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Der Grönlandfahrer

Es war ein diesiger Tag, still, sanft und schwül bei bedecktem Himmel, als die Rantumer auf Cornelis Matzens Kutter, den sie in Husum angetroffen hatten, übers Watt auf Rantum zu hielten. Lorens hockte am hohen Bordrand und sah über die graue Wasserfläche. Es ging ihm sonderbar. Jahrelang hatte er nicht heimgedacht, sondern hatte ganz nur dem Tage gelebt. Run rührte ihn alles, was er sah, an, als wollte es fragen: kennst du mich noch? Da war die langgestreckte Reihe der Föhrer Dörfer hinterm Deich; im Norden tauchten Morsum und Archsum auf, dahinter die Keitumer Kirche; dann grüßte Burg Tinnum überm Weideland, und plötzlich begann des Jungen Herz zu schlagen, daß die rote Jacke über seiner Brust zitterte. Hastig drehte er sich nach den Brüdern um.

»Lebt Googe noch?« Seit Jahren hatte er nicht mehr' an den Großvater gedacht.

Die Brüder antworteten nicht; sie lagen zusammengeknäult in tiefem Schlaf. Lorens sah auf sie hin. Denen möchte ich auch einmal krähen, dachte er mit verkniffenen Augen, aber er weckte sie nicht. Schließlich war doch der Sommer darüber hingegangen, seit sie den alten Mann zuletzt gesehen hatten. Der Vater saß hinterm Mast, an dem das Segel leise hin und her schlappte. Es war so still, kaum, daß überhaupt noch Bewegung in der Luft war. Und plötzlich überkam Lorens ein Angstgefühl, eine Beklemmung, daß ihm war, als drückte Hel selbst ihm die Kehle zu – wenn er zu spät heimkehrte? Wenn der Großvater jetzt, gerade jetzt im Sterben läge und ihn riefe?

»Googe, Googe,« antwortete er in Angst, und große Schweißtropfen perlten ihm auf der Stirn, Er wischte sie mit dem Ärmel fort und sah sich verstört um. Kam denn kein Wind? Das Wasser fing schon an zu fallen.

Wenige Minuten später saßen sie fest. Cornelis Matzen warf den Anker aus, holte die Segel ein und kroch unter Deck; die andern schliefen weiter. Lorens blieb, wo er war. Der hohe Bordrand senkte sich, und in dem Maße, wie das Wasser fiel und der Kutter sich allmählich auf die andere Seite legte, stieg die Backbordwand hoch. Das abziehende Wasser gluckte dicht unter ihm. Das klang wie des glücklichen Matthis lockendes: »Komm mit – komm mit –«, wie er es in Gedanken so oft gehört hatte. Denn während das Wasser fiel, stieg seine Angst, und endlich rüttelte er Aaners wach.

»Ich geh heim.«

Aaners rieb sich die Augen und blickte nach Westen hinüber, wo zwischen dem grauen Himmel und den mattschimmernden Dünen ein dunstig roter Streifen stand.

»Zu spät,« antwortete er, drehte sich um und schlief weiter.

Einen Augenblick stand Lorens unentschlossen. Aaners hatte recht: in einer knappen Stunde würden Himmel und Wasser eine dunkle Masse sein und die Insel dort drüben zwischen sich erdrücken. Dann würde er sich verlaufen, wenn er noch nicht drüben war. Er kannte die Wattenströme nicht mehr so genau, es mochte sich manches geändert haben in den letzten Jahren. Wenn Aaners mitkäme – aber der schlief schon wieder. Lorens nahm den Bootshaken und maß die Tiefe der Strömung; wenn er überhaupt gehen wollte, mußte er es sofort tun. So zog er die hohen Seestiefel aus, die langen Strümpfe und band die Hosen hoch überm Knie. Als er die Beine über den Bordrand warf, gab es dem ganzen Kutter einen Ruck. Der Segelbaum knuffte den Vater in die Seite. Der wachte auf und sah sich um.

»Wo willst du hin?« fragte er mürrisch.

Lorens wies mit einer Kopfbewegung nach Rantum hinüber.

»Kannst nicht stillsitzen?« sagte Peter Jens Grethen unzufrieden. Dann krabbelte er nach der Luke, riß die schwere Falltür hoch und warf seinerseits die Beine dort hinein, um den Rest der Hohlebbe unter Deck zu verschlafen. Als er aber sah, daß Lorens sein Vorhaben nicht aufgab, sondern schon im Wasser stand und nach den Stiefeln und seinem Bündel griff, hob er die Hand.

»Wer im Watt ertrinkt, findet keine Ruhe und muß treiben,« sagte er dumpf. Dann verschwand er in dem dunklen Loch und zog die Falltür über sich. Lorens stand betroffen. Dies war die längste Rede, die er je von seinem Vater gehört hatte. War es Wahrheit, daß man im Watt keine Ruhe finden konnte nach dem Tode? Ein Schauer rann über ihn hin, aber wieder raunte und flüsterte das Wasser: »Komm mit, komm mit – bist unklug!« Da warf er sich Bündel und Stiefel auf den Rücken und wanderte los.

Der Marsch war leichter, als er gedacht hatte. Ihm schien, als gäbe es kein schöneres Wandern als dies über den weichen Schlick, der sich so lebendig unter seine Sohlen schmiegte; dies Wandern durch das leise ziehende, herbstliche laue Wasser. Jeder Butt, der unter seinem Fuß davonschnellte, jeder klagende Ruf des Brachvogels rührte ihn an wie ein Gruß aus Kindertagen, und dabei fiel ihm die Mutter ein, der er so oft Fische und Eier in die Küche gebracht hatte. Freilich, die Mütter würde wohl noch leben, aber der Großvater –? Und wieder packte ihn die Angst, und er watete schneller durch das rinnende Wasser, so daß er noch vor fallender Dunkelheit bei Rantum Inge aufs feste Weideland kam. Er ließ sich nicht die Zeit, Strümpfe und Stiefel wieder anzuziehen, denn er sah von weitem im Hause seiner Mutter einen rötlichen Schein, als wäre das Herdfeuer dort noch lebendig. Das Herz schlug ihm im Halse, als er näher kam. Er strich außen am Hause entlang und versuchte, durch die grünen Scheiben in die Küche zu sehen. Er sah aber nur das Flackern der Flammen, alles andere lag in tiefem Dunkel. Da ging er ums Haus herum und drückte die Haustür auf. Unvermutet fühlte sein Fuß dabei an etwas Weiches, Wolliges, etwas, das sich bewegte und doch schwer war wie ein schlafendes Schaf. Er warf sein Bündel und die Stiefel hin und bückte sich danach. Seine Hände fühlten tastend ein wollenes Röckchen und ein nacktes Beinchen; es war ein Kind, das hier schlief. Lorens nahm es auf und trug es ins Haus. Mit dem Fuß stieß er die Küchentür auf. Da saß der Großvater am flackernden Herdfeuer; die offene Bibel lag ihm auf den Knien. Fragend blinzelte er durch die Flammen.

»Lorens?« sagte er ruhig, als wäre der junge Bursche erst gestern von ihm gegangen. »Bist mit Cornelis Matzen gekommen? Das dachte ich schon, ich sah den Kutter.«

Verwirrt stand Lorens mit dem schlafenden Kind im Arm. Alle Angst fiel von ihm ab, und auch er sprach, als wären nicht Jahre vergangen, seit er daheim gewesen.

»Ich fand es vor der Tür,« sagte er, als des Großvaters Blick auf das Kind fiel; »gehört es uns?«

»Nein,« antwortete Jens Grethen. »Es ist Inge Erk Andresen aus Tinnum. Die Mutter starb im Sommer. Da ist niemand sonst im Haus. Nun ist sie hier bei Mai Taken, bis Erk Andresen heim kommt; aber sie läuft mir immer nach. Lege sie hierher, sie kann hier schlafen.«

Mühsam stand der Alte auf. Nun sah Lorens doch, daß er krumm und zittrig geworden war. Aus einem Verschlage holte er ein dickes Schaffell. Das warf er auf den Boden, und Lorens bettete das Kind darauf; dann legte er ihm die eigene Jacke über. Das Kind schlief ruhig weiter; seine blonden Haare standen ihm kraus um den Kopf; es schlief mit roten Backen, und sein Atem ging tief und ruhig. Der Großvater holte den Schinken herbei; Grütze und Milch standen bereit. Lorens aß und trank wie im Traum. Der Alte sah ihm behaglich zu.

»Bist ein Mann geworden,« sagte er endlich; »hast du den Schein bekommen?«

Lorens nickte.

»Nun kann ich auf Part fahren; Jan Ölk bot es mir schon an.«

Jens Grethen verzog den Mund.

»Bist wohl ein ganzer Helgolander geworden.«

Darauf wußte Lorens nicht zu antworten. Schweigend aß er weiter.

»Weißt du vom glücklichen Matthis von Föhr?«. fragte er nach einer Weile.

Der Großvater stocherte das Feuer, daß es hoch aufflammte. Dabei sah Lorens, daß die alten Augen ihn aufmerksam beobachteten. Er kannte den Blick; der zog jeden Gedanken aus ihm heraus.

»Soll ich auf Grönland fahren?« fragte er langsam. Nun spürte er plötzlich, daß die Frage ihm seit Jahren im Herzen gebrannt hatte. Und ehe der Großvater noch eine Antwort gab, hatte er sie schon selbst gefunden.

