr ins Haus trugen. Nur die beiden Brüder, die mit Aaners und Niggels Petersen Hahn in der Hütte unterm Dünensand hausten, spotteten über »Lorens Schulmeister« und spielten ihm allen Schabernack, so daß Aaners und Niggels endlich ihrer überdrüssig wurden. Sie kamen zu Lorens und wollten bei ihm hausen.

»Ich bin ein altbefahrener Ehemann,« sagte Lorens und lachte; »wenn ihr es noch nicht wißt, so weiß ich es doch: im Hause ist die Frau Kapitän! Also fragt Inge.«

»Lorens ist häßlich,« rief Inge; »als ob ich nicht immer alles täte, was er will! Mir soll es recht sein, wenn ihr zu uns kommt, aber ihr müßt mir dafür versprechen, binnen drei Jahren jeder das Mädchen zu freien, das schon für euch in meinem Kopf steckt. Zeitlebens will ich nicht drei Männer im Hause haben – einer ist mehr als genug!«

»Wenn das eine Mädchen Moiken Claasen heißt, bin ich nicht dagegen,« griente Aaners, aber Niggels meinte: gar so streng dürfte Inge mit ihm nicht sein, er wüßte noch keine.

»Ich weiß dir zehn für eine,« sagte Inge. –

Schlimm hatte der Winter begonnen und wurde immer noch schlimmer. Die da tot geglaubt waren, kamen wieder, und die seit langem schon in der Erinnerung der Menschen begraben waren, standen wieder auf. Auf Listland wurde bei einem Schiffbruch ein Jüngling angetrieben, in dem Lille Peer und seine Frau ihren vor vierzehn Jahren geraubten jüngsten Sohn wiederfanden. Nach Tinnum aber kehrte Bo, des Landvogt Steffen Taken ältester Sohn, heim, der vor zwölf Jahren im Mittelmeer von Marokkanern gefangen und als Sklave verschleppt worden war. Er war all die Jahre hindurch von einer Hand in die andere gegangen – diese Hände aber waren schwarz von der Wüstensonne und rot von Blut gewesen, und Bo Steffens war nicht eben sauberer daraus hervorgegangen. Er war der einzige von Steffens Söhnen, der die Lebenskraft und Lebenslust seiner Väter geerbt hatte. Der Vater hatte ihn seinerzeit zum Studium bestimmt, weil er ihm die Landvogtei hinterlassen wollte, aber Bo hatte es gemacht wie sein Freund und Altersgenosse Gerson Cruppius, der seinem Vater die Bibel vor die Füße geworfen mit den Worten:

»Ich trete die Bücher unter die Bank
und werde ein Seemann mein Leben lang!«

Sie waren beide gegen den Willen der Väter zur See gegangen und hatten beide auf ihrer Lebensreise wenig Gutes gefischt. Nun tauchte Bo plötzlich wieder auf Sylt auf, roh, wild und bösartig. Er forderte, daß der Vater seine alte Absicht wieder aufnehmen und ihn zum Landvogt machen sollte.

»Peter als der Jüngste bekommt unser Haus und Eigentumsland, wie es sein Recht ist. Dein Amt aber erbe ich, wie du als Ältester es von deinem Vater erbtest.«

Diese Geschichte ging durch alle Spinnstuben, aber um Weihnachten hieß es, daß Bo Steffens die Insel wieder verlassen hätte, und wenige Tage später schickte der Landvogt und ließ Lorens bitten, ihn zu besuchen, er würde ihn gern sprechen, könnte aber nicht so weit gehen.

Lorens fand den Alten im Bett, so gelb, so kümmerlich, so verfallen, daß er seine Sorge nicht zurückhalten konnte.

»Ihr seht nicht gut aus, Landvogt.«

»Mit mir geht es zu Ende,« antwortete Steffen Taken gleichgültig. »Das Leben schmeckt mir nicht mehr als die Pfeife, die ich nun auch in die Ecke geworfen habe. Setze dich zu mir, Lorens, und höre zu. Die Zeiten sind schlimm und werden immer schlimmer. Die Dänen und die Schweden können nicht Frieden halten, und der Gottorffer sitzt als Prellbock dazwischen. Der Gottorffer aber heißt heute Görtz, und mein Sohn Peter ist alledem in keiner Weise gewachsen.«

»Bo –?« warf Lorens zweifelnd ein, als der Alte schwieg und die Augen schloß, als hätte er genug gesagt.

Über das gelbe verfallene Gesicht lief eine schwache Röte.