»Ja, ich will auf Grönland fahren,« sagte er laut, und Jens Grethen nickte.

»Tu's!« stieß er hervor; »wer nicht fährt, wenn Segelwind weht, muß warten, bis Segelwind wiederkommt – vielleicht muß er warten bis zum Nimmermehrtage.« –

So war, noch ehe Vater und Brüder heimkehrten, zwischen Großvater und Enkel beschlossen, was Lorens zum Sommer beginnen wollte, und den Winter über verlor er das Ziel nicht aus den Augen. Es. war nun so, daß der Alte den Winter über Schule hielt. Sie hockten nun alle um ihn herum, die Männer und Burschen des Dorfes, denn sie spürten auf See wohl, was es taugt, wenn einer mit Kompaß und Jakobsstab umgehen kann; wenn die Sonnenhöhe zum Schiffer spricht und die Sterne ihm den Weg weisen. Die Kunst des Rechnens aber, der Zahlen und Formeln, die lag ihnen allen in der Seele, wenn auch nicht jedem der Sinn dafür so gelöst war, wie dem jungen Lorens. Er half dem Großvater, den kleineren Buben das Lesen beizubringen, das Schreiben und Zahlenmalen. Mitten unter ihnen aber saß Inge Erk Andresen aus Tinnum und malte an jeden Buchstaben noch ein Schnörkelchen, hier eine Blume und da ein Engelchen; ohne das fand sie das Schreiben traurig. Lorens ließ sie gewähren, und wenn sie ihn, wie sie es von den Helgolandfahrern hörte, »du Hahn!« schalt, weil er den Kopf so hoch warf und mit so heller scharfer Stimme die andern regierte, dann prügelte er sie nicht wie die Buben, sondern drohte ihr nur mit geballter Faust. Heimlich aber lachte er über das kecke Ding, und sie tat es auch immer wieder. –

Vor Weihnachten noch segelte Lorens einmal nach Föhr hinüber, um mit Matthis Peters, dem glücklichen Grönlandfahrer, zu sprechen. Er fand sein Haus bald. Wie es auf Föhr Sitte war, daß auch ein Reicher nicht höher bauen durfte als ein Armer, so war auch das Haus des reichen Matthis nicht höher, als daß Lorens das Strohdach leicht mit der Hand anrühren konnte. Freilich aber riß er die Augen auf, als er dann eintrat. Schon das hohe, aus Walfischrippen gebaute Tor vor dem schmucken Vorgärtchen, in dem noch jetzt ein paar bunte Blumen blühten, war ihm aufgefallen. An der Haustür aber fand er einen blinkenden Messingdrücker und innen im Flur die Kopfsteine zu zierlichem Muster gefügt. Die Stubentüren waren bunt ausgemalt und durch die blankgeputzten grünen Glasscheiben, die über der Haustür eingefügt waren, fiel so viel Licht ins Haus, daß man noch jetzt am Nachmittage die Malerei erkennen konnte. Eine freundliche Frau trat Lorens entgegen, und als er ihr sein Begehr vermeldet hatte, nahm sie ihn mit in die warme Küche.

»Matthis wird bald kommen«, meinte sie und setzte ihm einen Topf heiße Milch vor, dazu ein großes Stück Brot, auf dem sie wahrhaftig noch einen Klump Butter glatt drückte; »es wird ihn freuen, daß du zu ihm kommst. Aber ihr habt auf Sylt doch genug Grönlandfahrer; weshalb fragst du die nicht?«

Lorens schüttelte nur den Kopf. Er wußte nichts zu antworten. Freilich, die Petersen aus Tinnum fuhren schon lange auf Grönland und Jens Schwennen von Keitum auch. Aber keiner von ihnen hatte es zum Kommandeur gebracht und keiner hieß »der Glückliche«. Das konnte er der Frau doch nicht sagen. Stumm folgte er ihr mit den Blicken, wie sie in ihrer weiten und reichen Tracht sich so würdig um ihn her bewegte. Nun die Dunkelheit einfiel, entzündete sie ein helles Oellämpchen, das über dem Tisch baumelte, und setzte sich selbst ans Spinnrad in die Ecke. Lorens dachte an seine Mutter, die nur Sonntags schmuck aussah, wenn sie im weißen Pelz mit dem roten Rock und roten Mieder zur Kirche ging. Dann trug sie die hohe Hüf und den schwarzen Mantel mit den weißen Schwänzen ringsum, und jedermann konnte sehen, daß sie eine stattliche Frau war. Aber drinnen im Haus, da trug sie den alten Pelz, der schon mehr schwarz als grau war von Herdrauch und Torfstaub und den rußigen Töpfen, an denen sie immer herumputzte, ohne sie doch je so blank zu kriegen wie den großen Kessel, der hier neben der Feuerstelle hing. Freilich sah man im Hause daheim nicht viel von dem Schmutz. Wenn der Regen nicht von außen die Fenster abwusch, konnte man sie von innen kaum als Löcher in der Wand finden. Sie von innen abzuwaschen, darauf wäre Mutter Gondel nie verfallen. So hell wie diese Küche am späten Abend war die ihre nicht einmal über Mittag. Lorens kaute an seinem Brot, aber so recht schmeckte es ihm nicht bei diesem Gedanken, und plötzlich sprang ein Vorsatz in dem fünfzehnjährigen Burschen auf, hell und fest: so will ich es auch einmal haben wie der glückliche Matthis – solch ein Haus will ich haben, eine Küche wie diese, und eine Frau darin, die am Herdfeuer sitzt und spinnt.

Als Matthis Peters heimkam, nahm er ihn in die Stube und zündete auch dort ein Öllämpchen an.

»Lorens Jens Grethen bist du, Lorens der Hahn – ja, ja;« er lachte behaglich vor sich hin. »Hättest damals mitkommen sollen, mein Junge, wir haben gute Jahre gehabt seitdem. Sieh, jetzt habe ich die Schiffslisten meist schon im Herbst voll; sie wollen alle mit mir fahren. Aber geh in Hamburg zu Andrees Pieters; da findest du Heuer. Wie steht es denn mit der Wissenschaft?« Er stellte ein paar Fragen an ihn und nickte zu des Jungen Antworten beifällig mit dem Kopf. »Mußt sehen, daß du noch mehr lernst, du Hahn. Glück ist nichts, Kenntnisse sind alles. Ich weiß, wie der Fisch läuft, und laufe ihm nach, das ist das ganze Geheimnis. Glück – bah –!« Er zuckte die Achseln.

Lorens brannte das Herz. Vergessen waren Haus, Küche und Frau – ein Mann wollte er werden, ein großer Grönlandkommandeur, ein glücklicher Lorens so gut wie ein glücklicher Matthis. Kenntnisse, sagte der –?

»Sieh,« fuhr Matthis fort. »Hier starb vor ein paar Jahren Richardus Petri, der Prediger war in St. Laurentii. Der lehrte mich und andere auch, was er nur irgend selbst wußte. Das war ein gut Teil, aber es war nicht mehr, als du auch schon weißt. Das andere, was Steuermannskunde und Grönlandfahrten betrifft, das habe ich mich selbst gelehrt, und das kannst du auch. Sperr Augen und Ohren auf. Merke dir, was andere wieder vergessen, so kommst du vorwärts. Glück –? Hoho, Kenntnisse sind Glück. Wenn du ein paar Jahre auf Grönland gefahren hast, dann komm wieder zu mir. Dann kann ich dich lehren, was ich fand. Was würde es dir jetzt nützen, wenn ich dir von Westeisjahren und Südeisjahren spräche? vom eiländischen Fisch und dem Weißfisch? Du würdest mich doch nicht verstehen. Geh erst zu Andrees Pieters; der lehrt dich das Nächste.«

Lorens brannte das Herz, als er sich in dunkler Nacht zu seinem Schiff zurücktastete. Er konnte nicht schlafen, obgleich er unter Deck kroch, und kaum spürte er den ersten Druck der steigenden Flut, so stakte er das Schiff flott und segelte heimwärts. Bei Tagesgrauen war er wieder in Rantum. Da konnte er dem Großvater sein Herz ausschütten. Der sagte nicht viel zu alledem, aber er nickte beistimmend mit dem Kopf, als der Enkel ihm von Andrees Pieters sprach. Doch als Lorens ihm dann das Haus schilderte, die helle Küche und die blanke Stube, in die Matthis ihn geführt hatte, die Stube mit blauweißen Kacheln an den Wänden und mit bunten Tellern und Kopjes im Wandschrank, mit Messinggriffen an den Türen und an dem eisernen Beilegerofen, da seufzte Jens Grethen und sagte leise:

»Greth Skrabbel – Greth Skrabbel – als dein Moodje noch lebte, sah es hier auch anders aus, mein Junge. Denke daran, wenn du dir später eine Frau suchst.«

Das kam dem Jungen nun zu Steuerbord ein und schwamm zu Backbord wieder ab, ohne daß ihm im Augenblick etwas davon haken blieb. Denn wenn er sich auch in Matthis Küche solch Haus und solche Frau darin gewünscht hatte, waren seine Gedanken dabei doch mehr zu seiner Mutter als zu seiner zukünftigen Frau gegangen. –

Anfang April trieb sich Lorens der Hahn in Hamburg herum. Andrees Pieters hatte er bald ausfindig gemacht und rieb sich stundenlang den Rücken an den verräucherten Wänden, denn für Schiffsjungen und ähnliches Jungvolk gab es da keine Sitze. Er hätte schon auf manchem Grönlandfahrer als Junge ankommen können, aber das wollte er nicht; er wollte gleich als Leichtmatrose fahren. Wie? Hatte er nicht seinen Helgoländer Schein in der Tasche? Trotzig schüttelte er den Kopf, wenn ihn Andrees Pieters in die Rippen stieß: er sollte doch zugreifen! Alle andern Sylter hatten nach und nach ihren Platz gefunden; er war der einzige, der noch übrig geblieben war. Da kam an einem Nachmittage der glückliche Matthis selbst in die Schenke.

»Sieh, sieh –« sagte er und spuckte aus; »ja, ja, ich brauche noch einen Kajütswächter.«

»Ich will nur als Matrose fahren,« gab Lorens zurück; »nehmt mich doch, Herr Kommandeur.«

»Brauche ich nicht mehr. Komm als Junge mit. Kann immer sein, daß ein Mann über Bord geht.«

Lorens biß die Zähne zusammen.

»Wofür einer an Bord kommt, dafür muß er auch fahren,« antwortete er eigensinnig. »Bin ich Junge, bleibe ich Junge, und wenn der Kapitän selbst über Bord ginge.«

Matthis nickte beifällig.

»Hast recht, aber brauchen kann ich dich dann nicht.«

Damit ging er an die Toonbank und ließ sich einen Kümmel einschenken. Lorens stiegen die Tränen würgend in die Kehle. Verpaßte er wieder eine Gelegenheit? Aber diesmal hatte Matthis nicht gesagt: bist unklug. Im Gegenteil: hast recht! hatte er gesagt; also –! Im nächsten Augenblick warf er den Kopf hoch. Das Wort Leichtmatrose war an sein Ohr geschlagen.

»Jee – da ist wohl noch einer,« sagte Andrees Pieters in seiner nöhligen Art, und schnell trat Lorens vor. »Kannst nicht warten, bis du gerufen wirst, du Querkopf? Ja, das wäre er, Dom Siewert, erst fünfzehn, aber ein Helgoländer Mann.«

Dom Siewert wandte sich um, und schweigend maßen Steuermann und Junge sich mit den Blicken.

»Name?« fragte der Ältere kurz.

»Lorens Petersen.«

»Mußt dich anders nennen; ich habe schon einen Lorens Petersen an Bord.«

Schon tat der Junge den Mund auf, um seinen Namen in das gewohnte Lorens Jens Grethen zu wandeln, da rief der glückliche Matthis von der Toonbank herüber:

»Schreibt Lorens Petersen der Hahn,« Dom Siewert; so steht es auf seinem Helgoländer Schein. Es ist der, von dem ich Euch gestern sprach.«

Der Steuermann hob die Brauen.

»Gekräht wird bei uns nicht; komm morgen früh sechs Uhr an Bord.«

»Wie heißt das Schiff?«

»De Prediger Salomon.«

Da sah Lorens der Hahn seinen alten Großvater vor sich, wie er mit dem Finger die Zeilen entlang rutschte und mit zittriger Stimme las: »Dies sind die Reden des Predigers, des Sohns Davids, des Königs von Jerusalem …« und er wußte, daß er recht fahren würde auf seiner ersten Grönlandfahrt mit dem »Prediger Salomon«. Dom Siewert aber, der aus Holland gebürtig war, trug den jungen Matrosen als Lorenz Pieterß Haan in seine Schiffsliste ein. –

Am fünfzehnten Tage des Monats April segelten sie von Hamburg auf Helgoland. Stolz stand Lorens an Deck und schaute nach dem kleinen Eiland hinüber, das gerade von einer Hagelbö zugedeckt wurde. So schwand ihm auch die Erinnerung an seine Schiffsjungenzeit im Hagelschlag neuer Erlebnisse. Er stand auf einem guten Schiff und hatte die besten Eichenbohlen unter den Füßen, die er sich nur irgend wünschen konnte. »De Prediger Salomon« war David Worms in Hamburg zu eigen. Als Kommandeur fuhr ihn Hans Christian Jaspers schon zum drittenmal. Dom Siewerts aber, der erste Steuermann, fuhr nun schon im dreiundzwanzigsten Sommer auf Grönland, und von ihm ging die Sage, daß er noch unter einem Kommandeur gefahren wäre, der seinerseits noch von der Smerenburger Fischerei hätte erzählen können – vorausgesetzt, daß er die Zähne überhaupt auseinandergebracht hätte.

Es war ein gutes Schiff, das Lorens der Hahn unter die Füße bekommen hatte. Sechs Schaluppen hatte es und 42 Mann Schiffsvolk noch außer dem Kommandeur und ersten Steuermann. Als Segler war er ein bißchen schwerfällig, der gute »Prediger Salomon«, aber stark gebaut mit eisernem Brustfleck vorn am Steven, verdoppeltem Außenbord und eisernen Nägeln und Klammern, damit er den Eisdruck desto besser überstehen könnte. Eis mitten im Sommer – Lorens spitzte die Ohren, wo er von den älteren Leuten nur irgend ein Wort erhaschen konnte über das, was vor ihm lag. Aber er fragte nicht. Er hatte sich Dom Siewerts Mahnung: »gekräht wird nicht bei uns« dick hinter die Ohren geschrieben. Dom Siewerts, das war ein Mann! So wollte er werden wie der! Er ging Lorens noch über den Kommandeur – wunderlich, daß er selbst nicht als Kommandeur fuhr.

Es war straffe Zucht auf dem »Prediger Salomon«; Lorens spürte es in allen Knochen. Aber es gab gutes Essen – dicke Erbsen an jedem Tag der Woche – und viel Schlaf, mehr als Lorens der Hahn vertragen konnte. Er war wacher als die andern und kroch an Deck, auch wenn er noch Freiwache hatte. Von Helgoland hielten sie zunächst nordwestlich zwischen Hitland und Norwegen durch den Trichter in die spanische See. Da trafen sie die Frostriesen. Die saßen auf Eisbergen, gegen die der höchste Turm von Hamburg klein wurde wie eine Kalkpfeife, die man etwa neben den Turm gehalten hätte. Da fing das Schiffsvolk an zu fressen wie die Bären, wenn sie im Frühjahr aus ihrem Winterschlaf erwachen. Es wurden ganz andere Männer daraus; Knochen bekamen sie wie die Ochsen und eine Speckschicht unter der Haut, die warm hielt wie Grauweb. Freilich hielt der Eigenspeck nur so lange, bis sie an den Fisch kamen und die Arbeit begann; da aber waren sie die Kälte schon gewöhnt.

Auf der Höhe von 60 und einigen Graden begannen die Zurüstungen auf den Fang. Hans Christian Jaspers berief seine Offiziere, Steuerleute und Harpuniers in feine Kajüte. Lorens kuckte durch die Luke hinunter so lange, bis er entdeckt wurde, und eins mit dem Tauende ausgewischt kriegte wie ein Junge; das wurmte ihn mächtig. Aber, Mensch, war das auch fein da unten! An einem langen Tisch saßen sie, über den ein weißes Tuch gebreitet lag. Darauf standen Gläser, wunderliche Dinger, wie Tulpen anzusehen auf hohem Stiel. Pit Kröger, der zwölfjährige Kajütswächter, schenkte den Männern goldgelben Wein ein, so viel jeder nur trinken mochte, und dazu schmökten sie aus des Kommandeurs Tabakskasten, daß die Luft dick wurde. Dom Siewerts hatte die lange Liste vor sich liegen und malte hinter jeden Namen ein Zeichen. Zwei lange Striche sagten: der Mann taugt zum Piekenier; ein langer und ein kurzer: zum Bartenspalter; ein Zickzackblitz bedeutete: Hinterbankschneider; hinter den Namen Lorenz Pieterß Haan aber setzte Dom Siewert noch außerdem ein Kreuz, und das hieß: der Mann kommt zuerst noch mit auf den Fisch. Dabei aber wurde der Hahn erwischt und mußte seine unrechtmäßig erworbenen Kenntnisse mit dem Tauende büßen.

Andern Tages wurde das Los geworfen und die Mannschaft auf die Schaluppen verteilt. Lorens kam in die, der Claas aus Altenesch als Harpunier vorstand. Das freute ihn. Claas war ein stiller, besinnlicher Mann, nur fluchen konnte er ganz abscheulich und tat es auch, wenn Dom Siewert nicht in Hörweite war. Dom Siewert konnte das Fluchen nicht leiden; er zog das Tauende vor, um sich verständlich zu machen. Danach wurden die Gerätschaften ausgegeben, die Harpunen und Leinen, Kappmesser und Bankmesser, Hacken und Beile. Lorens bekam ein langes und scharfes Messer, daran putzte er herum, bis es wie Silber glänzte. Ein Fieber bemächtigte sich allmählich des ganzen Schiffsvolkes. Wer den ersten Fisch sieht, erhält einen Dukaten. Lorens sah sich fast die Augen aus dem Kopf, aber dann war es doch der Kommandeur selbst, der als erster vom Krähennest her den langersehnten Ruf schallen ließ:

»Waal – Waal –!«

Sie kletterten in die Masten und rissen sich fast die Arme aus, um einander die Richtung zu weisen, in der fern, fern an der Kimmung ein feines silbernes Doppelstrählchen aufleuchtete – einen Augenblick nur, dann war es wieder verschwunden, und obgleich sie billig handsamen Wind hatten und den Kurs gleich aufnahmen, konnten sie es doch nicht wieder in Sicht bekommen.