»Bo hat die Hand gegen mich erhoben, um mich zu zwingen, ihm die Landvogtei zu geben. Welche Torheit! Er kann nicht lesen, nicht schreiben; er hat keine Kunde vom Gesetz und keine Achtung vor dem, was recht ist. So wollte er Landvogt werden – als ob man ein Amt verschenken könnte wie einen Knochen, den man dem Hunde hinwirft. Er rang mit mir, um mich zu zwingen. Ich wollte nicht um Hilfe rufen, so warf er mich zu Boden. Dabei riß etwas – da hinten im Rücken; nun liege ich und kann nicht mehr aufstehen. Und ein anderes riß hier –« er legte die Hand auf die Brust. »Glaube mir, Lorens, es tut nicht gut, die Faust des eigenen Sohnes zu spüren.«

»Ich habe keinen Sohn,« antwortete Lorens; er wußte nicht, was er sonst sagen sollte.

»So sage Gott Dank für deine Töchter,« gab Steffen Taken bitter zurück; »Kinder sind Kinder.«

Eine Weile lag der Alte mit geschlossenen Augen, dann entsann er sich wieder seines Besuchers.

»Jee – Lorens,« fing er wieder an, und aller Kummer entlud sich noch einmal in einem mächtigen Seufzer; »was bleibt uns übrig als die Tatsachen? Und die stehen nun einmal so, daß Peter Taken, euer künftiger Herr Landvogt, ein altes Weib ist – oder nein doch: manches Weib ist ihm über. Er ist nicht mehr fähig, die Sylter zu regieren und andererseits gegen Görtz zu vertreten, als – nun, als ich es in meinem jetzigen Zustande bin; er versteht so viel davon wie die alte Sau vom Garnelenfang. Wenn du nicht die Hand ans Ruder legst, werdet ihr bald auf Strand sitzen.«

»Ihr meint: wenn ein andrer ihm das Kinn stützt, kann er wohl schwimmen,« antwortete Lorens spöttisch.

»Wohl – so meine ich es,« gab der Landvogt ruhig zurück, aber es war eine tote Ruhe über ihm, die Lorens den Spott vertrieb. »So weit ich sehen kann, bist du der einzige Sylter Mann, der zum Landvogt taugt. Ich kann dich nicht dazu machen, aber wenn es erst heißt, wie in Schiffsnot: wer weiß, muß sagen – dann denke an mich und scheue dich nicht, die Verantwortung zu übernehmen. Es ist schon mancher Steuermann in Wahrheit Kapitän gewesen.«

»Ihr wollt, daß ich als Steuermann mit Peter fahre – meint Ihr, daß er sich das gefallen lassen wird?«

Der Vater des künftigen Landvogts lachte hart auf.

»Er wird dir noch Dank sagen dafür! Er kann die See nicht halten, wenn schlecht Wetter ist. Er wagt nichts. Das kannst du nicht verstehen, du Hahn!«

»Nein,« sagte Lorens ehrlich; »ich meine auch: in der Bibel steht, daß wir den andern nur zurechtweisen sollen, wenn er gegen uns selbst sündigt. Sonst läßt man besser jeden sein eigenes Amt versorgen.«

»In der Bibel steht aber auch: wer nicht für mich ist, der ist wider mich,« antwortete der alte Mann ernst. »Darin sündigen die besten im Lande am ersten, daß sie sich zurückhalten, wo sie recht auftreten sollten. Ihr laßt das Gesindel hochkommen, statt es unterm Daumen zu halten, nur weil ihr euch selbst nicht das Recht dazu nehmt.«

Er schwieg erschöpft und fügte nach längerem Schweigen matt hinzu:

»Ich weiß nicht mehr, was ich im einzelnen dir sagen wollte. Aber meine Meinung kennst du nun. Denke daran, wenn Peter Landvogt sein wird.«

»Ihr werdet wieder hochkommen, Steffen Taken,« sprach Lorens in ernstlicher Sorge, aber der alte Mann schüttelte nur schweigend den Kopf und wies auf seine Pfeife, die zerbrochen im Winkel lag. So viel ist mir das ganze Leben noch wert, nicht mehr, sprach diese Bewegung, und Lorens verstand sie wohl. –

Zehn Tage später starb der Landvogt Steffen Taken im 74. Jahre seines Lebens. Er wurde im alten Erbbegräbnis der Takens auf dem Keitumer Kirchhof beigesetzt und sein Sohn Peter Taken II. als sein Nachfolger im Amt von der Gottorffschen Regierung bestätigt.

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