Aber nun war der Bann gebrochen, und da die Sonne nun nicht mehr unter den Horizont ging, sondern zwischen Tag und Nacht kaum mehr ein Unterschied in der Helligkeit zu merken war, hielt das Schiffsvolk doppelt gierig Ausschau. Der Jagdeifer hatte die Männer gepackt. Es war etwas Festliches und Erregendes in dieser fliegenden Fahrt nach Norden zu mit dem schmucken, sauberen Schiff voll blanker Waffen und Geräte. Erst als sie einen Holländer trafen, den »Karsseboom«, der schmierig von Tran mit blutigem Außenbord ihren Kurs kreuzte, kam ihnen ihre« Sauberkeit fast ärmlich vor. Das Jungvolk, das zum erstenmal auf Grönland fuhr, wäre am liebsten dem »Karsseboom« gefolgt. Aber Hans Christian Jaspers war taub für ihr Murren, und mit halben Segeln – denn es war gewaltig dick mit einer starken Schneejagd aus Südwest – lief »de Prediger Salomon« stetig weiter nach Norden.

Endlich – sie hatten schon den 74. Grad erreicht – fand Lorens der Hahn Gelegenheit, den jauchzenden, hallenden Ruf: »Waal – Waal –!« als Erster erschallen zu lassen. Die andern schauten alle gerade voll Neid einem Engländer nach, der ihnen durch Winke zu verstehen gehen wollte, daß er schon drei Fische in seinem Bauch hätte. Lorens stand allein an Steuerbord und spuckte verächtlich aus. Freilich war der Engländer beschmiert und dreckig wie nur einer, aber Lorens glaubte ihm seine drei Fische doch nicht. – nein, er wollte sie ihm nicht glauben! Wie? War Hans Christian Jaspers nicht ein feiner Kerl, einer mit der Nase voraus? Und Dom Siewert, der noch unter dem Kommandeur aus der Zeit der Smerenburger Fischerei gefahren hatte? Da – als seine Gedanken so weit waren – sah Lorens den doppelten Silberstrahl, und nicht einmal in besonders großer Entfernung. Einmal setzte er an und konnte doch keinen Ton aus der Kehle bringen. Dann aber riß sich der Ruf aus seinem Munde frei:

»Waal – Waal! Waal – Waal!«

Mit einem Schlage änderte sich das Bild. Kurze, scharfe Kommandos ertönten, Segel flogen an den Bäumen hoch, und dann ging es mit voller Fahrt ins Eis hinein, denn es ist nicht anders: man muß die Schiffe ins Eis wagen wie ein Glas, das, ob es wohl auf die Erde fällt, doch zuweilen heil bleibt. Lorens sah sich nach dem Engländer um. Auch der hatte ihr Manöver bemerkt und den Fisch nun entdeckt, aber er würde mit dem Wenden viel Zeit verlieren, und inzwischen – spuckte Lorens der Hahn noch einmal aus. Dann griff er zu, wo das Kommando ihn hinschob. Sie hatten vorhin loses Eis um sich gehabt, nun kamen sie in Schotsen und Flarden; dazwischen schwamm noch Packeneis und Eisknollen. Aber nun zeigte »de Prediger Salomon«, was er wert war. Es krachte und splitterte um ihn her, wo er sich mit vollen Segeln den Eingang erzwang, und weithin gerieten die Schotsen in Bewegung. Die älteren Leute tauschten ihre Meinungen aus, ob der Fisch halten würde, bis sie herankämen. Die Ansicht überwog, daß er sich in den Flarden, so nennt man die größten der Schollen, sicher fühlen würde.

»Da taucht er quer weg und niemand kann folgen,« sagte Claas aus Altenesch wütend, aber der Augenblick war zu ernst zum Fluchen. Da waren unter dem Schiffsvolk nicht wenige, die statt dessen zu ihrem Herrgott beteten.

Lorens der Hahn betete nicht und fluchte nicht. Er hing, mit halbem Leib überm Vordersteven, als könnte er dem Schiff noch vorausfliegen, aber er dachte nichts weiter als nur: mein Fisch – mein Fisch! Das ganze Volk war ein Wunsch, ein Wille: dem Fische nach, hinein in den warmen dampfenden Speck! Und als hätte der Wille der Menschen Macht über das Getier, sah Lorens endlich, daß sich der Fisch nicht weiter mehr entfernte, sondern gleichsam unschlüssig einmal so und wieder entgegengesetzt seinen Kurs änderte. Er ist an ein Feld geraten, schloß Lorens; Dom Siewert sagt: wenn der Fisch an ein Feld kommt, das so groß ist, daß man es vom Krähennest aus nicht mehr übersehen kann, dann vermag der Fisch nicht mehr darunter durchzutauchen. Wenn er jetzt nur nicht in die Flarden zurückgeht! Denn nun bemerkte Lorens, daß zwischen dem Eisfelde und den Flarden sich ein breiter Streifen losen Eises befand, das günstigste Jagdgebiet, das Dom Siewert noch kannte. In früheren Jahrzehnten traf man den Fisch in der offenen See, davor gar in den Bayen von Spitzbergen, wo man ihn in Smerenburg und ähnlichen Niederlassungen gleich in den Trankessel stecken konnte. Oha – die Zeiten waren vorüber; jetzt ging kein Fisch mehr ganz aus dem Eise heraus. Soviel hatte Lorens der Hahn auch schon gelernt, ohne beim glücklichen Matthis in die Schule gegangen zu sein.

Atembeklemmende, bange Viertelstunden vergingen. Höher stiegen die silbernen Strahlen gen Himmel, deutlicher zeichnete sich der dunkle Leib des gewaltigen Tieres zwischen den grauweißen losen Eisschollen ab. Im Schauen vergaß Lorens fast sich selbst. Da riß ihn das scharfe Kommando hoch:

»Fall – fall – over all!«

Hei, wie das Schiffsvolk da über Deck rollte! Drei Schaluppen wurden gestrichen. Jeder Mann saß bei seinem Rudernagel und Riemen, ehe er nur wußte, wie er dahin kam. Claas aus Altenesch saß selbst am Ruder und steuerte das Boot durch das lose Eis. Immer wieder scholl sein Ruf:

»Eis backbord – Eis hart steuerbord –« und doch schlug Lorens einmal so hart mit dem Riemen auf einen eben auftauchenden Knollen, daß er von der Bank flog und der Riemen splitterte. Dann gab der Harpunier dem Schiemann das Ruder, sprang über die Bänke nach vorn, prüfte noch einmal Harpune und Leinen – und Lorens, der dicht hinter ihm auf der vordersten Bank saß, konnte der Lust nicht widerstehen und wandte sich um. Freilich erschrak er da! Denn gar zu gewaltig erschien ihm nun in so arger Nähe der mächtige Leib des Fisches und gar zu winzig daneben die eigene Schaluppe und Claas mit seiner Harpune.

Da – ein Ruck, der durch das ganze Boot ging – Claas hatte die Harpune mit solcher Kraft geworfen, daß sein eigener Körper dem Boot einen Stoß gab. Nun lief der Fisch davon und die Schaluppe ihm nach, so hart die Männer nur arbeiten konnten. Er tauchte unter das große Feld – hoho, darunter konnte er nicht atmen. Wäre er in die Flarden gelaufen, wäre das Spiel halb verloren gewesen. Es war wohl noch ein Junger, dem die Erfahrung fehlte. Ein Alter hätte sogleich quer vorm Boot fort durchs lose Eis getaucht, um Zeit zu gewinnen, während das Boot wenden mußte; dann hinein in die Flarden, wo die Männer nicht rudern konnten.

Halloh – die Leine reicht nicht weiter. Die zweite Schaluppe schießt herbei, im Handumdrehn ihre Leine an die des ersten Bootes spließend. Immer am Rande des Eisfeldes geht es entlang – langsam nun – vorsichtig tastend – Gott allein weiß, wo der Fisch wieder vorkommen wird. Da ein Strudel in einiger Entfernung.

»Fisch vorut – Fisch vorut – hohoi –«

Und weiter geht die wilde Jagd. Der Schiemann muß gewaltig aufpassen, daß der schlagende Schwanz des Ungeheuers nicht die Schaluppe trifft, und doch muß er sie nah genug heranbringen, daß der Harpunier dem Fisch mit der Lanze den Todesstoß geben kann. Zwei- – dreimal sticht Claas zu – vergebens! Wieder taucht der Fisch fort. Aber er ist noch unerfahren, und die Harpune sitzt gut; er wird ihnen nicht entgehen. Gemächlich fast läßt Claas sich nieder und klopft mit seinem Hammer die Spitze der Lanze wieder gerade, die sich an einer Walfischrippe gestoßen hat. Dann schärft und feilt er, sorglich, bedachtsam, – Lorens schießt die Ungeduld wie Feuer ins Blut.

Als der Fisch zum zweitenmal auftauchte, glückte es dem Harpunier der dritten Schaluppe, mit seiner Lanze eine Hauptader des Tieres zu treffen. Rötlich färbte sich der Strahl, der aus den Windlöchern stieg, dunkel das Meer ringsum. Noch ein paar gewaltige Schläge tat es – »das sind die Totschläge,« sagte Claas aus Altenesch – dann lag es still. Doch nicht eher ruderten die Schaluppen heran, bis sich der mächtige Tierleib einmal um sich selbst gedreht hatte wie ein Kloß in der Brühe. Dann brach ein Jubelgeschrei los, das die Luft erschütterte.

»Glück dem Kommandeur! Glück zum Fische!« riefen die Männer und schwenkten ihre Mützen zum »Prediger Salomon« hinüber, der langsamer den schnellen Bewegungen der Schaluppen gefolgt war. Und:

»Glück auch euch, so allzumal tapfere Männer!« antwortete Hans Christian Jaspers erfreut. Dann gab er Befehl, daß »de Prediger Salomon« am Rande des Eisfeldes festmachte.

Es wehte ein harter Nordost von Spitzbergen herüber, aber das Feuer der Jagd machte den Männern warm. Mit seinem Bankgenossen zusammen, der gleich ihm ein Sylter war, Gerson Cruppius, der Sohn des Pastors aus Keitum, wurde Lorens der Hahn auf den Fisch beordert, und auch aus den andern Schaluppen kletterten je zwei Mann auf das tote Ungetüm. Die See war hier im treibenden Eis so ruhig, daß sie sicher stehen konnten, ohne von den Wellen von dem glatten Tierleib hinuntergespült zu werden. Sie banden die Flossen rund um den Bauch herum fest, kappten den Schwanz und zogen ein Schlepptau durch den Stumpf. So schleppten sie den Fisch zum »Prediger Salomon« hin, rückwärts, denn da das Maul im Tode offen steht, geht es nicht vorwärts. Beim Schiff angekommen, machten sie ihn an Steuerbord fest.

Als sie an Deck kamen, stand schon Pitt Kröger, der Kajütswächter, neben dem Kommandeur mit einer großen hölzernen Schale voll Branntwein. Dessen Geruch stieg den nassen Männern, denen der harte Nordost um die Ohren pfiff, verlockend in die Nasen. Plötzlich aber entstand ein Geschrei unter denen, die an Bord geblieben waren.

»Gerson Cruppius ist Speckkönig – seht ihn – seht ihn –« und Lorens, der nicht wußte, was das Geschrei bedeuten sollte, sah erstaunt auf den älteren Genossen, der durchaus nicht erfreut über die Ehre zu sein schien. Mit albernem Lachen sah Gerson Cruppius an sich herunter und dann im Kreise umher, aber er fand niemand, der ärger als er selbst von Tran und Blut tropfte. Dom Siewert, der Lorens Verbiestertheit bemerkte, schlug ihm derb auf den Rücken.

»Hättest dich besser einferkeln müssen, du Hahn, dann wärest du Speckkönig geworden. Das ist doch was Feines – hee, ihr Leute?«

Wieder lachte das Schiffsvolk lärmend auf, am meisten die von Sylt stammten, denn Pastor Cruppius in Keitum war also fein säuberlich, daß er dadurch zum Verschwender geworden war und sich recht gegen Gott versündigte, indem er eine Gabel aus Eisen zum Essen nahm statt der fünf Finger, die Gott dem Menschen dafür gegeben hat. Und nun sah der Sohn so aus, daß die Vögel auf ihn stießen. Aber als nun jeder drei große Löffel Branntwein von Pitt Kröger bekam, Mann bei Mann, da erhielt wahrhaftig der Speckkönig die doppelte Ration und überdies noch den Rest aus der Schüssel, den er sich in ein Fläschchen tat und sorgfältig aufbehielt.

Dann ging's ans Flenssen – von Bord wieder in die Schaluppen, aus den Schaluppen auf den Fisch. Lorens war Claas von Altenesch beigeordnet, der mit den andern Harpuniers zusammen die ersten tiefen Schnitte in die dicke Speckschicht des Fisches tat. Lorens aber war mit langem Stock bewaffnet und mußte Claas die Mallemucken vom Leibe halten, feine graue Sturmvögel mit weißer Brust, denen der steife Nordost nicht das geringste anhaben konnte. Seit der Fisch tot war, waren die Schaluppen und nun auch »de Prediger Salomon« eingehüllt in eine Wolke von Mallemucken und Möwen, wie in ein Schneegestöber. Lorens wurde ganz wirbelig zumute bei dem Auf und Ab der Vögel, dem Gegacker und Geflatter und dem Gezappel der Füße, die die Mallemucken bewegten, als liefen sie auf dem Wasser. Er schlug tot, so viele er erreichen konnte, und warf sie in die Schaluppen, wie die andern auch taten, denn die riefen ihm zu, der Koch machte den schönsten Poespas daraus.

Das war ein Lärm, daß kaum einer den andern verstand. Indem die Speckschneider bei der Arbeit waren und der Branntwein und die Lust an der Arbeit sie alle voller Leben machte, riefen sie einander durch das Gegacker der Mallemucken und das Gekreisch der gierigen Möwen hindurch jauchzend zu:

»Hinten dreh um – vorn dreh um! Das vordere Beinlein erst – das Hintere Beinlein danach – vorn dreh um –« dann sprangen sie in die Schaluppen zurück und wieder klang es: »Dreh um – dreh um! Lustig, Leute, es geht auf den Branntewein – dreh um, dreh um!«

Hei, das war ein Leben! Ein Teil der Piekeniers warf die Speckstücke, die die Speckschneider lösten, an Deck. Andere Piekeniers schoben sie durch die Flensluken in den Raum hinunter. Dort unten aber, im dunklen Bauch des Schiffes, abgeschnitten vom Licht und der lebendigen Lust der gemeinsamen Arbeit, wirtschaftete der Speckkönig, um die Stücke zu verstauen. So schnell er auch werkte, schneller noch kam Klumpen auf Klumpen zu ihm heruntergepoltert. Als Gerson Cruppius für diesen Tag mit seiner Arbeit fertig war, meinte Claas aus Altenesch, man sollte ihn zur Heimfahrt an den Großmast hängen wie einen Walfischkinnbacken; wenn sie erst wieder auf der Höhe von Hitland wären, würde er wohl anfangen zu schwitzen, und sie könnten gut noch ein Tönnchen Tran von ihm gewinnen. Es lachte aber niemand mehr über den Schnack, denn der Koch hatte den Poespas fertig, dick mit Reis und allerlei Kräutern gekocht. Die Mallemucken aber waren so fett gewesen, daß der gelbe Rand wohl drei Finger hoch noch über dem Reis stand. Da bekamen die Mäuler Besseres zu tun, als hinter dem Speckkönig her zu grienen.

Es wurde aber so gehalten, daß es auf See bei der Ausreise und wieder bei der Heimreise acht Stunden Nachtdienst gab bei sechzehn Stunden Schlafzeit, während im Eis mit acht zu acht Stunden gerechnet wurde; beim Fischen dann sechzehn Stunden Wachzeit gegen acht Stunden Schlaf, dafür aber drei große Mahlzeiten. Angesehen man in diesen kalten Gegenden den Leib mit einer tüchtigen Essenszeit frisch erhalten muß, so waren die Grönlandfahrer im allgemeinen darin ordentlicher als im Schlafen.

Nachdem die Mannschaft also gespeiset, acht Stunden geschlafen und wieder gespeiset hatte, der Kommandeur auch wie üblich ein Stück aus dem Psalmenbuch gelesen und ein Gebet vor der Arbeit des Tages gesprochen hatte, ließ er abermal von Pitt Kröger die Branntweinschüssel holen. Der stellte sich breitbeinig damit auf und schrie mit Macht:

»Bezaans, schot an – Bezaans, schot an.«

Da kamen sie alle herbei, die vor dem Besansmast ihr Quartier hatten, das ganze Volk, und wieder gab es eine gute Ranzion. Der Kommandeur aber und die Offiziere nahmen unten in der Kajüte jeder ein Schälchen gezuckerten Branntwein als Morgentrank, und danach ging das lustige Treiben vom Tage vorher wieder an. Heute aber gab es wohl die gewohnten Mahlzeiten zur rechten Stunde. – Walfischzunge, dick mit Erbsen eingekocht – aber nicht eher kam die Mannschaft zum Schlafen, als bis der ganze Fisch abgespeckt und der Speck im Raum verstaut war. Zuletzt wurden dem Fisch noch die Barten aus dem Maul gehauen, zu Bünden gespalten und von Fleischresten befreit. Die Flossen aber wurden außenbords am Schiff festgebunden; die schützten es besser vorm Scheuern des Eises als eiserne Klammern und Streichhölzer.

Zweimal wurde die Arbeit unterbrochen durch den Ruf: »Waal – Waal!« und das darauf folgende Kommando: »Fall – fall – over all!« Zweimal fiel daraufhin die Mannschaft in die Schaluppen, doch beide Male hatten sie keinen Erfolg. Der erste Fisch lief zu hart, so daß sie ihm nicht durch das lose Eis folgen konnten und gar nicht zum Wurf kamen. Der zweite aber war am Rande eines dünnen und löcherigen Eisfeldes gesichtet. Sie schossen auch eine Harpune in ihm fest. Doch da er unter dies Feld lief und als ein alter erfahrener Kämpe geschickt die Löcher zum Atemholen zu nutzen verstand, so konnten sie ihn nicht halten, mußten endlich die Leine kappen und die Harpune drangeben. Das war verdrießlich, und die Leute von dem vergeblichen Bemühen und daneben der harten Arbeit des Flenssens so müde geworden, daß nicht wenige von ihnen überm Essen einschliefen. Dom Siewert zuckte die Achseln:

»Sie sind es noch nicht gewöhnt, Kommandeur, gebt ihnen einen Ruhetag«

Hans Christian Jaspers überlegte. Der Steuermann hatte recht. Man kann nicht mehr Fische aus dem Meer ziehen, als drin stecken, und nicht mehr Kraft aus dem Menschen. So ließ er einen Tag vorübergehen, ohne ihn zu nutzen, aber länger durfte das Flenßwerk auch nicht liegen bleiben, sonst würde der Tran, austreten und nutzlos in den Schiffsraum fließen. Alle Geräte wurden an diesem Ruhetage bereitet, alle Leute bekamen noch einmal ihren vollen Schlaf. Dann, am dritten Tage begann das Abmachen.

Frisch und lebendig setzte der Tag an, ein kalter Tag, an dem der Branntwein wie das liebe Leben selbst ins Blut rann. Hans Christian Jasper war lustig wie selten:

»Ihr Männer, rangiert – rangiert – ein jeder auf seinen Posten!« sang er hallend über Deck. »Lustig, Bootsmann, streich ab den Karnaat und setze Speck an!«

Da öffneten die Harpuniere wieder die Flenßluken. Piekeniere sprangen hinunter und reichten mit ihren Pieken die großen Speckklumpen herauf. Von Hand zu Hand gingen die. Jeder tat seine bestimmte Arbeit daran – hackend, schneidend, stampfend. Jeder warf dem nächsten sein abgefertigtes Stück zu, der es weiter bearbeitete, bis endlich wieder die Piekeniere die faulen Reste über Bord schoben, wo sich Möwen und Mallemucken, Rochen und Haie darum balgten. Lorens saß unter den Speckschneidern auf der Hinterbank und schnitt die längeren Stücke in handliche Würfel, die andere Leute unter Dom Siewerts Aufsicht in Fässer füllten und darin feststampften, daß der gelbe Tran schon jetzt oben hinaus quoll. Um die Hinterbank aber sammelten sich die gierigen Möwen in besonders dichtem Schwarm – Speckbrocken, handsam geschnitten, von Schwarten frei, weich und zart – ja, die mochten sie wohl. Mehr als ein Brocken wurde Lorens aus den Fingern gerissen, wenn er auch wütend mit dem Messer nach den kreischenden Vögeln stach. Als er aber einen wirklich erwischte, ihm den Kopf umdrehte und ihn Pitt Kröger zuwarf, da sah der Kommandeur mit scharfem Blick zu ihm hinüber, sang sein:

»Rangiert – rangiert, ihr Männer!« Und im nächsten Augenblick lagen sechs Speckseiten vor Lorens auf der Bank statt der zwei, die ihm zustanden, und er mußte die kleine Versäumnis in dreifacher Arbeit einbringen.

Es war ein tüchtiger Fisch von fünfzig und einigen Quartelen Speck, dabei junger und weicher Speck, der vorzüglich trante. Sie arbeiteten mehr als zwanzig Stunden daran, ehe der letzte Brocken im Faß verschwunden war. Dazwischen bekamen sie freilich ihre Mahlzeiten zu rechter Stunde, fett und reichlich, so viel sie nur schlingen konnten, und der Kommandeur löste den Fisch noch einmal durch eine gute Ranzion Branntwein von den arbeitenden Männern, aber zum Schlafen kamen sie erst nach Beendigung ihrer Arbeit, und andern Tages ging die Reise weiter.

Hans Christian Jaspers beabsichtigte, bis zum 77. Grade hinauf zu gehen, im Notfall noch höher. Zwischen dem 77. und 79. Grade war das beste Jagdgebiet, darin war er sich mit Dom Siewert einig. Es war ein milder Winter gewesen, so lag das Eis nicht breit nach Süden hinunter. Wenn es so liegt, daß zwischen der Bäreninsel und Spitzbergen das Osteis sich mit dem Grönländischen Eis verbunden hat, dann sagt der Fischer: »Das Eis liegt breit, es ist ein Südeisjahr.« Dann kommt der Südeisfisch von Nowaja Semlja herunter, der kürzer, dicker und heller von Farbe ist als der Eiländische Fisch und leichter zu fangen als dieser, denn er ist noch zahmer und harmloser, weniger gejagt und daher weniger mißtrauisch.

So war das aber in diesem Jahr, in dem Lorens der Hahn seine erste Grönlandfahrt tat, keineswegs. Nachdem sie den ersten Fisch binnen hatten, kreuzten sie tagelang gegen einen steifen Nordwest an, ohne auch nur das geringste zu spüren. Sie kamen in dicken Mist, so daß sie kaum eine Schiffslänge voraus sehen konnten, und als endlich der Wind nach Nordost herum ging, so daß der Nebel gefror und als feine Eisnadeln aufs Wasser fiel, bis dieses ganz wie mit einem weißen Fell überzogen war, und danach die Luft wieder aufklarte, sahen sie wohl viele Schiffe, die gleich ihnen lässig in der labbrigen See kreuzten: Holländer, Bremer, Dänen, Engländer und Spanier, aber sie sahen keinen einzigen Fisch. Jedes Schiff preiten sie an, und wenn ihnen der harte Wind das Wort vom Maul riß, dann gaben sie sich gegenseitig durch Schwenken der Mützen zu verstehen, wieviel Fische sie schon binnen hatten. Lorens der Hahn aber machte es wie die Engländer: er wartete ab, bis der andere seine Mütze geschwenkt hatte, und schwenkte die eigene dann immer einmal mehr. Auf die Art brachte es »de Prediger Salomon« bald bis auf elf Fische und hatte doch nur den einen einzigen im Bauch. Sie trafen aber bis zum 79. Grade nicht ein einziges Schiff, das schon volle Fahrt gehabt und mit Flaggen und Wimpeln über die Toppen die Heimreise hätte antreten können.

Sie fanden viel offene See mit Eisbergen, deren einer wie eine Kirche gestaltet war mit hohen Portalen und Pfeilern und das Innere in bläulichem Lichte schimmernd, wenn die Sonne durch das Eis spielte; Lorens hörte das Schiffsvolk sagen, daß sie im vorigen Jahr mehrere Tage an ihm hinterm Winde gelegen hatten. Ein anderer war, den Dom Siewert schon seit fünf Jahren kannte. Der ragte so hoch über den »Prediger Salomon« hinaus, daß Lorens den Kopf in den Nacken legen mußte, um seine Höhe zu messen, als sie hart unter ihm durchhielten; wie tief er aber noch unter Wasser ging, das konnte auch Dom Siewert nicht schätzen. Wo aber das Treibeis anfing, hörten die Eisberge auf.

Dann bekamen sie Spitzbergen in Sicht, wie eine finstere Wolke voll weißer Striche, und hielten darauf zu. Am 15. Julius wurden viele Schiffe im Bärengatt und der Muschelbai vom Eise besetzt. Am 18. des gleichen Monats riemten sie mit einer Schaluppe in den dänischen Hafen, sammelten Kräuter in den Klippen, Moose, Löffelkraut und Sauerampfer. Dom Siewert schoß einen Fuchs, dem der Koch den Balg abzog und ihn drei Nächte frieren und drei Tage schwitzen ließ. Danach gab er in Rosinen abgedämpft einen guten Braten für den Kajütstisch, für das Schiffsvolk aber einen Gesprächsstoff für die ganze Woche. Denn wovon sollte man noch reden? Bei dem einen Fisch würde es wohl sein Bewenden haben.

»Lange Reise gibt knurriges Schiffsvolk,« sagte Hans Christian Jaspers, da hatten sich Hund und Katze verzürnt, Pitt Kröger aber, der Frieden stiften wollte, war zwischen Kai und Bordwand gefallen und ging einen Tag lang mit verbundener Hand und ernstem Gesicht unter den Männern umher, die froh waren, doch wenigstens eine Krabbe gefischt zu haben, über die sie lachen konnten.

So schlichen die Tage vorüber in Warten, Wachen und Ausguckhalten ohne Ziel und Zweck. Dann kamen sie an ein großes Eisfeld, an dem schon mehr Schiffe festgemacht hatten, alle an der Westseite. Rein aus Mißmut legte Hans Christian Jaspers sich an die Ostseite, aber nun ging es wie mit allem im Leben: die Unglücklichen legen gerade wieder an der verkehrten, die Glücklichen an der rechten Seite an. Auf der Westseite ließ sich auch fernerhin kein Fisch blicken. Hans Christian Jaspers aber saß nur drei Tage später strahlenden Angesichtes in seiner Kajüte und trug mit schiefgeneigtem Kopf und der Brille auf der Nase folgendes in sein Schiffsjournal ein:

»Heute als am achtundzwanzigsten Julius hatten wir durch Gottes Gnade endlich wieder eine schöne Verthierung von Walfischen. Des Morgens der Wind von Südwesten, machten los und segelten um ein Pönt hin, wo wir auch gleich ziemlich viel Walfische verspürten, sahen auch gleich ein quettjen Fisch in Ly vor uns, waren so glücklich, daß wir da fest anrakten und ihn auch binnen ein Glas, Gott sei gedanket! tot hatten, machten uns Schiff da ans Feld fest, und als wir an der Arbeit waren, uns Flensgat klar zu machen, schoß uns Schalup wieder fest, welcher Fisch sich aber tot in die erste Harpon lief, mußten ihn also von Grund aufwinden und hatten, Gott sei gedanket! ihn gegen Abend tot auf der Seite; als wir aber damit völlig klar, rakten wieder fest; sobald die Schlupen nur von Bord, schoß noch einer von unfern Harpuniers in einen losen Fisch mehr, welche beide wir auch mit der Geschwindigkeit tot hatten. Gott sei von Herzen gedanket für den reichen Segen, so Er uns heute verliehen, und lasse es uns zu unserm Nutzen anwenden.«

Danach gab es nichts mehr als Flenssen und Abmachen für das Schiffsvolk, tagaus, tagein, bis sie von Tran und Blut troffen, daß man keinen Speckkönig mehr unter ihnen ausmachen konnte. Es fand sich aber immer noch ein Mann, der gegen die doppelte Ranzion Branntwein unten im Raum arbeiten mochte. Nur war es schlimm, daß der lose Fisch, d. h. einer, der schon eine Harpune im Leibe halte, ehe Claas aus Altenesch ihn festschoß, schon lebendig stank, und die Vögel fraßen von seinem lebendigen Leibe. Er blies ganz hohl und war entzündet, und als sie ihn nun tot beim Schiffe hatten, gärte er so stark, daß sich vom Rauch die Augen der Leute entzündeten. Es hätte aber viel Zeit gekostet, den ersten Fisch, den sie vor diesem schon am Schiff befestigt hatten, beiseite zu setzen. Mit aller Schnelligkeit flenßten sie ihn, ehe der Stänker an die Reihe kam. Da war er so aufgeblasen, daß die Leute sich kaum auf ihm halten konnten, und trotz aller Anstrengungen vermochten sie nicht, ihn umzudrehen. Er war unhandlich wie eine riesenhafte Schweinsblase, die mit Luft angefüllt im Wasser kaum zu regieren ist. Wenn sie ihn eben halb umgedreht hatten, kam er plötzlich verkehrt wieder hoch und machte dabei einen Strudel, daß die Schaluppen rund und rund fuhren.

»Das ist wahrhaftig ein Teufelsvieh,« meinte Claas aus Altenesch endlich, und auch die andern Leute wurden bedenklich, ob da nicht etwas Übernatürliches drin steckte.

Nachdem sie sich Stunden und Stunden abgequält hatten, ohne noch überhaupt vom Fleck gekommen zu sein, rief Hans Christian Jaspers von Deck herunter Lorens zu, er sollte dem Fisch ein paar tüchtige Löcher zwischen die Rippen schneiden; Lorens aber verstand ihn nicht.

»Was soll das, Kommandeur? So, daß wir ein Schlepptau durchziehen können? Da kommt man aber auf der andern Seite nicht wieder heraus.«

»Dummkopf! Nur, daß die Hitze ausschlägt, sonst bringt Ihr ihn nie zum Kentern. Versuch's mit der Lanze, sonst mit dem Kappmesser.«

Der ist schon was wunderlich im Kopf geworden von dem Teufelsvieh, dachte Lorens der Hahn, aber an weiteren Widerspruch war nicht zu denken. Er stach mit aller Macht in den Fisch hinein, war auch so glücklich, eine Lücke zwischen zwei Rippen zu treffen, bohrte und riß, und plötzlich kam ein tiefes Sausen durch das Loch, dann ein Knall wie ein Kanonenschlag, der Fisch barst auseinander, und im gleichen Augenblick fühlte sich Lorens von einem warmen Strom überschüttet, so stark, daß er rücklings ins Boot fiel über die Ruderbank fort und die Beine in die Luft streckte. Als er wieder hoch kam, mit Mühe die zähe Feuchtigkeit sich aus den Augen wischend, sah er, daß das ganze Schiffsvolk ringsum sich vor Lachen bog. Sogar Dom Siewert verzog den Mund, und der Kommandeur selbst hielt sich mit beiden Händen an der Reling und schüttelte sich in dem Bestreben, ein unwürdiges Gelächter zu unterdrücken. Pitt Kröger aber sprang wie ein Böckchen an Deck herum und schrie vor Lachen:

»Speckkönig – Speckkönig! Kriech unter Deck, Lorens du Hahn, sonst fressen dich die Möwen und Mallemucken auf!«

Und wahrhaftig, wenn Lorens sich vor den schreienden und flügelschlagenden Vögeln überhaupt bergen wollte, mußte er unter Deck, so sehr war er von Blut und Tran, Fleisch- und Speckfetzen überschüttet. Der Fisch aber war auf die natürliche Weite seines Leibesumfanges bescheidentlich zurückgegangen.

Sie konnten in Eile nur noch mit Flenssen und Abmachen wieder klar kommen, denn als die Sonne erst wieder unter den Horizont ging, wurden die Nächte bitterkalt, und der Kommandeur war sehr in Sorge, daß »de Prediger Salomon« zu guter Letzt noch vom Eise besetzt werden könnte. Mit. genauer Not kamen sie noch davon, und da gegen Ende des Sommers der Fisch viel fetter ist als im Frühjahr, so brachten sie doch mehr Quartelen Speck als manche, die sechs oder sieben Frühjahrsfische im Schiffsraum hatten. Schön war es, so heimzukehren, noch schöner, mit dem blanken Geld im Sack auf Sylt anzukommen. Bis zum Jölfest hin aber tat Lorens kaum etwas anderes als schlafen. Essen brauchte er fast gar nicht, aber wenn er auch nicht im Stroh lag, war er doch nie recht wach. Erst im neuen Jahr wachte er wieder auf, und als ihn der Vater am Petritage fragte, ob er nicht doch lieber wieder mit ihm auf Helgoland fahren wollte, Jan Ölk ließ ihm noch einmal Part bieten, schüttelte Lorens nur stumm den Kopf. Wer erst einen Walfisch gefangen hat, den lockt kein Hering mehr. –

Drei Sommer nacheinander fuhr Lorens, mit dem »Prediger Salomon«. Im zweiten Jahr kam Aaners als Kajütswächter mit, im dritten Manne als Leichtmatrose. Danach packte es auch die andern Rantumer Burschen, daß sie alle auf Grönland fahren wollten. Aber Greth Skrabbels Enkel, die daheim Manne Jens Grethen und Aaners Jens Grethen hießen, wurden in die Schiffslisten als Meinert und Andres Petersen Hahn eingetragen. Auch die jüngeren Brüder, Niggels genannt Cornelis und Jan, nahmen später das Petersen Hahn an, denn Lorens hatte ihnen allen damit einen guten Namen gemacht. –

Es war am Schluß des dritten Sommers, als sie schon auf der Heimreise waren, daß sie bald hinter Helgoland in einen schweren Gewittersturm kamen. Bis dahin hatten sie billig gut Wetter gehabt, so daß Hans Christian Jaspers es nicht für nötig befunden hatte, einen Lotsen von Helgoland einzunehmen. Der Wind scheuerte eben zum Westen, und wenn im Osten auch Donnerköpfe hoch kamen, so meinte Hans Christian Jaspers doch, da wäre keine Gefahr dabei, denn die gleichen Donnerköpfe waren tags zuvor friedlich nach dem Festland wieder abgeschwommen, nachdem sie nur einmal nach See ausgekuckt hatten. Kaum aber hatten sie Helgoland aus Sicht verloren, so krump der Wind ganz nach Nordnordwesten um, und es wurde mistiges, dunkelhaftiges Wetter. Gegen diesen Wind reckten sich die Donnerköpfe beängstigend schnell hoch; da verkroch der sich hinter Helgoland. Als sie aber auf dem »Prediger Salomon« die Segel bargen, so schnell sie nur konnten, heulte es ihnen auch schon durchs Elbloch entgegen, und dann brach aus Südosten der Sturm los, daß sie das Schiff kaum noch unter Sturmsegel halten konnten. Die See ging nicht hoch, aber der Wind schralte, und die plötzliche Dunkelheit und dazwischen die grellen Blitze verbiesterten Dom Siewert so, daß er mit eins nicht mehr wußte, ob er Scharhörn um den Ost oder den West suchen sollte. Sie lagen hart am Winde, und jeder Augenblick vergrößerte die Gefahr. Da griff Hans Christian Jaspers zu einem letzten Mittel.

»Wer weiß, muß sagen!« rief er durch das Heulen des Sturmes hindurch über Deck.

Niemand antwortete. Niemand wagte in diesem Augenblick die Verantwortung zu übernehmen. Da trat Lorens zum Kommandeur.

»Herr, ich sah Wangeroog vorhin.«

»Bist du nicht ein Helgolander Mann?«.

»Wohl, Kommandeur.«

»So hilf, wenn du kannst.«

Mit einem Sprunge war Lorens neben Dom Siewert. Er sprach kein Wort. Er packte nur zu. Er biß sich die Lippen blutig. Wenn er das Schiff nun doch noch auf Strand setzte –! Vergebens strengte er bei jedem Blitz die Augen bis zum Äußersten an, um noch einmal irgend eine Landmarke zu finden. Vergebens – nichts als schwarzfunkelndes Wasser ringsum. Da schrammte steuerbord eine Seetonne dos Schiff entlang. War es die rote vor Trieschen? Dann mußten sie jetzt die Schläge kürzer nehmen.

»Ree!« sagte er halb fragend mit heiserer Stimme.

Dom Siewert nahm den Rat als Befehl und gab ihn weiter. Schweigend gehorchte das Schiffsvolk. Wenn nicht ihr Leben, so doch Schiff und Ladung hingen daran, daß sie glatt durch die Platen kamen. Noch hatten die Sturmsegel nicht wieder Wind gefaßt, da brach ein krachender Donnerschlag die Macht des Gewitters, und ein schwerer Regen rauschte nieder. Gleichzeitig aber glaubte Lorens durch das Ruder in seiner Hand hindurch den Flutstrom zu spüren, der sie die Elbe hinauftragen sollte.

»Herrgott – ein paar Sterne!« Das Gebet brach wie ein Schrei aus der jungen Brust, und gleich darauf rührte Dom Siewert ihn an und deutete hinter ihn. Lorens wandte sich. Wahrhaftig, dort brach der Himmel auseinander, und zwei Sterne blinkten auf wie die guten Augen eines treuen Freundes.

»Der Karlswagen,« flüsterte der alte Mann ehrfürchtig. Lorens schlug das Herz im Halse. Lag der Karlswagen wirklich in dieser Richtung zum Schiff und war das vorhin auch wirklich die rote Tonne von Trieschen gewesen, dann hatte« er den Kurs haargenau gehalten – keinen Strich breit hätte er anders halten dürfen. Das wäre ja ein Gotteswunder – in solcher Nacht – er wagte kaum, daran zu glauben.

»Ich weiß doch nicht,« antwortete er beklemmt; »so wie die Wolken stehen, müßten wir dann auch schon den Nordstern in Sicht haben.«

»Er kommt, er kommt gleich,« gab Dom Siewert zuversichtlich zurück. »Du hast mehr Fisch als Leine, mein Junge, du wirst es bald zum Kommandeur bringen. Siehst du, mir springt der Fisch immer im letzten Augenblick aus dem Garn –«

Er seufzte, hockte nieder und stützte den Kopf zwischen die Fäuste. Schweigend stand Lorens der Hahn an seinem Posten. Nun wußte er, weshalb der Alte seit fast dreißig Jahren als Steuermann fuhr, ohne je ein eigenes Schiff unter die Füße zu bekommen. Es fehlte ihm irgendwie am letzten. Ein Gefühl – halb Mitleid, halb Verachtung – stieg Lorens in die Kehle, daneben aber ein unbändiger Stolz: er selbst, der junge Matrose, hatte geschafft, wo der altbefahrene Steuermann versagte, übrigens behielt Dom Siewert recht: wenige Minuten später leuchtete wirklich der Polarstern auf, und ehe die Flut zum Stehen kam, lagen sie in Sicherheit vor Cuxhaven.

Als »de Prediger Salomon« im Hamburger Hafen für den Winter aufgelegt hatte und das Schiffsvolk schon seinen Kram zusammenpackte, ließ der Kommandeur noch Lorens zu sich in die Kajüte rufen. Er saß da bei einem Glase Wein mit Dom Siewert, Claas aus Altenesch und einem behäbigen älteren Herrn in reicher Kleidung und großmächtiger Perücke.

»Seht, David Worms, dies ist der junge Mensch, der euch mit Gottes Beistand Schiff und Ladung gerettet hat,« sagte Hans Christian Jaspers zu dem Herrn, und Lorens horchte hoch auf, als ihm der Name des Schiffseigners ins Ohr fiel.

»Hm, hm,« machte der Reeder und trank bedachtsam einen Schluck Wein. »Bist wohl ein Helgolander Mann und deshalb oft nach Hamburg zu Markte gekommen?«

»Wohl, Herr, und ich hatte gerade vorher noch Wangeroog gesehen; es war Zufallssache,« antwortete Lorens ehrlich. Dom Siewert tat ihm leid; er saß so benaut in der Ecke.

»Der Junge hat mehr Fisch als Leine; das ist's, Herr,« stimmte Dom Siewert erleichtert zu.

»Mehr Fisch als Leine?« wiederholte der Hamburger Herr und sah fragend zu Hans Christian Jaspers hinüber.

»Mehr Glück als Verstand,« erläuterte der; »wohl, wohl – aber gerade Leute, die Glück haben, die können wir brauchen, David Worms.«

Wieder sah der Reeder zu dem Jüngling hinüber, dem langsam das Blut in das schmale, hagere Gesicht stieg; dann fragte er wohlwollend:

»Nun? Wie denkst du selbst denn über dein Weiterkommen?«

Lorens biß die Zähne zusammen. Wer nicht fährt, wenn Segelwind weht, muß warten, bis Segelwind wiederkommt. So guten Wind wie heute würde er vielleicht im ganzen Leben nicht wieder bekommen; er hatte keine Lust, bis zum Nimmermehrstage zu warten.

»Laßt mich –« bat er mit stockendem Atem; »laßt mich im nächsten Sommer als Harpunier fahren.«

Er wandte sich dabei mehr an Hans Christian Jaspers als an David Worms, denn er wußte, daß der Kommandeur in dieser Frage doch das letzte Wort sprechen mußte. Aber Hans Christian Jaspers schob die Perücke hoch und kratzte sich darunter bedenklich den kahlen Schädel.

»Zu jung – noch nicht durchgeholt, nicht durchgewachsen,« antwortete er dem Blick des Reeders. »Als zweiter Steuermann – ja, das gewöhnt sich von Tag zu Tage. Zäh mag er sein. Aber um die Harpune zu werfen, muß man schon wissen, was man an Kraft hat.« Er überflog die lang aufgeschossene sehnige Gestalt des jungen Menschen noch einmal mit prüfendem Blick. »In zwei Jahren vielleicht – seht, David Worms, der Wurf, der muß sitzen.« Der Reeder nickte.

»Als zweiter Steuermann –« warf er so hin.

Hans Christian Jaspers nahm einen guten Schluck. Dann drehte er das Glas am Stiele um und um. Als er wieder aufsah, war sein Blick hart.

»Nicht, solange Dom Siewert mit mir fährt,« antwortete er mit einer Stimme, der man wohl anhörte, daß die Worte sorgfältig gewogen wurden; »und das soll –« fügte er betont hinzu – »wohl noch manches Jahr so gehen; he, Dom Siewert?«

Der alte Steuermann nickte nur, aber an der Art, wie er sein Glas auf einen Zug leerte und wieder auf den Tisch stieß, fühlte Lorens doch, wie er sich freute. Claas aus Altenesch zuckte die Achseln. Natürlich, das ging nicht, daß Lorens neben Dom Siewert gestellt wurde, dem er schon einmal das Ruder aus der Hand genommen hatte. Das würde das Schiffsvolk nicht vergessen und Dom Siewerts Wort würde nicht mehr gelten. David Worms aber tat, als wäre es nur selbstverständlich, daß Kommandeur und Steuermann zusammenhielten, und als wäre die Angelegenheit damit erledigt.

»Habt Ihr schon meinen neuen Grönlandfahrer gesehen?« fragte er so nebenbei, und Hans Christian Jaspers, der aus der Frage schloß, daß des Reeders Anteilnahme an Lorens schon wieder verflogen wäre, verneinte mürrisch.

»Müßt es Euch ansehen, Kommandeur,« fuhr David Worms aufgeräumt fort. »Eine feine Dirn, sage ich Euch, schmuck vom Topp zum Kiel. Denke, daß sie in nächster Woche vom Stapel laufen soll. Engelbert Jans wird sie bekommen. Er hat den ›Neptunus‹ im Eise verloren – war nur ein Appelkahn – und weshalb soll ein tüchtiger Hamburger auch unter holländischer Flagge fahren?«

»Jee – das sagt Ihr wohl,« gab Hans Christian Jaspers zurück, wider Willen interessiert an dem Schicksal des neuen Grönlandfahrers, der ein Schwesterschiff zum »Prediger Salomon« werden sollte; David Worms hatte ihm schon im Frühjahr davon erzählt.

»Kommt zur Taufe,« schloß der Reeder, indem er sich nun erhob; »Ihr müßt sie sehen, die feine Dirn.« Dann trat er zu Lorens und reichte auch ihm die Hand. »Kommt auch Ihr zur Taufe,« sagte er, scheinbar unabsichtlich die förmlichere Anrede wählend; »Ihr sollt selbst sehen, ob das neue Schiff wohl ebensogut geworden ist, wie »de Prediger Salomon«. –

Acht Tage später lief das neue Schiff vom Stapel und erhielt in der Taufe den Namen »de Koning Salomon«. Es war in allen Ausmaßen dem »Prediger« gleich, aber so neu und schmuck, daß Lorens das Herz im Leibe lachte. Und als Engelbert Jans, der Kommandeur, ihm anbot, ihn als zweiten Steuermann zu nehmen, besann er sich keinen Augenblick, einzuschlagen.

»Da seht Ihr, daß ich Euch nicht vergessen habe,« meinte David Worms lächelnd und schenkte ihm eigenhändig einen silbernen Becher voll Wein. »Trinkt aus, Mann, auf den ›Koning Salomon‹ und den Becher nehmt als Handgeld.«

Als aber Lorens mit dem silbernen Becher nach Sylt kam, war der Großvater inzwischen gestorben, und niemand war da, der sich recht mit ihm freuen konnte.

*


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